28. Juli

Wassertropfen; Alkohol

 

Seit Grape gestern gekommen war, hatte sich einiges verändert. Bis spät in die Nacht hatten sie an dem Gerät herum geschraubt. Ohne Erfolg. Heute Morgen erwachte ich alleine. Während ich mir die Zähne mit ein wenig Mineralwasser und dem letzten Rest Zahnpasta putzte, trottete ich in die Küche. Ein Blick aus dem Fenster ließ mich verdutzt innehalten. Mit der Zahnbürste im Mund konnte ich aufgespannte Planen, die über alle drei Parzellen im Garten reichten, ausmachen. Drei mit Klebeband zusammengefügte Plastikflächen spannten sich dort über das Gras und hingen in der Mitte jeweils ein wenig durch. Ein frischer Wind ließ sie unter den bleiernen Wolken des Vormittags auf und ab wölben. Tommy oder Grape waren nirgendwo zu sehen. Bald ging ich mit Müdigkeit in den Knochen und Trägheit in meinen Bewegungen hinunter um – wie besprochen - die Gartentoilette aufzusuchen. Im Stiegenhaus kam mir mein Mann entgegen und drückte mir ohne Worte, zum ersten Mal seit Tagen, einen richtigen Kuss auf den Mund.

„Was sollen die ganzen Plastikdinger im Garten?“

Er küsste mich noch einmal und grinste. Und es tat gut. Es tat meiner Seele so unbeschreiblich gut, dass ich für einen Herzschlag, eine Sekunde, einen winzigen Moment, alles um mich herum beinahe vergessen konnte. Er wusste es wahrscheinlich nicht, aber mit diesem Kuss und mit diesem Grinsen rettete er mich.

 

„Wirst schon sehen“, sagte er, streifte mir durchs Haar und ging in die Wohnung hinauf. Verblüfft stieg ich weiter hinunter. Die Türe der Hopes stand offen. Ich ärgerte mich selbst darüber, auch nur eine Sekunde die Welt außerhalb unserer vier Wände vergessen zu haben. Ich musste an den kleinen Mark denken. Dann: Geräusche aus dem Inneren. Grape musste drin sein. Als ich ein wenig hinein lugte, stand er still vor einem Bild des kleinen Jungen. Starrte es nur an. Er wirkte weit weg, wie abwesend. Ein bizarrer Anblick, meinen Nachbarn so zu sehen. Ich konnte sein Verhalten nicht deuten.

Nachdem ich zurückgekehrt war, lehnten die zwei Männer am Balkon. Ich trat in dem Moment hinaus, als es am Himmel krachte. Die dunklen Wolken wallten sich dort oben gegeneinander. Ich zuckte zusammen.

Gleich darauf begann es zu nieseln. Grape und Tommy standen unbewegt da. Was zum Teufel ging vor? Der Regen nahm zu. Ich wollte das Schweigen endlich brechen, da jauchzte Tommy auf und Grape zeigte den Anflug eines grimmigen Grinsens. Sie klatschten ein, wie zwei Jungen nach einem Fußballspiel. Männer werden nie erwachsen. Erst jetzt erkannte ich den Grund für die kurzzeitige Euphorie der Zwei. Die anwachsenden Tropfen trafen auf die Planen, beschwerten sie, sammelten sich in der Mitte und flossen durch ein kleines Loch in einen Kübel darunter. „Wasser! Das ist Wasser!“, verkündete Tom begeistert.

Wasser, welches aufgrund des zunehmenden Windes wieder im Erdboden versickerte, nachdem die Kübel umgekippt waren. Aber auch das bekamen die Beiden später hin. Am Nachmittag, während draußen das Wetter scheinbar darauf aus war, alles nieder zu reißen, was nicht niet- und nagelfest war, saßen wir in der Küche bei einem Glas Wein. Zwei Kerzen erhellten den Raum. Grape streichelte seine Katze. Ja, die hatte er heute Morgen herunter geholt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich überhaupt nicht gewusst, dass sie existierte. „Den Wein habe ich aus Australien mitgenommen“, sagte Grape. Seine grau melierten Augenbrauen wirkten buschiger als sonst, als er das Etikett zum dritten oder vierten Mal durchlas und sich selbst bestätigend zunickte.

„Ein herrlicher Jahrgang. Und köstlich im Abgang noch dazu. Ich mag die kirschige Note. Wissen Sie, gute australische Weine sind selten. Aber der hier, der ist gut. Ich hab mir 2014 fünf Flaschen mitgenommen… Die kalkhaltige Rebfläche verleiht ihm wirklich eine Menge Potenzial. Und der hier, der wird noch nach der Saignée-Methode verarbeitet.“ Beide heuchelten wir aus Höflichkeit Interesse und Wissen. Aber in Wirklichkeit verstanden wir nicht viel davon. Ich musste daran denken, als wir mit Anna und Greg im Frühling ausgegangen waren. Tommy hatte dem Kellner gesagt, ihm sei egal ob der Wein rot, weiß oder buntgestreift sei, Hauptsache er mache ihn betrunken.

Während Grape seiner Leidenschaft nachging, musste ich an die eingelegten Pfirsiche meiner Kindheit denken. Wann immer ich mir eine Schramme zugezogen hatte, traurig war oder Trübsal geblasen hatte, hatte mir meine Mutter eine Schale eingelegter Pfirsiche mit Puderzucker hingestellt, und die Welt war wieder in Ordnung gewesen. Was hätte ich jetzt dafür geben. Nur ein paar einfache, schmatzige, feuchte eingelegte Pfirsiche, von meiner Mutter serviert…

Mutter... Wo sie jetzt bloß war. Ob sie es raus geschafft hatte, aus Neu-Delhi... Sie war fort. Sie war ebenso fort, wie Dad. Beide verschwunden. Getilgt von der Erde. Ohne Vorwarnung, einfach so, mit einem Schnippen waren sie von einem Moment auf den anderen aus meinem Leben gefegt. Es gab nicht die geringste Möglichkeit herauszufinden was mit ihnen geschehen sein mochte. Es war die Hölle, jetzt nicht in ein leises Schluchzen auszubrechen. Ich suchte mich abzulenken, suchte Zerstreuung zu finden, aber es mochte nicht gelingen...

 

Mit der Zeit wechselte das Gesprächsthema und sie erzählten mir, dass sie unten bei George den offen hinterlassenen Waffenschrank gefunden und dass sie eine Menge Batterien, Kerzen und anderes nützliches Zeug entdeckt hatten. Daraufhin holte Tommy eine Pistole aus dem Vorzimmer, wo sie die Vorräte aufgestapelt hatten und begann sich damit zu beschäftigen. Er gab irgendwelchen altklugen Kauderwelsch von sich. Sprach von Gasdruckladern und Projektilgrößen, von Schlagbolzen und Patronen. Ich traute meinen Sinnen nicht. Mein künstlerischer Schriftsteller-Mann wirkte wie ein Waffennarr, mit dem Unterschied, dass er bloß glaubte, sich mit der Materie auszukennen. Er meinte, er könne sich an seine Heereszeit erinnern. Als ich ihn darauf hinwies, dass er in der Zeit Kanzleischreiber-Gehilfe gewesen war, antwortete er nicht, sondern vertiefte sich in die Tätigkeit, diese schreckliche Waffe auseinander- und wieder zusammenzubauen. Das Thema führte schließlich zu einem bedrückten Schweigen. Alle drei waren wir irgendwie mit den Gedanken bei der aus dem Leben gerissenen Familie Hope angelangt. Ich, die ich mir eine halbe Flasche weißen Rum aus dem Kasten geholt hatte und in den Rachen schüttete, Grape, der gedankenverloren an die Wand starrte und abwesend an seinem Glas nippte und schließlich mein Ehemann der wie besessen diese Waffe studierte. Keiner von uns konnte sich jedoch genügend ablenken, so sehr es uns auch danach verlangte. Und je mehr ich es erzwingen wollte, desto schlimmer wurden die Gedanken. Ständig gingen mir und wohl auch den anderen, die Bilder dieser herzlichen Familie durch den Kopf, wie sie gestorben und wie es dazu gekommen sein musste. Bei George, seiner Frau und dem kleinen, blonden Mark. Darum waren Wein und Rum schnell leer und Tom hatte ein Flasche irischen Whiskeys aus der Speisekammer geholt. Normalerweise hasste ich Whiskey, doch heute war er mir willkommen. Ich betrank mich bis zur Besinnungslosigkeit. Den Männern erging es ähnlich.

 

Als ich am nächsten Tag erwachte, lag ich in Unterwäsche und mit einem einzelnen Strumpf bekleidet auf ihm. Die Kopfschmerzen waren gewaltig, aber bei weitem nicht das Schlimmste. Denn als ich aufschaute, packte mich ein schrecklicher Schwindel. Ich setzte mich gerade und musste erst einige Sekunden blind verharren ehe ich mich weiter bewegen konnte. Wir waren im Vorzimmer, am Teppich. Meine Hand fühlte eine feuchte Stelle. Es stank bestialisch, die Katze musste irgendwo hingemacht haben. Mein Bademantel bedeckte Tommy, also stand ich auf und nahm den Stoff an mich. Doch darunter lag nicht mein Mann, sondern Grapes bauchlastiger Körper in offenem Hemd und Unterhose. Tommy lehnte halb sitzend, halb liegend an der Garderobe daneben und schnarchte leicht. Er hatte ein Unterhemd und seine aufgeknöpfte Jeans an. Was war gestern passiert? Erledigt schlurfte ich in die mit Gläsern, zerknüllten Gewändern und Zwiebockkrumen verwüstete Küche, trank Wasser und schob mich ins Bett. Die zwei Männer ließ ich liegen. Ich war mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, sofern ich überhaupt welche fassen konnte. Ich schien noch betrunken zu sein, schlief allerdings mit dem schalen Geschmack roten Weines im Mund bald ein.