15. August - Gegenwart
4:51; Fremde
„Grape, wachen Sie auf. Aufwachen! Michael, verdammt!“, höre ich gedämpft und ohne Stimme durch die Türe. Es klopft energisch. Ächzend stehe ich auf und trete versehentlich meinem Kater gegen die Seite, sodass er erschrocken aufjault. Fluchend setze ich meinen Weg fort, ich sehe mattes Licht unter dem Türspalt hereindringen. Mein Schädel schmerzt, und ich schmecke immer noch den bitteren Geschmack des Alkohols. Es ist, als hätte ich in der bisherigen Nacht viele der vergangenen Tage, seit ich Thomas Havener im Stiegenhaus vorm Ersticken gerettet hatte, aufgearbeitet. Auch die Träume. Noch bevor ich die Türe erreiche, schaffe ich es, mich an das heutige Datum zu erinnern und die erlebten Dinge, von welchen ich so intensiv geträumt habe, als bereits geschehen abzutun. Ich schließe auf. Vor mir steht Vicktoria in einem erregend schönen Nachthemd im Schein einer einzelnen Kerze. „Schnell, da draußen ist etwas“, bevor sie weiterreden und ich verstehen kann, kommt Thomas um die Ecke. Scheinbar aus dem Treppenhaus. „Mach das Licht aus. Schnell“, meint er eilig mit unterdrückter Stimme. Seine Frau dreht sich hastig um und drückt die im Luftzug flackernde Kerze auf dem Garderobentisch mit Zeigefinger und Daumen aus. Meine Uhr zeigt 4:51. Jetzt erst erkenne ich, dass Tom Waffen dabei hat. Es sind jene von George Hope. Er gibt mir eine Pistole. In Wirklichkeit habe ich vernichtend wenig, oder besser: keine Ahnung davon und sollte keine Waffe tragen dürfen. „Achtung, sie ist geladen“, sagt er und geht nach hinten, in den Abstellraum. Vicktoria ist derweil im Schlafzimmer verschwunden und ich frage mich immer noch, was geschehen sein mag. Ich ziehe mich hastig an. Hose und T-Shirt müssen reichen. Streife mir die Handschuhe, die ich vor Tagen in dem Kasten verstaut hatte über und nehme die Mundmaske heraus. Dann suche ich Tom. Er begegnet mir im Vorzimmer. Trägt das mattschwarze Gewehr bei sich. Er sagt Selbstlader dazu.
„Havener! Was zum Teufel ist hier los?“, ich halte ihn fest. Er hat plötzlich Knie-, Ellbogen- sowie Unterarmschoner vom Rollschuhfahren übergestreift. In der Rechten baumelt seine Gasmaske, jene die ich für ihn desinfiziert hatte. Ich spüre vor Überraschung meine Augenbrauen hochwandern. Er sieht seltsam aus. Fast irrwitzig. Obgleich der scheinbar ernsten Situation muss ich ob seiner bizarr-belustigenden Bemühungen in mich hinein grinsen.
„Ich zeigs Ihnen!“, antwortet er, löst meinen Griff und drückt sich an mir vorbei. Hinter ihm folgt Vicktoria, ihre sandfarbenen Haare hat sie zu einem Zopf zusammengebunden, sie trägt Jeans und einen engen Kapuzenpullover. Ich eile ihnen hinterher. Dabei stoße ich mir zweimal den kleinen Zehen und einmal das Schienbein in der Dunkelheit. Im Stiegenhaus ist es etwas heller, ein wenig Mondlicht scheint matt durch die großen Fenster. Das Ehepaar steht im Halbstock - zwischen Erdgeschoss und erstem Stock – und starrt hinaus. Ich versuche, es ihnen gleich zu machen, kann jedoch nichts erkennen dort draußen. Da, das quadratische, hellblaue Haus. Der Nachbar ist die meiste Zeit kaum zuhause, außerdem habe ich ihn seit Monaten nicht mehr gesehen. Ich weiß, dass es sich bei dem Haus um seinen geerbten Zweitwohnsitz handelt. Ich kenne auch seinen Namen und weiß, dass es sich bei dem Objekt um ein recht wertvolles handelt. Immerhin wollte ich das Ding vor ein paar Jahren kaufen. Hinter den dünnen Gardinen mache ich plötzlich grelle Lichtkegel aus. Sie kehren wieder. Und wieder. Sie müssen zu Taschenlampen gehören. Noch während ich versuche, Herr meiner Gedanken zu werden, reißt mich Havener nach hinten. „Los, wir gehen runter!“, sagt er heiser und zerrt mich und Vicktoria ins Erdgeschoss. Der Schlüssel an der metallverstärkten Haustüre steckt im Schloss. Während der Mann leise aufsperrt will ihn Vicktoria davon abhalten. Er weist sie grob in die Schranken und brabbelt etwas wie „George hatte recht“, mehr zu sich selbst als zu uns. Aufgrund seiner inzwischen übergezogenen Gasmaske verstehe ich ohnehin kaum eines seiner Worte. Seit Wochen dreht Thomas am Rad. Die Ungewissheit und das Nichtstun haben an ihm genagt und gezerrt. Seine Nerven scheinen blank zu liegen. Sein ganzes Gehabe, seine Stimme, seine Bewegungen schreien: ENDLICH! Endlich geschieht etwas. Unten öffnet er langsam und leise die Türe. Direkt vor uns: die fast brusthohe Mauer des Nachbargartens. Rechts davon geht es entweder zu unseren Gärten oder in die andere Richtung links hinauf zum blauen Haus und zur Straße. Tom drückt kurz seinen Zeigefinger auf das Mundstück und schleicht sich dann vorwärts. Ich weiß nicht, ob ich ihm folgen soll. Seine Frau hinter mir zischt etwas davon, er sei ein stupider Narr und setzt sich auf die Stiegen. Sie wimmert. Mit mir selbst hadernd folge ich Tom, nur, um ihn zurückzuholen, wie ich mir einrede. Er hockt an der Mauer und blickt hinüber, quer über den Weg zur Straße, hinauf zum blauen Haus. Noch immer dringt von Zeit zu Zeit kaltes, hektisches Licht durch die Scheiben. Er legt sein Gewehr auf die Kante und zielt hinauf. Ich weiß nicht genau wohin. Also hocke ich mich neben ihn und äuge ebenfalls in die Richtung. Ewige Minuten lang geschieht nichts. Es ist, als würden wir einem stummen Lichterspiel folgen. Wir harren aus. Nichts. Kein Ton, die pure Stille. Nicht einmal ein Windchen, welches diese gnadenlose Stille durchbrechen könnte. Die Spannung ist unerträglich, ich spüre mein Herz bis zum Hals hinauf schlagen. Ich meine das Rauschen meines Blutes, das mit Hochdruck durch meine Venen schießt, in den Ohren zu hören. Und doch ist es so grässlich leise. Als hätte die Nacht allen Klang verschluckt.
Dann gibt es ein lautes Klirren und verstärkt durch die vorhergehende Geräuschlosigkeit glaube ich meine Ohren verbrennen zu spüren. Es folgt ein nervenzerreißender, schmerzträchtiger Knall. Ich werfe mich auf den Boden, meine Pistole schlittert davon. Sie ist mir egal, wo auch immer sie jetzt sein mag. Ein Brennen breitet sich in meinem Hals aus. Noch einmal knallt es und noch einmal. Ich presse die Handflächen auf die Ohren. Innerhalb einer Sekunde war es geschehen. Jetzt fummle ich an meinem Kragen herum und klaube ein Metallstück heraus, welches in den Fingern brennt vor Hitze. Benommen und nur schleichend mein Gehör zurückgewinnend schaue ich auf. Thomas ist weg. Am Boden liegen drei Hülsen. Eine davon muss mir in den Kragen gefallen sein. Ich habe mich verbrannt. Es kann nicht so schlimm sein. Der Schock sitzt mir trotzdem in den Knochen, während ich einen Geruch wahrnehme, der mich an explodierte Böller und Neujahrskracher erinnert. Nur schärfer.
Unsicher und zittrig stehe ich auf, Vicktoria hockt in der Türe und sieht besorgt zu mir herüber. War ich bewusstlos gewesen? Ich winke ab, es gehe mir gut. Ihr Blick schwenkt rauf, in Richtung des Nachbarhauses.
„Seht euch das an!“, höre ich Toms gedämpfte Stimme. Vickie versichert sich noch einmal ob meiner Gesundheit und läuft dann den Weg zum Nachbarhaus hinauf. Ich höre die Kiesel unter ihren schnellen Schritten knirschen. Nachdem ich einige Sekunden brauche, um die in meinen Händen eigentlich nutzlose Pistole wiederzufinden, gehe ich den beiden hinterher. Was ist da los? Was war geschehen? Wo sind die Plünderer? Ich umklammere meine Waffe und passiere die Ecke. Vicktoria steht da und hält sich beide Hände vor den Mund, sie droht einzuknicken. Ich schaue weiter und erkenne Thomas, wie er vor einer Gestalt steht. Die Person liegt am steilen Boden und gräbt die Fersen in den harten Kies. Das Fenster im ersten Stock ist zerstört. Der Fremde ist umgeben von einem rötlichen Scherbenmeer. Eine dunkle Stoffmaske ist von seinem Gesicht gerutscht. Darunter hat sich ein bleiches, bartloses und verschwitztes Gesicht eines jugendlichen Mannes verborgen. Seine Mundwinkel sind verzerrt, und er murmelt irgendetwas, hält sich dabei den Bauch. Zwischen seinen blassen Fingern quillt Blut hervor. „Kommt nicht näher! Er könnte krank sein!“, höre ich Toms Stimme und ich bin erschrocken im ersten Moment nicht das selbe gedacht zu haben. Vicktoria will hingehen, doch ich kann sie festhalten. Sie windet sich heftig in meinen Armen, aber ich setze sie in den schmalen Grasstreifen neben dem Weg. Sie protestiert und will aufstehen. Doch Thomas schreit, er brüllt förmlich: „Bleib wo du bist, Frau!“
Ich meine das Entsetzen und die Überraschung in ihrem Gesicht zu spüren, ohne hinsehen zu müssen. Kraftlos sinkt sie zurück und lehnt sich an die Mauer.
„Wir können ihn nicht so liegen lassen“, sagt sie mit zittriger Stimme, ihr Unterkiefer bebt. Doch ihr Mann scheint sie nicht wahr zu nehmen. Er schaut nur auf den Jungen hinunter der gequält aufstöhnt. Dann spricht er doch: „Wir können ihn aber auch nicht mit hinauf nehmen. Er ist wahrscheinlich krank!“
Ich stimme ihm zu. Der junge Mann hat feste Jeans an und trägt einen dicken Pullover. Und das bei der Hitze. Doch eigentlich hat er ganz andere Probleme. Sekunden vergehen. Keiner unter uns bewegt sich. Wir sind erwachsene Menschen, doch niemand weiß, was er tun soll. Aus Versehen löse ich das Magazin meiner Pistole. Es fällt klappernd auf den harten Boden. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass ich mit dieser Waffe wirklich nicht angebracht hantieren kann. Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter während ich es aufhebe, und mir wird erst jetzt bewusst, was ich in Händen halte. Es ist als würde ich eine glühende Kohle in der Faust haben. Ich höre meine eigene Stimme, ich schreie: „Das ist kein verfluchtes Spiel verdammt! Kein verdammtes Spiel. Das ist Mord! Herr Gott was passiert mit uns?“
Ich drehe mich um und schließe die Augen. Derweil rafft sich Vicktoria auf. Sie stürmt an mir vorbei und schlägt mit der flachen Hand auf ihren Mann ein. Sie tritt nach ihm und schreit und kreischt. Sie ist außer sich, reißt ihn an den Haaren und will ihm das Gewehr entringen. „Hör auf Tom! Thomas hör auf, ich bitte dich hör auf. Ich kann dich n i e m e h r ansehen wenn du das tust! Lass es, hör auf hör auf h ö r a u f !“, sie ergreift den Lauf. Tom entzieht sich ihr und stößt sie unsanft mit der Schulter zu Boden. Sein Gesicht ist hinter der Maske versteckt. Seine Hände umfassen wild entschlossen dieses Tötungswerkzeug. „Mörder. Alle beide seid ihr vermaledeite Mörder!“, sie sitzt am Boden, ihr Kinn bebt, ihre Wangen sind tränenüberströmt und ihre Stimme ist gebrochen. Sie muss ständig schlucken. Stumm steht sie auf, dreht sich um und rennt zurück ins Haus. Jetzt sind nur noch Tom und ich hier draußen. Wir blicken beide zu dem jungen Mann hinunter. „Er könnte mein Sohn sein“, sage ich. „Verdammt Thomas, er könnte sogar fast Ihr Kind sein!“
Seine verkrampften Hände pressen sich weiter auf den Bauch. Seine Augen sind hässlich verdreht und die schweißgetränkten Haare kleben auf seiner Stirn. Aus seiner Nase dringt jetzt dunkles Blut. Havener flucht und legt seine Waffe an. Ich stehe neben ihm und will ihn aufhalten. Will ihn gleichzeitig nicht aufhalten. Will, dass er aufhört. Ein Teil von mir will jedoch, dass er abdrückt. Er klemmt den Kolben des Gewehres in die Schulter. Ich möchte ihm die Waffe aus den Händen reißen. Ich schreie ihn an. "Havener hören sie auf. Es ist falsch. Aufhören!", er reagiert nicht darauf. Als würde er meine Worte nicht hören.
Seine Maske schlägt innen an, er hat sie wohl nicht richtig aufgesetzt. Ich drehe mich weg. Ich schließe die Augen. Ich möchte, dass er den Jungen möglichst schnell von seinem Leid erlöst und will es doch nicht. Er lässt seinen Blick durch das Visier auf die Brust des Burschen fahren. Ich brülle ihn an, so laut, dass meine Kehle Feuer fängt. Er atmet ein letztes Mal durch. Der Verletzte keucht. Der Schweiß rinnt mir in Bächen die nackten Unterarme entlang. "Ich warne Sie, Havener", keine Reaktion. Er darf ihn nicht umbringen. Nein, dies Recht hat er nicht. Er darf es nicht tun. Ich hebe die Pistole in meiner Linken. Langsam wandert die Kimme über seine Hüften, das Rückgrat, zwischen den Schulterblättern zum Hals. Ich richte die Waffe auf Toms Hinterkopf, wo die Riemen der Maske das Haar einschneiden. Ich schlucke. Halb wende ich mich ab, strecke mich weg, ziele aber immer noch auf ihn. Meine Finger sind nass, meine Stirn brennt. Tom bewegt sich nicht. Jeden Moment wird er den Abzug drücken. Er darf ihn nicht drücken. Ich muss ihn aufhalten. Ich kann es nicht. Ich muss. Meine Finger verkrampfen sich. Ich sehe hin, nur mit einem Auge. Ich schließe das andere, um auch zu treffen. Er muss gestoppt werden. Jetzt.
Die Hände des Verwundeten lassen locker und sein Kopf sackt zur Seite. Er liegt leblos da. Und Tom steht noch immer vor ihm und hat nicht abgedrückt. Die Brust des Jungen hebt sich nicht mehr, senkt sich nicht mehr. Ein toter Mensch liegt vor uns. Tom legt das Gewehr nieder und nimmt mit seinen behandschuhten Händen ein Buch auf, welches aus der Weste des Leichnams ragt. Er blättert darin, noch immer ziele ich auf seinen Hinterkopf. Noch immer hat er keinen Schimmer davon. Meine Verstand kollabiert. Resigniert. Gibt auf. Ich zittere. Der Mond grinst hämisch in seiner Sichelform vom Firmament, während erstes, graues Tageslicht ein paar wenige Vögel erweckt und die Straßen flutet. Ein dunkles Grau umgibt uns.