9. Juli

Joe sorgt vor; Vickies Dad

 

Heute war ich wieder zum Supermarkt gefahren. Ich musste drei Filialen abklappern, ehe ich eine fand, die noch nicht zur Gänze ausgeräumt worden war. Von Bediensteten fehlte jede Spur. Die Türen und Auslagen waren eingeschlagen worden. Polizei suchte man vergeblich. Ebenso wie Nahrungsmittel. Die Ereignisse schienen sich jetzt zu überschlagen. Angst und Panik hatten um sich gegriffen und die Innenstädte der Welt bluten lassen. Zum Schluss hielt ich an einer Tankstelle. Ebenfalls leer, mit intaktem Rollgitter versperrt zwar, aber eben außer Betrieb. Leider funktioniert das mit dem Ansaugen von Benzin nicht so wie in den Filmen. Ich verließ die Tankstelle mit einem starken Brennen auf Zunge und Gaumen. Und der Tank war immer noch halb leer.

 

Als ich nach Hause kam, arbeitete George Hope gerade an der Haustüre. Er verstärkte sie mit Metallstreben und bohrte Löcher hinein, um feste Gitter anzubringen.

„Wie geht’s George?“

Er nahm seine Schutzbrille ab und stand auf. Die Bohrmaschine in der einen Hand, wischte er sich mit der sorgsamen behandschuhten anderen über die schweißnasse Stirn. Er antwortete heißer: „Mein Gott, Junge was is‘n das für ‘ne beschissene Frage?“

Ich liebte ihn für seine raue und doch irgendwie herzliche Art. Dann hustete er, wie man es von Kettenrauchern kennt. Das war ich von ihm nicht gewohnt, er rauchte zwar manchmal Pfeife, aber mit Zigaretten hatte er vor über zwanzig Jahren aufgehört. Ich war froh, meine Atemmaske immer noch übergezogen zu haben. Wenngleich ich unter dem Ding schwitzte wie ein Schwein. Ich hatte es Vickie versprechen müssen. Der Hustenanfall schien gar nicht aufhören zu wollen. Als ich an ihm vorbei ins Stiegenhaus trat, tönte es aufgeregt aus ihrer Wohnung: "Er ist nicht krank, nur erkältet!"

Ihren eigenen Worten nachfolgend, kam jetzt seine Frau heraus und streifte sich dabei den Mundschutz, den man mittlerweile wie selbstverständlich trug, über.

„Komm jetzt endlich rein Joe!“, schimpfte sie und lehnte sich dabei an der Wand an. Ich musste mich einmal mehr fragen, wieso sie ihn Joe nannte. Vielleicht weil sie vor Jahrzehnten aus Westminster hierher gezogen war und sie ihn bei dem Namen nannte, unter dem sie ihn kennen gelernt hatten. „Es dämmert schon! Jetzt komm rein“, setzte sie fort und begrüßte mich nebenbei, schien sich aber unauffällig möglichst weit weg von mir an die Wand zu drücken. Bloß keinen Kontakt mit anderen, hieß es in den Medien. „Er ist nicht krank, nur ein bisschen erkältet!“, versicherte sie mir erneut. Diesmal mit einem zögerlichen Nicken, mit welchem sie Bestätigung bei mir zu suchen schien.

 

Tatsächlich dämmerte es bereits. Auf der kurzen Heimfahrt hatte die schwüle Abendsonne die vereinzelten Wolken am Himmel in ein sommerliches Rotorange getaucht. George war Polizist gewesen und seit sieben Jahren im verfrühten Ruhestand. Wenn der sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde er nicht locker lassen bis es beendet wäre, da konnte seine Frau Zetern soviel sie wollte. Ebenso wie vor zwei Jahren, als er für eine seiner geliebten Waffenmessen, George war "Sammler und Hobbyschütze", wie er es bei jeder Gelegenheit betonte, nach Südafrika geflogen war, obwohl er erst drei Wochen zuvor eine Lungenentzündung durchgestanden hatte. Ich wollte schon hinauf, kam jedoch nicht umhin zu fragen: „Sag mal, George, warum verbarrikadierst du die Tür? Reicht absperren nicht?“

„Mann, schon mal was von Plünderern gehört Junge? Das Haus von den Özmirs zwei Straßen weiter haben sie schon ausgeräumt. Aber wir nicht! Da müssen den Schweinen schon Haare in der Hose wachsen bevor die hier rein kommen. Nicht mit mir, nein. Mit mir nicht!“, ich zuckte mit der Schulter und stieg hinauf. Hinter mir hörte ich noch seine Frau: „Hier runter kommt ohnehin niemand du, du, du alter Trottel du. Jetzt mach, dass du rein kommst!“

Tatsächlich war es unwahrscheinlich, dass uns hier jemand finden würde. Wir wohnten in einem dreistöckigen Hinterhaus welches nicht direkt an eine Straße angrenzte. Stattdessen war es vor zig Jahren in eine Senke gebaut worden. Das soll früher, vor dem zweiten Weltkrieg einmal eine Schottergrube gewesen sein, zumindest hatte das George bei einem Glas Wein vor einigen Jahren erzählt. Irgendwann hatte man das damals noch ländliche Gebiet oberflächlich zugeschüttet und Schrebergärten für die Städter aufgezogen. Im dritten oder vierten Kriegsjahr, als schon längst über den Reichsempfänger Anleitungen gesendet wurden, wie man aus Apfelkernen und Kartoffelschalen Suppe kochen könne; als die Bewohner der zerbombten Wohnsiedlungen rund um den Bahnhof nackt und ohne Habe auf den Straßen standen, hatte man die Gartenlauben zu Behelfsheimen ausgebaut. In der Zeit danach waren die meisten zurück in die Stadt gezogen. Eine Familie mit drei Kindern aber war geblieben, und hatte neben ihrer Arbeit innerhalb von sieben Jahren mit der Hilfe eines befreundeten Maurerlehrlings diesen wuchtigen, dreistöckigen Klotz aus dem Boden gestampft.

 

Die Türe abgesperrt und die Einkäufe im Flur niederlegend, beschloss ich, den Rest der Sachen, die ich mühsam in das Auto gestopft hatte, etwas später zu holen. Erst musste ich endlich dies verdammte Maskending von meinem Gesicht nehmen. Der Schweiß fiel schwer auf den dicken, roten Teppich. „SCHATZ! BIN DA!“, dröhnte meine Stimme den Flur hinunter. Keine Antwort. Ich hatte vergessen, dass ich ohne Maske wieder in normaler Lautstärke sprechen konnte, um verstanden zu werden. Man hörte Joes Bohrer bis hier rauf, ich musste schmunzeln als ich aus dem Bad trat, nachdem ich mich gewaschen hatte. Ich erkannte Vickie durchs Küchenfenster am Balkon. Sie schaute gebannt zum Abendhimmel hinauf. „Als würden Engel gegen die Dämonen der Hölle geschlachtet haben und als vergieße sich nun ihr heiliges Blut auf die Wolken unter ihren Schwingen“, sagte sie wie abwesend, als ich zu ihr trat.

„Das ist uralt!“, sagte ich grinsend.

„Ich weiß. Ich hab heute Vormittag eines deiner alten Skripten gelesen. Gefällt mir. Es steckt viel Wahrheit drin."

Ihr sagte alles was ich schrieb zu. Ich glaube, ihr gefiel alles, weil sie mich liebte und niemanden kritisieren konnte, der einen Platz in ihrem Herzen hatte. Denn eigentlich las sie in der Regel anspruchsvollere Literatur, als es die meine war. Freilich, es gesellte sich ab und an schon mal eine Liebeschnulze hinzu, oder ein Groschenroman im Urlaub. Aber in Wirklichkeit waren es die großen, lange toten und zugleich unsterblichen Autoren und ihre schwere, alte Sprache, die sie begeisterte. Da konnten meine Geschichten nicht mithalten. Normalerweise wollte ich nicht, dass sie meine Sachen vor der Fertigstellung las, allerdings brauchte sie dringend etwas zur Ablenkung. Und nachdem ich sie, mangels neuer Literatur, beim Studieren der Waschmaschinengebrauchsanweisung beobachtet hatte, schlug ich mein Manuskript vor. Sie hatte offensichtlich irgend ein uraltes Ding aus einem der Papierstapel auf und unter und neben meinem Schreibtisch gezerrt, aber auf jeden Fall nicht das aktuelle.

„Sie haben in den Nachrichten davon gesprochen, dass der Neuraminidase-Hemmer, den sie entwickeln, doch kaum anschlägt. Bei Unzähligen hat sich die Krankheit sogar noch verschlimmert oder sie sind sofort gestorben.“

Ihre Stimme klang seltsam. Nicht zitternd, einfach seltsam. Irgendwie unvertraut, ungewohnt, nahezu unbehaglich. Ich drehte sie zu mir und drückte ihr den Zeigefinger auf den Mund.

„Psst Schatz. Lass das Problem der Wissenschaftler sein. Wir bleiben solange hier, bis es vorbei ist“, ich sah die Tränen in ihren grün-blauen Augen und wusste im selben Moment, dass da noch mehr sein musste. „Dad ist krank. Mum hat mich vorhin angerufen. Sie kommen auch nicht weg aus Neu-Delhi. Dabei wollten sie nur Urlaub zum 40sten machen…“, ein Schluchzen, und sie drückte ihr Gesicht an meine Brust.

„Und... und Greg ist... tot. Anna hat sich vorher gemeldet…“, antwortete ich und drückte sie an mich. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Ich wagte es auch nicht, ihr zu gestehen, dass Annas Meldung aus einer Abschiedsmail bestand, die ich schon heute früh gelesen hatte. Max hatte mir ihren Selbstmord bestätigt, nachdem ich ihn angerufen hatte. Ich sah Anna vor mir, wie sie ihre schwarzen, wilden Haare zusammenband und sich mit leerem Blick aufknüpfte oder erschöpft aus dem Fenster warf. Es war so unecht. Als ich die Mail gelesen hatte, war es mir zumute, als säße ich in einem Traum fest. Erst jetzt wurde mir bewusst, was dies Wort bedeutete. Tot. Abschied. Greg war gestorben. Anna hatte sich selbst umgebracht. Es war so fremd, so falsch. So künstlich. Es fühlte sich an, wie Plastik in meinem Hirn. Die Welt zerbrach um uns herum in Milliarden Scherben und fiel klirrend und krachend in einen tiefen schwarzen Schlund. Und ich war so hilflos. Doch wollte ich es nicht vor meiner Frau eingestehen, sie brauchte jetzt eine Stütze, dachte ich, als wir am Balkon standen, dem fast schon zynischen Abendrot der Dämmerung ausgesetzt. "Bevor sie auflegen musste, hat Mum gesagt... sie hat gesagt, wir sollen uns in Acht nehmen. Dad habe gesagt... Sie sagte er habe gesagt, dass... Unser schlimmster Feind wird nicht die Krankheit sein... Was bedeutet das. Tom, was passiert hier nur. Wie konnte das alles bloß passieren auf einmal. Was passiert hier? Das ist nicht echt."

Sie brach in ein Schluchzen ab, das so überwältigend, so gewaltig war, dass es sie schüttelte. Ihre Knie knickten ein, ich musste sie fest umklammern, um nicht zu fallen.

Ein warmer Föhn umgab uns. Trotzdem spürte ich die Haare in meinem Nacken aufragen.