2. August

Single Malt; Gespräch

 

Das Ehepaar wollte unbedingt mehr über das Virus erfahren, sie ahnten, dass ich mehr darüber wusste als Ottonormalverbraucher. Also saßen wir einmal mehr zusammen in der Küche. Es fiel mir schwer, Thomas in die Augen zu sehen. Noch schlimmer war es bei Vickie. Ich konnte sie nicht einmal flüchtig mustern, wenn sie mich ansah. Also begann ich schnell zu sprechen und trank dazu ein, zwei Gläser Single Malt, während Tom sich mit einem Gewehr und einer Pistole von George Hope beschäftigte. Er nahm es auseinander, polierte Einzelteile, baute sie wieder zusammen. Das tat er in letzter Zeit unglaublich oft und fast genau so oft hatte er dafür böse Blicke von Vicktoria kassiert.

 

„Influenza hat eine sehr kurze Inkubationszeit. Bevor man merkt, dass man krank ist, gibt man das Virus bereits weiter. Infizierte sterben meist dadurch, dass sie ertrinken und zwar an dem Blut und der Flüssigkeit, die sich in der Lunge sammeln“, begann ich, nahm noch einen kräftigen Schluck und bemerkte die zwei aufmerksamen Blicke. Frodo sprang derweil mit weichen Pfoten auf die Arbeitsfläche vorm Küchenfenster. Ich schenkte mir nach. Diesmal doppelt so viel. Die zwei Tischkerzen waren zur Hälfte abgebrannt, das rote, beziehungsweise weiße Wachs tropfte melancholisch auf die Messingteller.

 

„Das Problem bei dieser neuen – nun, nennen wir es Grippe – ist, dass scheinbar kaum jemand dagegen immun ist, im Gegensatz zur herkömmlichen Influenza. Jedes Jahr sterben zigtausend Menschen, meist alte oder schwache Leute an den Folgen der Erkrankung, das ist bekannt. Sprich Lungenentzündung und so weiter. Außerdem ist ein Bestandteil gänzlich grippeuntypisch und somit ist es keine wirkliche Grippe mehr. Ich will nicht zu weit ausschweifen, das eigentliche Problem ist also, dass man unmöglich einen Impfstoff in so kurzer Zeit entwickeln kann, wie es in den Medien verbreitet wurde. Außerdem, wenn es richtig ist, was ich in der Zeitung damals gelesen habe, so birgt die Impfung ein hohes Risiko in sich. Abgesehen von der Adrenalin-Produktion, die enorm angeregt wird, kann es unter Umständen auch zu Ausfällen in bestimmten Gehirnregionen führen. Unter anderem sind der Amygdala, die Mandelkerne, der Hypothalamus und so weiter betroffen. Desweiteren kann es meiner Meinung nach zu einer Überreizung des Zwischenhirns kommen. Kurz gesagt, es führt zu einer unvorstellbaren Aggressionssteigerung bzw. in den meisten Fällen zum Tod des Patienten. Schon mal von der Kannibalendroge gehört? So in etwas wirkt das Zeug in manchen Fällen. Zumindest wenn ich in meiner Annahme richtig liege. Durch Medikamente, die die Ausfälle blocken sollen, ist auch das Kleinhirn befallen und die Menschen sterben dann meist an Atemstillstand…“

Die Kerzen warfen flackernde Schatten auf Kühlschrank, Schränke und Wände. Ich sah auf, kurz blickte ich Vicktoria mit ihren natürlich über die Schultern fallenden Haaren an und flüchtete mich wieder in mein Whiskey-Glas.

 

„Na, wie dem auch sei. Es wurde ja vermutet, dass der Virenstamm sich in China entwickelt habe, durch die Verschmelzung von tierischen und menschlichen Influenzaviren. Das ist aber nicht wirklich erklärbar, da, wie gesagt, Teile in dem Code des Virus total fremd sind. Praktisch nicht vergleichbar mit allem was wir kennen. Auch die enorm schnelle Verbreitungsrate ist äußerst ungewöhnlich. Selbst mit den Möglichkeiten der modernen Welt. Die Wissenschaft steht vor einem Rätsel. Oder… stand vor einem Rätsel. Ich persönlich glaube an mehr als einen Ursprungsort des Virus. Erklären kann ich das allerdings bei bestem Willen nicht“, der Duft des Wachses und das volle Aroma des irischen Whiskeys ließ mich blinzeln. Gleichzeitig spürte ich, wie mir selbiger langsam in den Kopf stieg. Mir wurde heiß und meine Augenlider gewannen an Gewicht, während ich ein weiteres Mal die Luft aus meinem Glas ließ.

„Was genau haben Sie eigentlich studiert, Michael?“, fragte Tom schließlich und goss sich noch ein Glas Weißwein ein. Wir tranken fast jeden Abend.

„Ich habe einen Doktor in Biochemie. Internistische Medizin begann ich ebenfalls zu studieren, habe es aber nie zu einem Abschluss gebracht, da ich gleich nach meinem Doktor in der Biochemie eine gute Anstellung gefunden habe.“

 

„Und warum arbeitet ein studierter Biochemiker dann als Lehrer, und endet in einer Armbanduhrenfirma?“, fragte Vicktoria und nippte an ihrem Tee. Seit vorgestern verweigerte sie jedwede Aufnahme von alkoholischen Getränken. Die Frage war mir unangenehm. Mein Schweigen wurde als solches akzeptiert und Tom wechselte schroff zu einem offensichtlich vollkommen anderen Thema um die Situation zu entspannen, als er bemerkte, wie ich am Lederband meiner Uhr herumfummelte.

 

„Wir sollten bald zusehen, dass wir aus der Stadt heraus kommen. Unsere Vorräte gehen allmählich zu Ende, außerdem werden wir hier nicht ewig versteckt bleiben. Wenngleich es schon eine gute Lage ist. Aber trotzdem sind wir in der Stadt und die Plünderungen im Zentrum waren schon vor Wochen unbeschreiblich“, in seiner Stimme schwang etwas Verschwörerisches mit. Wenngleich er recht hatte, schaffte er es trotzdem immer wieder einfache Sätze unnötig zu dramatisieren. Vickie schüttelte den Kopf: "Ich verstehe nicht, wieso eine zivilisierte Gesellschaft, aufgeklärte Menschen so... so brutal, so tierisch werden können..."

 

„Ich glaube... solche Krisen machen Menschen zu Gewalttätern, zu kurzsichtigen Bestien... für die vor allem der pure…“, das Wort wollte mir nicht einfallen, „Egoismus, genau, im Vordergrund steht und sonst nichts… Egal wie ´zivilisiert´ sich eine Gesellschaft eben mag. Wenn es ums Überleben geht, bleibt der Mensch ein Vieh“, antwortete ich und nahm noch einen Schluck Single Malt. Meine Mundwinkel wurden langsam taub. Endlich.

 

Frodo sprang jetzt herauf und setzte sich auf meinen Schoß. Ich kraulte ihn müde hinter seinem Ohr und versuchte, meine Gedanken zusammen zu halten.

„Ich hoffe, ihr Haus dort draußen ist abgeschieden gelegen. Es kann gut sein, dass wir sehr lange keinen Kontakt mit anderen Menschen haben werden, sollten wir dort erst einmal angelangen. Vielleicht werden wir nie mehr jemand Neues zu Gesicht bekommen.“

„Das ist doch wohl nicht Ihr ernst?“, sagte Vicktoria entsetzt.

„Sie haben recht.", entgegnete ich: "Eher wird uns vorher eine Atombombe aus der Welt fegen!“

Ich konnte Vicktorias zunehmendes Entsetzen wie einen Luftzug spüren.

„Es reicht Grape“, schritt Havener schließlich ein und verschränkte die Arme.

„Stimmt. Es ist unwahrscheinlich… Vergessen Sie d… Ich bin betrunken… Es tut leid, mir. Ich werde schlafen gehen und morgen sprechen wir dann konkret über die Sache. Ich denke, es wird wirklich das Beste sein, zu versuchen, aus dieser verfluchten Stadt hinauszukommen. Verdammt!“, ich war tatsächlich besoffen. Jedoch änderte dies nichts an der Tatsache, dass unsere Welt in Scherben lag. Und es machte mich rasend, wenn Vicktoria in ihrer Naivität das nicht begreifen mochten.

 

Als ich mich erhob, nahm ich mein leeres Mobiltelefon in die rechte Hand, betrachtete es kurz und schmetterte es wutentbrannt gegen die Wand. Verfluchtes Teil. Mein Kater sprang mir von der Linken und rannte erschrocken davon. Ich registrierte das Ehepaar gar nicht mehr, als ich mich umdrehte und unsicher ins Badezimmer wankte. Mein Rücken schmerzte wieder, wie er es seit Jahren von Zeit zu Zeit tat. Langsam ging ich ins Gästezimmer und schluckte zwei Schmerzmittel mit einem Schuss Scotch. Nur Babys schlafen so gut wie ich es in jener Nacht tat. Es ist allerdings reines Glück, dass ich überhaupt wieder aufwachen sollte.