Prolog

 

 

Atmen war ihr kein Begriff gewesen. Nein, nein. Atmen, das war nicht drin. Sekundenlang.

Angst und Panik hatten ihre Klauen tief in ihren Verstand gerammt und ließen nicht mehr los.

Vicktoria klatschte sich das trübe Wasser ins Gesicht, sie betrachtete ihr verschwommenes, aschfahles Spiegelbild im Nass des uralten Waschbecken, dessen Grund längst in rostigem Braun abgeblättert war. Ausdruckslos starrte sie sich an, starrte sie dieses, ihr eigenes Gesicht an, das so fremd geworden war. Trübe, fahrige Augen blickten unter müden Lidern und Krähenfüßen die nicht ihrem Alter entsprachen hervor. Sie war grau und blass. Ihre Lippen spröde, ihre Haut ausgetrocknet. Ausgezehrt. Die Teelichter, welche sie auf der Ablage über dem Becken angezündet hatte, ließen die Schatten des engen Raumes bedrohlich nahe rücken. Die jüngste Erinnerung fraß sich garstig in ihren Schädel. Dieser Lärm. Diese hektischen Rufe. Ein kehliger, halb erstickter Schrei aus dem Dunkel. Ein schnatterndes Quieken, wie sie es nie zuvor gehört hatte. Ein geiferndes Kreischen unter dem Brüllen des Opfers. Unter seinem Brüllen. Noch immer hallte seine schmerzverzerrte Stimme durch ihren Kopf, obwohl er längst verstummt, längst fort war. Das Quietschen der Reifen. Ihre Flucht. Ihr Verrat.

Die Gedanken an die jüngsten Ereignisse ließen Schock und Übelkeit in ihr hochsteigen. Sie musste Galle und Schleim erbrechen. Röchelte. Rang nach Atem. Danach drückte sie zwei Tabletten aus einer abgegriffenen Packung und trank einen Schluck ihres Spiegelbildes. Es half nicht.