19. Juni

Aufstehen; Frühstück

 

Wie gewohnt erwachte ich mit trockenem Hals. Es kratzte unerträglich bis ich ein paar Schluck Wasser getrunken und einen Bissen gegessen hatte. Während sich meine Frau tiefer in die Kissen vergrub, schälte ich mich aus der Decke. Ich hatte geschwitzt, das weite Shirt klebte an meinem Körper. Das Licht war grau und dumpf, meine Augen dankten es ihm, als ich zwischen den dicken Vorhängen in den Garten hinunter blickte. Steif und mit Nackenschmerzen schlurfte ich aus dem Schlafzimmer den dunklen Flur entlang. Ich spürte den alten Parkett und die harten Teppiche abwechseln ehe ich das Bad erreichte. Schwüle Morgenluft schlug mir entgegen, als ich die Tür hinter mir schloss. Ich hatte in der Nacht vergessen die zwei kleinen Fenster, eines über der Toilette, eines über der Wanne, zu schließen. Draußen war es eigenartig still, ein lauer Föhn ließ die Blätter der Nachbarbäume ein wenig rascheln. Ansonsten hörte ich nichts. Ich schloss die Tür auf. Dort wo die Zeitung sein sollte, fand sich bloß unsere zerdrückte Tretmatte. Go away, I´m reading, steht darauf. Ein Relikt aus Studentenzeiten. Über die Stiege hinunter ging es ins Erdgeschoss; an der Türe der Hopes vorbei zur Haustüre. Der Name Hope gefiel mir schon immer. Sie waren ein altes Ehepaar, ihr Enkel wohnte jetzt mit ihnen weil bei der bis dahin alleinerziehenden Tochter vor einigen Monaten Brustkrebs diagnostiziert worden war. Markus, oder wie meine Frau ihn nannte: Marky war für seine sechs Jahre unheimlich clever. Er liebte es, Vickie und mir Streiche zu spielen. So vermutete ich auch ihn als Zeitungsdieb. Ich mochte den Kleinen, aber das ging zu weit. Und nur seinetwegen würde ich sicher nicht dazu übergehen, die grässlichen E-papers zu kaufen. Da gings ums Prinzip. Ich würde am Nachmittag wohl ein ernstes Wort mit den Großeltern reden müssen. Auch in der Rolle unter dem Postkasten wurde ich nicht fündig. Mich ärgernd keinen Postschlüssel mitgenommen zu haben, stieg ich wieder die grauen Stiegen hinauf. Da kam mir Michael Grape entgegen. Meine Bekanntmachung mit ihm schlug sich mir bei jeder Begegnung erneut in den Geist. Wir hatten Vicktorias Tante besucht, von der wir später diese, unsere Wohnung erben sollten. Humboldstraße 46, erster Stock. Ich trug ellenlanges Haar zu einem Zopf, hatte einen absichtlich ungepflegten Vollbart, der zwecks Haarmangels keiner war, und war vom Vorabend noch leicht benebelt. Im Stiegenhaus, ebenso wie jetzt, war er uns entgegengekommen seinen Namen hatte ich an der Glocke unten gelesen. Übermütig bemüht alles korrekt zu halten, stellte ich mich vor ehe Vickie etwas sagen konnte. "... sie müssen Herr Grape sein." Unwirsch entgegnete er mir: "Grape, mein Name ist Grape. Man spricht ihn wie die Frucht, nur ohne fruit hinten dran. Merken sie sich das.", das war meine erste Begegnung mit dem Mann, der seit damals nicht wirklich älter geworden zu sein schien... auch nicht freundlicher. Damals hatte er Anzug und Krawatte getragen, war als Lehrer für Chemie und Englisch tätig gewesen. Heute war es sein weiter dunkelroter Morgenmantel, der den grobschlächtigen, aber nicht fetten Körper bedeckte. Um den Hals spannte sich eine Atemmaske, die er vor den Mund zog, als er mich sah. Er schnippte mit seinen von Einweghandschuhen überspannten Fingern und begrüßte mich mit einem wortlosen Nicken. Er musste - wie ich - auch eben erst aufgestanden und - wie ich - auf der Suche nach seiner Zeitung sein. Allein ob der Tatsache, dass er - wie ich - sich weigerte seine Zeitung digital zu lesen, machte ihn mir, wenngleich wir kaum einmal ein Wort wechselten, sympathisch. Ich grüßte zurück, verkniff mir bei dem Anblick ein Schmunzeln und verschloss unsere gläserne Wohnungstüre hinter mir. Heute flößte er mir keine Furcht mehr ein, wie damals, vor zehn, zwölf Jahren. Respekt war wohl eher der richtige Begriff.

 

Ich steuerte durch das Vorzimmer in die Küche. Zu meiner Rechten, am Ende des Flurs und somit im Schlafzimmer, hörte ich meine Frau die dabei sein musste, aufzustehen. Nachdem ich den Herd angemacht und die fertige Espressokanne darauf platziert hatte, trat ich durch das Bücherzimmer auf den Balkon. Meine Zigaretten fand ich wie gewohnt unter der alten Sitzbank vor. Durch das große Küchenfenster hinter mir sah ich Vickies Silhouette durch den Flur ins Bad tapsen. Ich hatte sie wohl aufgeweckt. Beim Rauchen bemerkte ich, dass das Auto des Nachbarn gegenüber - mir wollte sein Name nicht einfallen - schräg in der Auffahrt stand. Audi A5, hatte mir George Hope mal erklärt. Es interessierte mich nicht. Hingegen die Hopes wussten über die Nachbarschaft bescheid, seit sie im Ruhestand waren. Vor allem Sie. Zumindest wenn sie nicht im Garten damit beschäftigt war die Rosen zu schneiden, oder Salat zu pflanzen, oder weiß Gott Tomaten zu ernten; ja diese Tomaten hegte und pflegte sie wie Kinder. Einmal hatten wir sie dabei beobachtet, als George in den Bergen war, und Marky noch nicht bei ihnen wohnte, wie sie mit den noch halb grünen, unreifen Tomatenpflanzen plauderte, und jede einzelne mit einem feuchten Tuch abftupfte nur um sie danach trocken zu polieren.

Wir hingegen, nutzten unsere Parzelle, die mittlere von dreien, kaum. Links, Hope-Grund, war schön gepflegt mit Gemüsegarten und einer kleinen Gartenhütte für den Sommer. Rechts, Grape-Besitz, akkurat gemähter Rasen auf fast symmetrisch gerader Fläche und im Westen von einer stolzen Weintraubenhecke begrenzt. Ordentlich durch den saftigen, englischen Rasen und zugleich anmutend durch den kleinen marmornen Vogelspringbrunnen in der Mitte. Und zwischen den zweien, ein dreißig, vierzig Zentimeter hohes braungelbes Unkrauteldorado für Insekten. „Wenn das die Marie sehen würd!“, sah ich im Geiste die alte Hope mit dem Zeigefinger drohend vor mir. Wie sie sich aufbrachte und zornig prophezeite, dass sich Vickie‘s tote Tante Marie im Grabe umdrehen würde. Zum Glück hatte meine Frau einen guten Draht zu dem alten Ehepaar, sie waren seit über zwanzig Jahren bekannt, eben seit ihre Tante und Firmpatin hier eingezogen war und die Wohnung gekauft hatte. Nachdem die Wohnung vor einigen Jahren an uns gegangen war, traf man sich gelegentlich zum Plausch auf der Terrasse der Rentner, um Wein zu trinken und sich zu unterhalten. Besser gesagt, um sich gemeinsam mit George Hope zu besaufen, während Vickie sich den Tratsch der Alten über sämtliche Nachbarn anhören musste. "Der Anstand" forderte das. Von der großen Tischlerei im Westen - gleich hinter den Weintrauben Grapes versperrte sie den Blick auf alles Dahinterliegende - drang auch heute, Dienstag, kein Knattern und Kreischen der großen Sägen. Niemand war zur Arbeit gekommen. Das bedeutete segenreiche Lärmlosigkeit. Ich grinste. Als ich in die Küche zurückkehrte, duftete es nicht herrlich nach dem Muntermacher, aus der Kanne dampfte es nicht als würde ich zum Herunternehmen aufgefordert werden. Nein. Der Herd war kalt. Noch während ich grübelte und andere Platten aktivieren wollte, kam Vickie herein. Ihr türkisfarbener Pyjama machte sie bald um zehn Jahre jünger. Ich sah sie vor mir, als wir uns, fast noch Kinder, kennen gelernt hatten. Es war nicht viele Jahre her, und trotzdem meinte ich vom ersten Moment an, sie schon ewig gekannt zu haben. Und dann, dann gab es immer noch diese Momente, wie gerade eben, diese Alltagssekunden, wenn ich unwillkürlich wie aus einem Traum erwachend dastand und mir selber sagen musste: Ja, doch ihr seid zusammen. Die meisten unserer Freunde lebten eher in Zweckgemeinschaften, denn in wahren Beziehungen. "Lebensabschnittspartner" nannte man das pragmatisch und zu unserem Erstaunen oft auch ganz offen. Eigentlich konnte man Niemandem unser Glück mitteilen und wenn doch, so wurde man nicht verstanden. So wurde zwar zugestimmt, aber in Wirklichkeit wusste ich dann, dass das Gegenüber vielleicht sogar glaubte, zu verstehen, wovon ich sprach, aber tatsächlich keine Ahnung von wahrer Liebe hatte.

 

„Das Wasser ist eiskalt. Überhaupt kein warmes Wasser, weder in der Dusche noch in der Wanne“. Mir war das nicht aufgefallen, ich benutzte zum Zähneputzen nur kaltes Wasser. „Wirklich?“, ich schob mich an ihr vorbei und vergewisserte mich selbst. Als ich zurückkam, stand sie vor dem Herd und besah mich mit halb verzweifelter Miene. Daher beugte ich mich über den Esstisch, wollte das Radio im Regal darüber einschalten. Nichts!

 

„Das ist komisch“

„Komisch ist gut… Das is scheiße!“, erwiderte Vickie und setzte sich mit hängenden Schultern auf die Bank hinter dem Esstisch. Im Vorzimmer nahm ich die Garderobewand von den Halterungen. Im Sicherungskasten dahinter waren alle Schalter im grünen Bereich. „Hm.“ Also ließ ich den Sicherheitsknopf nach unten klicken und schob ihn dann wieder hinauf. Vickie versuchte den Lichtschalter neben dem Badezimmer zu betätigen. Nichts. Der Flur blieb finster, das Bad ebenso. Ich versuchte es noch einmal. Das Ergebnis überraschte mich nicht.

„Was sollen wir jetzt machen?“

„Nur die Ruhe Schatz“, suchte ich sie zu besänftigen, obwohl ich selber nicht so recht um eine Antwort wusste.

„Ich werd nachher bei den Werken anrufen und nachfragen. Jetzt ist’s noch zu früh. Die Notfallnummer hab ich nicht aufgeschrieben“

„Ich denke, die wird im Telefonbuch stehen“, der Tonfall erinnerte mich daran, dass Vickie eine junge Grundschullehrerin war. Sie war manchmal versucht, mich mit ihren Kindern zu verwechseln.

„…Dann bitte, such sie. Ich wusst nicht mal, dass wir noch ein Telefonbuch haben. Mit dem Laptop wirst du aber schneller sein... Aber erst, mein Schatz“, sagte ich, zugegeben ein wenig provokant: „lass uns frühstücken.“

 

„Frühstücken ohne Radio und ohne Zeitung is... naja...“, meinte sie, nachdem sie ihr Marmeladebrot gegessen und die Milch ausgetrunken hatte. Sie wollte, wie ich selbst, das Neuste darüber hören, warum sie nicht zur Arbeit musste und warum der Nachbar von Oben bereits seit Tagen mit Schutzmaske und Arzthandschuhen herumrannte. Während des Essens hatte sie an ihrem Smartphone herum gewischt, aber damit erstens bloß den Bildschirm mit ihren Marmeladefingern völlig verschmiert, und zweitens keine Internetverbindung herstellen können. Ich wusste, dass nicht das Ausbleiben von Zeitung und Strom Unruhe in ihr erzeugte, sondern vielmehr, dass die Internetverbindung streikte. Vor allem in den letzten Wochen war Vickie, auch aufgrund von Langeweile, so etwas wie ein Facebookjunkie geworden. Sie lechzte nach Informationen. Ich musste herzlich grinsen. Für ihre Direktheit liebte ich sie. Ihre sandfarbenen Haare standen zerzaust in alle Richtungen und die wenigen Sommersprossen die sie hatte, wirkten wie kleine verlorene Pünktchen in dem kalten, grauen Licht, das durch die breite Fensterfront der Küche fiel. Mit Bedauern musste ich feststellen, dass mit Vickies Milch die letzte Packung Frischmilch aufgebraucht war. Von jetzt an hieß es vorerst mit Kondens- und Haltbarkeitsmilch Vorlieb nehmen und die schmeckte grausam. Notfalls hatten wir noch Soja und Mandelmilch zu Hause. Wofür fünf Sorten Milch vorrätig sein mussten, war mir immer ein Rätsel gewesen. Das hatte auch regelmäßig zu kleineren Streitereien geführt, jetzt allerdings war ich froh mich nicht durchgesetzt zu haben. Das allerdings, konnte ich ihr wiederum nicht zugeben.

Mittlerweile blätterte ich die Zeitung von vor ein paar Tagen durch, in der Hoffnung, bei den ersten drei Mal irgendetwas überlesen zu haben. Auf der dritten, vierten Seite des alten Papiers stand fett: Westliche Staaten schließen sich Kritik an China an, darunter: Experten vermuten, dass das Virus von China ausgeht. Dass die Regierung der Volksrepublik nicht früh genug mit Ausreisesperren und weiteren wichtigen Schritten gehandelt habe, wird von zahlreichen Regierungen verurteilt. Harsche Kritik übt allen voran Nordkorea, aber auch Russland.

Ich schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Immer wieder das selbe. Etwa alle fünf, sechs Jahre, war die Rede von einem „Super-Killer-Virus“ einer schrecklichen Pandemie, einer Ebola-Seuche aus Afrika oder einer drohenden Schweine-, Vogel oder weiß der Teufel was für einer Grippe aus Asien, die der Menschheit gefährlich werden könnte. Und jedesmal wurde es mit der spanischen Grippe von vor über hundert Jahren verglichen. Und wenn dann einige Menschen in Schwellenländern daran starben, wurde gleich die Apokalypse prophezeit. Wenn es dann auch noch Verdachtsfälle in Europa oder Amerika gab, drehten auch sämtliche Politiker am Rad, und schütteten Milliarden in Medikamente, die ohnehin erst nach Eindämmung der Krankheit auf den Markt geworfen wurden. Dass die herkömmliche Grippe jedes Jahr tausende Menschen dahinrafft, wurde gerne außer Acht gelassen. Gefundenes Fressen für die Presse. Vor allem im Sommer. Immer noch, allem Anschein nach, denn die Zeitungen, sozialen Netzwerke und Fernsehberichte waren voll davon. Es gab nicht mehr viele, die ernsthaft etwas auf diese Panikberichte hielten, jene die es taten, endeten wie Grape. Jene die es nicht taten, kauften die Artikel trotzdem. Jedoch bewirkten die Bilder und Berichte von Menschen, die irgendwo in Dritteweltländern elendig krepierten nicht mehr jenes Mitgefühl, welches man vielleicht erwartete. Es war, als wären Menschen anderer Länder und Kulturen weniger wert, obgleich man von ihrem Leid stündlich, ja minütlich erfuhr. Man sah die Schrecknisse, das Elend, die Qualen. Aber sie waren doch nur eine Randnotiz, solange nicht die eigene Region, Verwandte und Bekannte oder man selbst betroffen war. Mit dem Mitgefühl ist es wie mit der Gravitation. Mit der Entfernung nimmt sie ab. Zur Sicherheit wurden trotzdem alle paar Jahre tonnenweise prophylaktisch Medikamente gekauft, die bei einem Ausbruch einer Krankheit ohnehin nicht geholfen hätten. Und die Pharmaindustrie schöpfte ungeheure Beträge ab. Irgendwann hatten viele die Schnauze gestrichen voll. Meldungen zu Ebola-, Grippe oder anderen Pandemien wurden grundsätzlich als übertrieben abgetan. Es wurde flüchtig darüber hinweg gelesen, jedoch nicht weiter beachtet. Um mehr Leser oder Zuseher zu lukrieren hatten die Medien immer schlimmere, immer gravierendere Folgen und Möglichkeiten aufgezeichnet. Die alte Zeitungsweisheit von der Angst, die sich immer gut verkaufe, wurde ausgeschlachtet, bis nichts mehr übrig davon war, außer blank gelegtes Gerippe. Die großen Pressehäuser unserer Welt hatten sich selbst ihre Glaubwürdigkeit aufgefressen. Heute waren konventionelle Nachrichten für viele zu Unterhaltungssendern degradiert. Die wahren Informationen holte man sich online. Es war bizarr. Durch das Überheizen der Angst in der Bevölkerung hatte man die Menschen abgestumpft, ungläubig gemacht. Niemand glaubte mittlerweile mehr an eine globale Gefahr, auch wenn davon berichtet wurde. Wie schwer wir uns täuschen sollten...