19
»ENTNEHMEN SIE IHRE Proben.« Boch beaufsichtigte seine Männer, die die Fässer am Rand des Tanks abstellten. »Ich gebe Ihnen zwanzig Minuten.«
»Wie überaus großzügig.« Sophie nahm den Behälter mit den leeren Reagenzgläsern und ging auf die acht Fässer zu, die gerade vom Schiff herbeigeschafft worden waren. In welchem mochte die Pistole stecken, die Royd ihr zukommen lassen wollte? Was, wenn in keinem der Fässer eine Pistole steckte? Was, wenn es Royd in der kurzen Zeit, seit sie ihn am Morgen darum gebeten hatte, nicht geschafft hatte, aufs Schiff zu gelangen? Und woher zum Teufel sollte sie wissen, ob der verdammte Sender überhaupt funktionierte?
Sie musste ihm vertrauen. Trotz aller Widrigkeiten hatte Royd ihr den Sender zukommen lassen, dann würde er auch dafür sorgen, dass es funktionierte. Und ganz bestimmt hatte er es auch geschafft, eine Pistole in einem der Fässer zu verstecken.
Ich würde für dich sterben.
Himmelherrgott, sie musste endlich aufhören, alles, was Royd tat, zu hinterfragen. Sie hätte das Schicksal ihres Sohnes niemals in seine Hände gelegt, wenn ihr Instinkt ihr nicht gesagt hätte, dass Michael bei ihm in Sicherheit war. Und dennoch konnte sie, seit sie auf der Insel war, nicht aufhören, sich Sorgen zu machen und an Royd zu zweifeln. Royd würde sie im Kampf gegen diesen Wahnsinn niemals alleinlassen. Er hatte gesagt, er kommt, also tut er das auch.
Sie musste ihm einfach vertrauen.
Sie trat an das erste Fass, nahm den Deckel ab und füllte ein Reagenzglas.
Nichts sonst in dem Fass.
Sie stellte das Reagenzglas in den Transportbehälter und nahm sich das nächste Fass vor. Ganz langsam, sagte sie sich. Sie würde sich viel Zeit lassen.
Keine Waffe.
Sie nahm sich das dritte Fass vor. Füllte das Reagenzglas. Wieder nichts.
Als sie den Deckel des fünften Fasses anhob, entdeckte sie die Pistole sofort. Sie war mit schwarzer Plastikfolie wasserdicht verpackt und an der Innenwand des Fasses befestigt. Sophie atmete erleichtert auf.
Sie drehte sich so, dass sie Boch den Rücken zuwandte. Gott sei Dank beachtete er sie nicht, sondern bellte den Männern, die dabei waren, die Fässer aufzustellen, Befehle zu. Sie füllte das Reagenzglas, nahm die Pistole aus dem Fass und ließ sie auf den Betonboden zwischen den Fässern fallen. Dann stellte sie den Behälter mit den Reagenzgläsern davor und ging zum nächsten Fass.
»Los, Beeilung«, herrschte Boch sie an. »Wir wollen loslegen.«
»Noch zwei Fässer.« Hastig füllte sie die beiden Reagenzgläser, steckte sie in den Behälter, schob die Pistole darunter und hob beides zusammen auf. »Fertig.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Ich bringe die Proben ins Labor.«
»Warten Sie.«
Sophie zuckte zusammen.
Boch lächelte sie boshaft an, als sie sich zu ihm umdrehte. »Laufen Sie doch nicht gleich weg. Ich möchte, dass Sie dabei zusehen, wie wir das REM-4 ins Trinkwassersystem kippen.«
»Weil Sie wissen, dass ich dagegen bin?«
»Vielleicht. Ich bin davon überzeugt, dass Sie versucht haben, Zeit zu schinden, seit Sie hier sind. Sie haben uns eine Menge Ärger bereitet. Sanborne ist zu dumm, um richtig mit Ihnen umzugehen, er hätte das lieber mir überlassen sollen.«
»Glauben Sie mir, Sanborne ist so sadistisch, dass selbst Sie zufrieden wären.«
»Bleiben Sie hier stehen und sehen Sie sich das an.« Er wandte sich wieder an seine Männer. »Fässer ausleeren, eins nach dem anderen.«
»Tun Sie es nicht«, flüsterte Sophie.
»Das erste Fass!«
Die Männer schütteten den Inhalt des Fasses in das Wasserbecken.
»Zweites Fass!«, brüllte Boch.
Sophie griff unter den Behälter mit den Reagenzgläsern und nestelte die Pistole aus der Plastikhülle.
»Drittes Fass!«
Sie zog die Pistole.
»Boch.«
Er drehte sich zu ihr um.
Sie schoss ihn zwischen die Augen.
Mit einem Ausdruck der Verblüffung sank er zu Boden.
Sophie wirbelte herum und rannte nach draußen.
Hinter ihr geriet alles in Aufruhr.
Und am Tor, auf das sie zurannte, stand ein Wachmann. Er kam auf sie zu.
Sie hob die Pistole.
Der Wachmann ging zu Boden.
Ein Messer. In seinem Rücken steckte ein Messer.
»Komm!« Royd packte sie am Arm. »Die kommen jeden Augenblick da raus.« Er zerrte sie in Richtung Tor. »Die Jungs werden erst mal ziemlich verwirrt sein, aber das wird sie nicht daran hindern anzugreifen, schließlich sind sie darauf konditioniert.«
»Ich hab ihn umgebracht«, keuchte Sophie, als sie den Hügel hochrannten. »Boch hat seine Männer das Zeug ins Trinkwasser kippen lassen, und ich hab ihn erschossen. Ich hab ihn erschossen …«
»Ich weiß, ich hab’s gesehen.« Er zog sie mit sich und auf der anderen Seite den Hügel hinunter. »Ich hab einen der Wachmänner erledigt und konnte durch das Fenster auf der anderen Seite zusehen. Warum zum Teufel bist du nicht einfach da rausmarschiert? Er hatte das Trinkwasser doch schon mit dem ersten Fass verseucht.«
»Aber vielleicht ist die Menge so gering, dass niemand Schaden nimmt. Ich wusste es einfach nicht, und ich wollte verhindern, dass er noch mehr reinkippt.«
»Und deswegen hast du dafür gesorgt, dass hier die Hölle losbricht.«
Sie hörte Schreie und Rufe hinter sich.
Panik erfasste sie.
»Beweg dich!« Royd riss sie auf ein paar Bäume zu, die in knapp hundert Metern Entfernung standen.
»Ich lauf ja schon. Und hinter den paar Bäumen können wir uns nicht verstecken, die sind viel zu –«
»Halt die Klappe.« Er drückte sie zu Boden, als sie die Bäume erreichten, dann zog er etwas aus der Hosentasche. »Wir werden sie ein bisschen ablenken.«
Ablenken. Was meinte er damit?
Der Boden unter ihnen bebte, als eine Explosion die Insel erschütterte!
Der nächtliche Himmel hinter dem Hügel färbte sich rot vom Feuer.
»Die Aufbereitungsanlage«, flüsterte Sophie. »Du hast sie in die Luft gejagt.«
»Es war die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass kein Tropfen von dem verseuchten Wasser übrig bleibt.« Er steckte die Fernbedienung wieder ein. »Ich hab dir ja gesagt, dass ich die Welt von dem Teufelszeug befreien werde.« Er sprang auf. »Los, komm. Ich bringe dich zum Strand auf der anderen Seite der Insel. MacDuffs Männer dürften inzwischen die Anlage erreicht und damit begonnen haben, den Rest zu vernichten. Kelly wartet darauf, dich aufs Boot zu bringen.«
»Nein.«
»Doch.« Er sah sie durchdringend an. »Du hast genug getan. Überlass uns den Rest.«
»Sanborne. Er ist im Haus. Er hat meine Unterlagen in seinem Safe. Meine Unterlagen.«
»Darum werde ich mich kümmern.«
»Meine Unterlagen, meine Verantwortung.« Sie lief den Hügel hinunter auf das Haus zu. »Und ich muss mich beeilen. Bestimmt hat er die Explosion gehört und kann sich denken, was passiert ist. Dann wird er sich die Unterlagen schnappen und versuchen zu fliehen. Für den Fall hat er garantiert vorgesorgt.«
»Sophie, vertrau mir.«
»Ich vertraue dir, auch wenn ich zwischendurch ins Wanken geraten bin. Du hattest recht, es fällt mir schwer, jemandem zu vertrauen. Aber dann habe ich mir gesagt, wenn ich mir selbst und meinen Instinkten traue, dann muss ich auch dir vertrauen.« Sie lief schneller. »Aber das hier hat nichts mit Vertrauen zu tun.«
Er fluchte vor sich hin. »Also gut, meinetwegen. Dann machen wir’s gemeinsam, verdammt. Wieso willst du eigentlich immer alles im Alleingang machen? Immerhin hast du mich schon um das Vergnügen gebracht, Boch das Hirn wegzupusten. Falls du es vergessen haben solltest, ich habe ein berechtigtes Interesse daran, die Welt von Sanborne zu befreien.«
Wie konnte sie das vergessen? Sie nickte.
»Und ich entscheide, auf welche Weise wir’s machen. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, musst du mich erschießen, um mich davon abzuhalten, dass ich dich niederschlage.« Er sah sie durchdringend an. »Und du weißt, dass ich es tun werde.«
»Ja.«
Bis zum Haus waren es nur noch wenige Hundert Meter. Es war kein einziger Wachmann in Sicht. Was jedoch nicht bedeutete, dass sich keiner im Haus befand, dachte Sophie. »Sanborne hat zwei Leibwächter, die ihm nie von der Seite weichen. Ich sehe keinen von ihnen.«
»Kommt man von hinten in die Bibliothek?«
»Ja, vor der Bibliothek liegt eine Veranda.« Sophie lief um das Haus herum. »Es sind nirgendwo Wachleute zu sehen. Wo stecken die bloß?«
»Du hast gesagt, Sanborne hat nur zwei Leibwächter?«
»Er ist ja davon ausgegangen, dass er demnächst eine Insel voller Sklaven haben würde, da dachte er wahrscheinlich, zwei genügen.« Sie zeigte auf die Verandatüren. »Dahinter ist die Bibliothek.«
»Kein Licht. Wartest du hier, bis ich nachgesehen habe, ob die Luft rein ist?«
»Nein.«
»Leck mich doch.« Er drückte sich neben der Tür an die Wand. »Dann bleib wenigstens hinter mir.« Mit dem ausgestreckten Arm öffnete er die Tür und stieß sie mit dem Fuß auf.
Keine Schüsse.
Er hechtete in den Raum und rollte sich auf die Seite.
Sie folgte ihm.
Keine Schüsse.
Royd schaltete seine Taschenlampe ein und ließ den Lichtkegel durch den Raum gleiten. Leer. Kein Geräusch. Kein Geräusch im ganzen Haus.
»Vielleicht ist er zu der Aufbereitungsanlage gerannt, als er die Explosion gehört hat«, meinte Sophie.
»Nein, das glaube ich nicht. Sanborne würde seine wertvolle Haut nicht riskieren, sondern eher das Weite suchen, um sich einen neuen Plan zurechtzulegen.« Royd richtete sich auf. »Und das bedeutet, dass du wahrscheinlich recht hast mit deiner Vermutung, dass er sich mitsamt den REM-4-CDs in Sicherheit gebracht hat.«
»Wie denn?«
»Durch die Luft oder zu Wasser.« Royd sprang auf und ging zur Tür. »Keine Hubschraubergeräusche. Ich wette, er ist unterwegs zum Pier und versucht, auf sein Boot zu gelangen.« Er hatte kaum einen Fuß auf die Veranda gesetzt, als er losrannte wie der Teufel.
Sanborne war gerade dabei, in sein Boot zu steigen, als sie den langen Pier erreichten. Einer seiner Leibwächter hatte bereits den Motor angelassen.
»Verdammt«, murmelte Royd, während seine Hand die Pistole umklammerte. »Dieser Pier ist zu lang, wir sind immer noch nicht in Schussweite. Wir müssen näher ran.«
Er rannte noch schneller.
»Ah, Sophie, meine Liebe«, rief Sanborne, als das Boot ablegte. »Ich hatte gehofft, Sie vor meiner Abreise noch zu sehen, damit ich Ihnen mitteilen kann, dass Ihr Sohn gerade einen langsamen, qualvollen Tod stirbt. Das habe ich sofort veranlasst, als ich sah, wie die Anlage in die Luft fliegt.«
»Meinem Sohn passiert überhaupt nichts«, entgegnete sie. »Man hat Sie reingelegt, Sanborne.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort.«
Jetzt mussten sie doch nah genug sein.
»Es ist die Wahrheit.«
»Dann werde ich dafür sorgen müssen, dass Sie ihn nie wiedersehen.« Sanborne gab seinem Leibwächter ein Zeichen. »Erschießen Sie sie, Kirk.«
Der Mann hob sein Gewehr.
O Gott, ein Gewehr hatte eine wesentlich größere Reichweite als ihre Pistolen.
»Nein!« Royd überholte Sophie, riss sie zu Boden und schoss.
Aber gleichzeitig wurde aus dem Gewehr ein Schuss abgefeuert.
Das unverkennbare Geräusch einer Kugel, die in menschliches Fleisch eindrang.
Royd war getroffen!
Seine Beine gaben unter ihm nach, und er stürzte.
Blut sprudelte aus seiner Brust, und die Augen fielen ihm zu.
»Royd!«
Noch ein Schuss. Die Kugel schlug dicht neben Sophie in die Holzplanken des Piers ein. Instinktiv warf sie sich auf Royd, um ihn mit ihrem Körper zu schützen, hob die Pistole und zielte.
Dann ließ sie die Pistole wieder sinken.
Sanborne lag leblos im Boot, Kopfschuss. Der Mann, den Sanborne Kirk genannt hatte, ließ sein Gewehr fallen, als sein Chef getroffen war, und beugte sich über ihn.
»Hab ich … ihn … erwischt?« Royd hatte die Augen geöffnet und schaute Sophie an.
»Ja.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Halt die Klappe. Du darfst jetzt nicht sprechen.« Sie riss sein Hemd auf. »Warum hast du das getan?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Das hättest du nicht tun dürfen, verdammt.«
»Doch … es musste … sein.« Seine Augen fielen wieder zu. »Ging … nicht anders. Hab’s dir doch … gesagt.«
Ich würde für dich sterben.
»Wag es nicht, zu sterben, das erlaube ich dir nicht. Hast du verstanden? Ich habe dich nicht darum gebeten, dich wie ein verdammter Held aufzuführen.« Gott, die Kugel war oben in den Brustkorb eingedrungen. Jetzt bloß nicht in Panik geraten. Sie war Ärztin und musste handeln wie eine Ärztin. »Halt durch. Das ist ein Befehl. Du hast mir immer gesagt, ich würde mich zu sehr mit meinen Schuldgefühlen herumquälen. Willst du etwa, dass mich das hier bis an mein Lebensende verfolgt?«
»Auf … keinen Fall.«
»Dann halt still, damit ich die Blutung stoppen und dich stabilisieren kann.«
»Bin noch nie … stabil gewesen. Nicht die … Maxime meines Handelns.«
»Dann wirst du dich eben ändern.« Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und rief MacDuff an. »Wir sind auf dem Pier. Royd wurde angeschossen.«
»Ich schicke Hilfe.«
»Danke.« Sie legte auf. »Ich werde jetzt versuchen festzustellen, ob die Kugel noch in dir steckt. Das wird weh tun.«
Er antwortete nicht.
Er hatte das Bewusstsein verloren.
»Sophie.«
Als sie aufblickte, standen MacDuff und Campbell vor ihr. »Sie haben zu lange gebraucht.« Sie hielt Royd in den Armen. »Er könnte tot sein.«
»Zehn Minuten.« MacDuff kniete sich neben sie. »Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten. Wie geht es ihm?«
»Er ist bewusstlos. Wahrscheinlich durch den hohen Blutverlust.« Sie schüttelte den Kopf. »Mehr kann ich nicht sagen. Ich habe getan, was ich konnte. Wir müssen ihn in ein Krankenhaus schaffen.« Vorsichtig ließ sie Royds Oberkörper zu Boden sinken und richtete sich auf. Himmel, am liebsten würde sie ihn gar nicht mehr loslassen. So irrational das auch sein mochte, sie hatte das Gefühl, solange sie ihn festhielt, würde er nicht sterben. »Er hat das Bewusstsein verloren, während ich Sie angerufen habe.«
»Ich habe sofort einen Hubschrauber angefordert, der müsste gleich eintreffen«, sagte MacDuff. Dann wandte er sich an Campbell: »Halten Sie Ausschau nach dem Hubschrauber. Ich habe denen gesagt, sie sollen vor dem Haus landen.«
»In Ordnung.« Campbell machte sich auf den Weg.
MacDuff wandte sich wieder an Sophie. »Sind Sie auch verwundet? Oder ist das sein Blut an Ihrer Bluse?«
»Ja, es ist seins.« Benommen betrachtete sie ihre blutverschmierte Bluse. »Ich bin nicht verwundet. Er hat die Kugel abbekommen, die für mich bestimmt war.«
»Was ist mit Sanborne?«
»Der ist tot. Royd hat ihn erschossen. Ich weiß nicht, wo er ist. Er war mit zwei Leibwächtern auf einem Boot …« Ihre Stimme zitterte so sehr, dass sie sich kurz unterbrechen musste. »Sie müssen ihn finden. Er hatte die REM-4-CDs bei sich, die muss ich unbedingt haben. Sie werden immer eine Gefahr bleiben …«
»Wir werden ihn schon finden.« MacDuff klopfte ihr auf die Schulter. »Es wird alles wieder gut werden, Sophie.«
Sie schloss die Augen. Das waren leere Worte, solange Royd um sein Leben kämpfte. Nein, sie kämpften beide. Sie würde ihn nicht sterben lassen. Sie wusste nicht, wie sie weiterleben sollte, wenn er nicht überlebte.
Gott, wie egoistisch sie sein konnte! Er hatte es verdient, ein langes, glückliches Leben zu führen, egal, was mit ihr passierte. Dieser Satz ging ihr immer wieder durch den Kopf wie ein Mantra. Er musste überleben. Er musste überleben. Er musste überleben.
»Sophie«, sagte MacDuff leise. »Ich glaube, ich höre den Hubschrauber.«
Sie öffnete die Augen. Ja, sie hörte ihn auch. Erleichtert atmete sie auf, während sie Royds Hand fester drückte. »Dann sehen wir zu, dass wir ihn von hier fortschaffen.«
Eine Stunde später trafen sie im Santo Domenico Hospital in Caracas ein, wo Royd sofort in den Operationssaal gebracht wurde.
»Alles in Ordnung?« MacDuff musterte Sophies Gesicht. »Bisher hat er überlebt, Sophie. Das ist doch ein gutes Zeichen.«
»Aber es ist keine Garantie. Trotzdem weiß ich es zu schätzen, dass Sie versuchen, mich zu trösten. Zumindest hat er im Hubschrauber schon eine Bluttransfusion erhalten, das erhöht seine Chancen.«
»Kommen Sie, gehen wir ins Wartezimmer und trinken eine Tasse Kaffee.«
Sie hatte keine Lust, ins Wartezimmer zu gehen. Am liebsten wäre sie in den OP gestürmt, um zu sehen, was sie da drin mit ihm machten. Am liebsten hätte sie bei der Operation geholfen.
Sie holte tief Luft. »Gleich. Ich muss kurz nach draußen und telefonieren.« Sie ging zum Ausgang der Notaufnahme. »Ich wollte Michael sowieso anrufen, das lenkt mich ab. – Royd hat gesagt, Jock wäre bei ihm. Trifft das immer noch zu?«
MacDuff nickte. »In Quinns Haus in Atlanta.«
Ihre Mundwinkel zuckten. »Er muss ein großartiger Schauspieler sein. Ich habe seine Stimme nicht erkannt, aber Sanborne hat ihn offenbar für Franks gehalten. Das hat mich eine Zeitlang ziemlich nervös gemacht.«
»Jock ist verdammt gut.« MacDuff hielt ihr die Tür auf. »Aber ohne ein paar technische Kniffe würde er nicht riskieren, Franks’ Stimme nachzuahmen.«
»Wie bitte?«
»Er hat anderthalb Tage lang Katz und Maus mit Franks gespielt, ehe er ihn ausgeschaltet hat. Er hat ihn immer wieder an sich herankommen lassen und sich dann wieder zurückgezogen.«
Sie runzelte die Stirn.
»Jock benötigte brauchbare Aufnahmen von Franks’ Stimme. Wie er mit seinen Männern redet, mit Sanborne telefoniert und so weiter. Dann sind er und Quinn mit der CD zu einem Experten des FBI in Atlanta gefahren. Quinn war früher beim FBI und hat dort immer noch gute Kontakte. Die haben dann ein Gerät an das Handy angeschlossen, das Jock Franks abgenommen hatte.« Er lächelte. »Und voilà, Jocks Stimme wurde zu Franks’ Stimme. Er hat Sanborne ganz schön an der Nase herumgeführt.«
»Und mich in Angst und Schrecken versetzt.«
MacDuffs Lächeln verschwand. »Es wundert mich, dass Royd Ihnen nicht gesagt hat, was da vor sich ging.«
»Das hat er. In groben Zügen. Keine Einzelheiten. Und als ich die Stimme gehört habe, die so echt nach Franks’ klang, war ich schon auf der Insel.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und da war es zu spät, um ihm noch Fragen zu stellen. Ich konnte mich nur noch entscheiden, ob ich ihm vertraute oder nicht.«
»Und? Haben Sie ihm vertraut?«
»Nach langem Überlegen. Es ist mir nicht leicht gefallen.« Sie lehnte sich erschöpft an eine Wand. »Royd macht es einem weiß Gott nicht einfach.« Aber sie wünschte sich von Herzen, dass dieser schwierige, ruppige Bastard überlebte. »Ich musste mich ganz auf meinen Instinkt verlassen.«
»Oder war da vielleicht noch etwas anderes im Spiel?« MacDuff erwartete keine Antwort auf die Frage. »Erledigen Sie Ihren Anruf. In der Zwischenzeit besorge ich Ihnen eine Tasse Kaffee. Schwarz?«
Sie nickte, und er machte sich auf den Weg zum Wartezimmer.
Noch etwas anderes im Spiel? Zuneigung? Vielleicht … Liebe? Sophies Hand umklammerte das Handy. Leidenschaft, Nähe, Bewunderung; sie wusste, dass sie all das für Royd empfand. Und jetzt musste sie mit dieser schrecklichen Leere umgehen und mit der panischen Angst, die sie zusammen mit der Angst überkommen hatte, er würde in ihren Armen sterben.
Er konnte immer noch sterben. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie musste durchhalten. Sich ablenken. Sie wählte Jocks Nummer.
Jock meldete sich nach dem dritten Läuten. »Ich glaube, du willst nicht mich sprechen, Sophie. Neben mir steht ein junger Mann, der es nicht erwarten kann, mir das Telefon aus der Hand zu reißen.«
»War ich nicht gut, Mom?«, fragte Michael begierig. »Jock hat mir gesagt, ich muss mich verstellen, damit dir nichts passiert.«
»Du warst große Klasse, mein Schatz. Wie geht es dir?«
»Super. Es ist ganz toll hier am See. Jane hat einen Hund, Toby. Der ist halb Wolf und echt cool. Und Jane bringt mir das Pokerspielen bei.«
»Hast du wieder Anfälle gehabt?«
»Nur einen.« Dann wechselte er hastig das Thema. »Jock sagt, dass jetzt alles vorbei ist, weil ihr die Verbrecher zur Strecke gebracht habt. Wann kommst du mich denn abholen?«
»Sobald ich kann. Erst muss ich hier noch etwas erledigen. Lass mich noch mal mit Jock sprechen. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
»Es geht ihm gut, Sophie«, sagte Jock, als er das Telefon wieder übernahm. »Er hatte nur einen einzigen Anfall, und der war ziemlich harmlos. Er schlägt sich großartig.«
»Woher hat er die blauen Flecken?«
»Von Jane.«
»Wie bitte?«
»Lidschatten. Sie hat ihn ein bisschen geschminkt, damit er aussieht, als wäre er misshandelt worden. – Wie geht’s Royd?«
»Das wissen wir noch nicht. Wir sind im Krankenhaus und warten auf die Ärzte.« Sie musste schlucken. »Ich hole Michael ab, sobald ich kann, aber ich möchte im Moment noch bei Royd bleiben.«
»Kein Problem. Jane und Michael verstehen sich sehr gut, und jetzt, wo er weiß, dass du in Sicherheit bist, wird es ihm noch besser gehen.«
»Klingt, als fühlt er sich ziemlich wohl. Ihr spielt Poker?«
»Jeder junge Mann sollte sich mit Glücksspiel auskennen«, sagte Jock. Dann fuhr er ernst fort: »Ich wünschte, ich hätte auf San Torrano dabei sein können. Dann wäre es für Royd vielleicht besser ausgegangen.«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Also, das kränkt mich aber. Soll das heißen, du traust mir nicht zu, dass ich Berge versetzen kann?«
»Ich glaube, dass du mein Freund bist, und ich habe dir meinen Sohn anvertraut. Das ist schon ein ziemlich hoher Berg.«
»Ein ehrenwerter Auftrag, aber weder anstrengend noch aufregend.« Er seufzte theatralisch. »Aber ich werde hier die Stellung halten, bis du mich ablöst. Ruf mich an, sobald es Neuigkeiten über Royd gibt. Bis bald, Sophie.« Er legte auf.
Sophie holte tief Luft. Zumindest war mit Michael alles in Ordnung.
»Wie geht es Ihrem Sohn?«
Als sie sich umdrehte, stand MacDuff in der Tür. »Gut. Jane bringt ihm Poker bei, und ihr Hund sorgt dafür, dass er auch die restliche Zeit beschäftigt ist.«
»Toby?« Er reichte ihr eine Tasse Kaffee. »Ein außergewöhnliches Tier, nach allem, was ich gehört habe. Jane ist ganz verrückt nach ihm.«
»Ich hätte gedacht, dass Sie Toby kennen. Sie und Jane sind doch so gut befreundet.«
»Unsere Beziehung ist ein bisschen … schwierig. Ich wurde noch nie in das Haus am See eingeladen.«
»Ich wünschte, es wäre nicht nötig gewesen, Michael dorthin zu schicken.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Hoffentlich bekomme ich keine Probleme, wenn ich Michael abholen möchte. Dass Boch und Sanborne tot sind, bedeutet noch lange nicht, dass alle anderen Probleme auch gelöst sind. Die Polizei sucht mich immer noch wegen des Mords an Dave.«
»Aber vielleicht nicht mehr lange. Ich habe die CIA überredet, ihr eigenes Forensikerteam zu schicken, um den Tatort noch einmal zu untersuchen. Selbst wenn Devlin es geschafft hat, den Tatort mit Ihrer DNA zu versehen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass er auch seine eigene hinterlassen hat. Es könnte eine Weile dauern, aber die CIA wird das klären. Die sind uns sehr dankbar dafür, dass wir sie von den Kopfschmerzen wegen REM-4 befreit haben.« Er nahm ihren Arm. »Kommen Sie, gehen wir rein. Es wird ein bisschen ungemütlich hier draußen.«
Die frische, kühle Luft jenseits des antiseptischen Krankenhausgeruchs tat ihr gut. Aber vielleicht sollte sie lieber ins Wartezimmer gehen, damit sie gleich anwesend war, wenn die Ärzte die Operation beendet hatten. Jemand würde bestimmt kommen, um ihr zu sagen –
Vor Schreck blieb sie wie angewurzelt stehen. Er würde nicht sterben, sagte sie sich. Er würde die Operation überleben. Wenn die Ärzte ins Wartezimmer kamen, würden sie ihr mitteilen, dass Royd über den Berg war.
Sie nickte und ging auf die Glastüren zu. »Sie haben recht. Gehen wir rein. Man wird uns sicher bald benachrichtigen …«
»Wartest … du … auf meine letzten Worte?«, krächzte Royd.
Er wachte auf!
Sophie fuhr in ihrem Sessel neben Royds Bett hoch. »Du darfst jetzt nicht sprechen. Möchtest du irgendwas?«
»Allerdings. Ich … hab eine lange Wunschliste.« Er schloss die Augen. »Aber wenn ich im Sterben liege … muss ich wohl … Prioritäten setzen.«
»Du stirbst nicht. Jedenfalls nicht jetzt.« Sie hielt ihm ein Glas mit zerstoßenem Eis an die Lippen. »Nimm ein bisschen davon und lass es im Mund schmelzen.«
Er gehorchte. »REM-4. Hast du … die Unterlagen?«
»Ja. MacDuff ist mit dem Hubschrauber losgeflogen und hat das Boot gefunden. In Sanbornes Aktentasche befand sich das gesamte Material über REM-4.«
»Was hast du damit gemacht?«
»Ich hab’s verbrannt. Vollständig.«
»Gut. Wann kann ich … hier raus?«
»In einem Monat. Vielleicht auch erst später.«
»Und wie lange bin ich schon hier?«
»Zwei Tage.« Zwei lange, schreckliche Tage, die sie an seinem Bett verbracht und gezittert hatte, ob er aus der Narkose aufwachen würde. »Aber letzte Nacht hat sich dein Zustand gebessert, da wusste ich, dass du überleben würdest.«
»Und Michael?«
»Dem geht’s gut. Er ist immer noch in Atlanta.«
Er machte die Augen auf. »Und warum bist du dann … hier?«
Weil sie während all der quälenden Stunden nicht gewusst hatte, ob sie weiterleben konnte, falls Royd starb. Weil die Zweifel an ihren Gefühlen für ihn einer quälenden Gewissheit gewichen waren. »Ich hab dir doch gesagt, es geht ihm gut. Er braucht mich im Moment nicht.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Und du musstest halt deine Pflicht tun.«
»Halt die Klappe.« Ihre Stimme zitterte. »Ich versuche, mitfühlend zu sein, und in deinem Zustand kann ich dir keine Ohrfeige verpassen. Aber das bewahre ich mir für den Tag auf, an dem du das Krankenhaus verlässt.«
»Sag mal, wie kommt es, dass du mit jedem außer mir zartfühlend umgehst?«
»Ich bin zartfühlend mit dir umgegangen … als du bewusstlos warst.«
»Und als du dachtest, ich würde sterben. Ich würde diese zarte Seite an dir auch mal gern im wachen Zustand erleben.« Er schloss die Augen. »Ich werde jetzt ein bisschen schlafen, denn ich will so bald wie möglich wieder auf den Beinen sein. Zwischen uns gibt es verdammt viel zu klären, und dafür werde ich … meine ganze Kraft brauchen.«
»Ja, sieh zu, dass du möglichst viel Schlaf bekommst. Du hast ihn nötig.«
Er schwieg eine Weile. »Warum bist du bei mir geblieben, anstatt zu Michael zu fahren?«
»Weil du mich gebraucht hast.«
»Und?«
»Weil du mir das Leben gerettet hast.«
»Und?«
»Schlaf jetzt«, sagte sie mit bebender Stimme. »Mehr kriegst du nicht von mir zu hören.«
»Doch, das werde ich. Wart’s ab …«
Sein Atem wurde ruhiger, und er schlief ein.
Verdammt viel zu klären, hatte er gesagt. Royd hatte sie gedrängt, hatte unbedingt etwas von ihr hören, ihr etwas entlocken wollen, obwohl er so schwach war. Wie sollten sie irgendetwas klären? Sie trugen beide tiefe Wunden mit sich herum, sie waren Überlebende des Grauens, das Sanborne und Boch über die Welt gebracht hatten. Verflixt, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie war so erschöpft, dass sie überhaupt nicht mehr wusste, was sie dachte.
Aber fühlen konnte sie. O ja, und wie sie fühlen konnte!
Zärtlich schob sie Royd eine Strähne aus dem Gesicht. Es tat gut, ihn zu berühren und zu spüren, wie das Leben und die Vitalität zu ihm zurückkehrten. Er war dem Tod nur knapp entronnen …
Er öffnete die Augen. »Erwischt«, flüsterte er.
Sie blinzelte ihre Tränen fort. »Du hast mich reingelegt, du Mistkerl.«
»Ein Mann muss tun, was er tun muss.« Er drehte das Gesicht, so dass seine Wange ihre Handfläche berührte. Dann schloss er die Augen wieder. »Hör nicht auf …«
»Mach ich nicht.« Sie streichelte seine Wange. »Du könntest mich nicht mal dazu bringen aufzuhören, wenn du …«