14

MICHAEL UND JOCK spielten nicht Fußball, sondern saßen auf einem der riesigen Felsbrocken, die den Turnierplatz säumten.

»Hallo, Sophie.« Jock stand auf. »Alles in Ordnung?«

Sie nickte. »Ich muss mit Michael sprechen. Würdest du uns einen Moment allein lassen?«

»Natürlich.« Er musterte ihr Gesicht, dann wandte er sich an Michael. »Ich glaube, deine Mutter braucht ein bisschen Unterstützung, Michael. Ich kann mich doch auf dich verlassen, oder?«

Michael nickte. »Wir sehen uns später.«

»Darauf kannst du Gift nehmen«, antwortete Jock lächelnd.

»Royd erwartet dich im Schlosshof, Jock«, sagte Sophie.

Er nickte und machte sich auf den Weg.

Sophie schaute Michael an. Wo sollte sie anfangen?

»Du gehst fort, stimmt’s?«, fragte Michael ruhig.

Sie zuckte zusammen.

Michael schaute aufs Meer hinaus, wo gerade die Sonne unterging. »Es ist in Ordnung, Mom.«

Sie schwieg eine Weile. »Nein, es ist nicht in Ordnung. Ich möchte nicht fortgehen, es widerstrebt mir total, dich allein zu lassen. Und wenn du deswegen sauer auf mich bist, dann kann ich das verstehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Wie kann ich sauer auf dich sein? Du bist doch meine Mom. Du steckst im Moment in großen Schwierigkeiten und versuchst nur zu tun, was für uns alle das Beste ist. Jock sagt, ich muss auch meinen Teil dazu beitragen.«

»Jock?«

»Aber auch wenn er das nicht gesagt hätte, wär ich nicht sauer.« Er nahm ihre Hand. »Du hast mir mal gesagt, Pflicht kann eine Last, aber auch eine Freude sein, weißt du noch? Da hast du von mir gesprochen. Aber ich habe auch meine Pflicht. Du hast Kummer, und ich darf es dir nicht noch schwerer machen. Das ist meine Aufgabe.« Er presste die Lippen zusammen, damit sie aufhörten zu zittern. »Ich mach mir bestimmt Sorgen um dich. Du musst mir versprechen, dass dir nichts Schlimmes passiert.«

»Ich werde versuchen, mich nicht –« Also gut. »Ich verspreche es dir.«

»Jock sagt, es kommt jemand her und passt auf mich auf, während er und MacDuff auf dich aufpassen. Ich werd mich ordentlich benehmen, Mom.«

Sie hatte einen Kloß im Hals. »Das weiß ich doch.« Sie legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn an sich. »Ich bin sehr stolz auf dich, Michael. Hat Jock dir gesagt, wer kommt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nun, ich sage dir, was ich weiß.«

»Ich möchte jetzt nicht darüber nachdenken. Jock kann es mir später erzählen.« Er drückte sich an sie. »Können wir einfach ein bisschen zusammen hier sitzen? Du hast nicht viel Zeit, stimmt’s?«

Eine halbe Stunde. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Royd ungeduldig im Schlosshof auf und ab gehen.

Sie umschlang ihn fest mit den Armen. »Ich habe keine Eile.«

 

Als sie im Schlosshof eintraf, war es schon dunkel. Royd hatte den Wagen bereits vor das Tor gefahren. Instinktiv spannte sie sich an, als sie ihn an die Kühlerhaube gelehnt dastehen sah. »Ich musste noch ein bisschen bei ihm bleiben.«

»Das weiß ich, Herrgott noch mal. Hatten Sie erwartet, dass ich Sie zusammenstauche?« Er öffnete die Beifahrertür. »Deswegen habe ich eine Stunde gewartet, ehe ich Jock losgeschickt habe, um Sie zu holen. Steigen Sie ein. Ich habe Jock gesagt, er soll noch eine Viertelstunde mit Michael auf dem Turnierplatz bleiben, damit wir weg sind, wenn er herkommt. Sie wollen doch sicher nicht, dass er Sie abfahren sieht, oder?«

»Wo ist meine Tasche?«

»Im Kofferraum.«

»Ich muss noch kurz mit MacDuff reden.«

»Das habe ich für Sie erledigt. Jane MacGuire wird Sie auf Ihrem Handy anrufen. Würden Sie jetzt bitte einsteigen? Wir wollen es Michael nicht noch schwerer machen.«

Sie stieg ein. »Nein, Sie haben recht.« Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Fahren Sie los.«

»Genau das ist meine Absicht.«

Sie hörte, wie er die Fahrertür zuschlug und den Motor anließ. Erst nachdem sie eine Weile gefahren waren, fragte Royd: »War es schlimm?«

Sie öffnete die Augen. »Was wollen Sie wissen? Ob Michael in Tränen ausgebrochen ist oder ob er einen Tobsuchtsanfall hatte? Nein, er war sehr verständnisvoll und liebevoll, und er hat mir das Herz gebrochen. Er ist so ein guter Junge, Royd.«

Er nickte. »Ich weiß. Ich kenne ihn noch nicht lange, aber das weiß ich.« Er überlegte. »Jock sagt, er zweifelt nicht daran, dass Michael in Sicherheit sein wird. Er kennt diese Leute, und er vertraut ihnen. Das dürfte Sie doch ein bisschen trösten.«

»Ja, es ist mir sehr wichtig.« Sie schaute ihn an. »Sie sind verdächtig mitfühlend.«

»Bin ich das? Ich werde mich vorsehen müssen.« Er gab Gas. »Am Ende halten Sie mich noch für einen anständigen Menschen.«

»Ich habe nie behauptet, ich würde Sie für –«

»Ach, kommen Sie schon. Wollen Sie im Ernst behaupten, dass Sie mich nie in Verbindung mit Garwood bringen? Dass Sie sich nie daran erinnern, wer ich gewesen bin?« Er zuckte die Achseln. »Wer ich bin?«

»Das bedeutet nicht, dass Sie nicht anständig sind. Wenn ich daran zweifeln würde, müsste ich auch an meiner eigenen Anständigkeit zweifeln.« Sie wechselte das Thema. »Jock hat Michael gesagt, er und MacDuff würden auf mich aufpassen. Bisher dachte ich, MacDuff würde sich an Devlins Fersen heften.«

»Sein Horizont hat sich erweitert, nachdem ich ihm gesagt habe, dass Devlin unter Sanbornes Schutz steht. Wenn er Sanborne und Boch zu Fall bringen muss, um Devlin zu kriegen, dann wird er das tun.«

»Es ist auf jeden Fall besser, wenn wir einen gemeinsamen Plan haben und uns nicht dauernd gegenseitig in die Quere kommen.«

»Ganz genau.« Sein Handy klingelte. »Royd.«

»Kelly?«, murmelte Sophie.

Er nickte. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Kelly. Wir sind auf dem Weg nach Miami. Ich melde mich bei Ihnen und sage Ihnen, ob Sie in die Staaten zurückkommen sollen.« Er beendete das Gespräch. »Er ist in Barbados. Das war der nächste Hafen, den er anlaufen konnte, nachdem er die Constanza aus den Augen verloren hatte.«

»Miami? Wieso Miami?«

»Das ist ein guter Ausgangspunkt. Wir wissen nicht, wo Gorshank sich aufhält. Er könnte auf einer Insel in der Karibik sein oder immer noch in den USA …«

»Oder sonst wo auf der Welt.«

»Nach allem, was Sie mir erzählt haben, nehme ich an, dass Sanborne ihn in der Nähe und unter Kontrolle haben will.«

Ja, wahrscheinlich, dachte Sophie. »Was glauben Sie, wann wir von MacDuff etwas über Gorshank erfahren werden?«

»Er sitzt bestimmt nicht rum und dreht Däumchen.«

»Natürlich nicht. Ich will bloß nicht – Ich habe Angst. Bisher war die Gefahr begrenzt. Einer gegen einen. Aber das hat sich alles geändert.«

»Gorshanks Formel könnte sich immer noch auch als Flop erweisen. Sie haben doch selbst gesagt, dass Sie nicht verstehen, wie er zu einigen seiner Resultate gekommen ist.«

»Aber darauf können wir uns nicht verlassen.« Sie straffte die Schultern. »Darüber kann ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Ich muss einen Schritt nach dem anderen machen.«

»Sehr vernünftig. Wir brauchen eine Stunde bis zum Flughafen. Am besten, Sie versuchen, sich ein bisschen zu entspannen.«

»Ich kann mich nicht entspannen.« Sie schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. »Erst wenn Jane MacGuire mich angerufen hat.«

 

»Es hat nicht geklappt«, sagte Devlin, als Sanborne sich meldete. »Ich habe mein Bestes getan, aber Sie haben mir nicht mitgeteilt, dass Royd dort sein würde.«

Sanborne fluchte leise. »Ich war mir nicht sicher, ob er dort aufkreuzt. Sie wissen ganz genau, dass er es war?«

»Allerdings. Ich habe eine Stichwunde in der Schulter, die seine Handschrift trägt. Ich kenne ihn gut. Wir sind uns in Garwood mehrmals begegnet.«

»Wenn Sie so dicht an ihn rangekommen sind, dann hätten Sie ihn liquidieren müssen. Sie sind ein Versager.«

Schweigen. »Es tut mir leid«, sagte Devlin zerknirscht. »Was kann ich tun, um das wiedergutzumachen?«

»Töten Sie die Frau und den Jungen.«

»Zu spät. Royd hat mich erkannt und wird MacDuff informiert haben. Ich werde nicht mal mehr in die Nähe des Schlosses gelangen. Aber ich habe Ihren Befehl ausgeführt und ein Hindernis aus dem Weg geräumt. Oder besser, mehrere Hindernisse. Die Polizei wird das ganze Gelände durchkämmen.«

»Sie gedankenloser Idiot. Ich wollte nicht, dass Sie unsere Mission gefährden, das wissen Sie genau.«

»Sie haben mir gesagt, ich soll tun, was notwendig ist. Sie wollen doch bestimmt nicht, dass ich geschnappt werde, solange ich Ihnen noch von Nutzen sein kann. Lassen Sie mich Royds Verfolgung aufnehmen, der wird mich schon zu der Frau führen.«

»Dann bleiben Sie in Schottland und erledigen Sie Ihren Auftrag.«

»Ich glaube nicht, dass die beiden noch hier sind. Royd kennt mich sehr gut, bestimmt geht er davon aus, dass er mich aufspüren kann.«

»Und Sie glauben, Sie könnten ihn aufspüren. Wer von Ihnen beiden liegt denn wohl richtig?«

»Ich. Denn er hat diese Frau im Schlepptau, die ist ihm ein Klotz am Bein.«

»Sie sagten doch, Sie könnten sich nicht mehr in die Nähe des Schlosses wagen.«

»Falls er noch dort ist, wird er es nicht mehr lange sein. Er will Ihnen an den Kragen, und jetzt ist er auch noch hinter mir her. Solange er in dem Schloss hockt, kriegt er keinen von uns beiden.«

»Und Sophie Dunston?«

»Sie haben mir einen Auftrag erteilt, und den werde ich selbstverständlich ausführen. Allerdings kann das ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen.«

Sanborne überlegte. Jetzt, da Royd sich mit Sophie zusammengetan hatte, lagen die Prioritäten anders. Royd stellte eine Gefahr dar, die so schnell wie möglich eliminiert werden musste. »Die Frau kann jeden Augenblick der Polizei in die Hände geraten. Royd wird sich nicht länger mit ihr belasten, wenn er damit rechnen muss, dass sie ihn in Schwierigkeiten bringt. Er ist dermaßen versessen darauf, mich zu kriegen, dass er bestimmt auf keinen Fall Gefahr laufen will, wegen Beihilfe zum Mord verhaftet zu werden.«

»Dann darf ich mich also an seine Fersen heften?«

»Sobald er auftaucht. Bis dahin bleiben Sie in meiner Nähe.«

»Um Sie zu schützen?«, fragte Devlin. Dann fügte er hastig hinzu: »Das ist klug. Ihnen darf auf keinen Fall etwas zustoßen.«

»Freut mich, dass Sie sich an dieses oberste Prinzip erinnern«, antwortete Sanborne sarkastisch. »Manchmal mache ich mir Gedanken über Sie, Devlin.«

»Warum? Ich führe doch alle Aufträge gewissenhaft aus, oder?«

»Ja, immer. Aber meistens fließt wesentlich mehr Blut als nötig.«

»Ein reines Mittel zum Zweck.«

»Mag sein.« Sanborne betrachtete den Bericht, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Wenn Gorshanks Analyse korrekt war, konnte das seine Zielrichtung beeinflussen. »Es wird sich einiges ändern. Halten Sie sich auf Abruf bereit. Kann sein, dass ich noch einen Auftrag für Sie habe, während wir darauf warten, dass Royd zum Angriff übergeht.« Er legte auf. In diesem Fall konnte es sich sogar als positiv erweisen, dass Devlin sich seinem Blutrausch hingegeben hatte. Es könnte Sophie so schockiert haben, dass sie sich womöglich auf Sanbornes Seite schlug. Sie fühlte sich ohnehin gejagt, und zu wissen, dass Devlin ihrem Sohn so nahe gekommen war, musste ihr Vertrauen ziemlich erschüttert haben.

Ob er noch einmal versuchen sollte, das Miststück zu ködern?

Vielleicht. Er war schon in der Vergangenheit nicht zufrieden gewesen mit Gorshank, aber jetzt wurde er allmählich ungeduldig. Anfangs hatte er den Mann für den perfekten Ersatz gehalten und geglaubt, er könne sich Sophie endlich guten Gewissens vom Hals schaffen. Aber Gorshank war weder so genial noch so vielseitig talentiert wie Sophie, und die Ergebnisse seiner letzten Tests waren zwar vielversprechend gewesen, bedurften aber noch der Bestätigung. Sieben Tote und zehn Probanden, die lange nicht den Grad an Fügsamkeit aufgewiesen hatten, den Sanborne anstrebte.

Sollte er warten, bis Devlin Royd getötet hatte und Sophie sich von aller Welt verlassen fühlte?

Wenn der Junge nicht von steinernen Mauern geschützt würde, hätte er ihn entführen lassen und Sophie zur Zusammenarbeit überreden können, indem er ihr angedroht hätte, ihren Sohn zu quälen. Aber Devlin hatte gesagt, dass es unmöglich war, an den Jungen heranzukommen, vor allem, wo jetzt auch noch die Polizei das gesamte Gebiet um das Schloss herum durchkämmte. Aber vielleicht gab es doch noch eine Möglichkeit …

Er würde sich bald entscheiden müssen, dachte Sanborne. Boch drängte ihn, die Abschlusstests durchzuführen, damit er mit den Verhandlungen beginnen konnte.

Okay, Royd, zeig dich. Devlin wartet auf dich.

Und diesmal würde Sanborne nichts dagegen haben, wenn Devlin ein Blutbad anrichtete.

 

Wenige Minuten bevor sie das Flugzeug bestiegen, klingelte Sophies Handy.

»Sophie Dunston? Ich bin Jane MacGuire.« Die Stimme der Frau klang kehlig und jung, verriet aber gleichzeitig Stärke. »Tut mir leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe, ich dachte, Sie hätten vielleicht lieber, dass ich warte, bis ich im Schloss angekommen bin und Sie dann mit Ihrem Sohn sprechen können.«

»Ja, richtig.«

»Er ist im Zimmer nebenan. Ich rufe ihn, wenn wir fertig sind. Sie werden sicher einige Fragen an mich haben. Schießen Sie los.«

»Hat MacDuff Sie über Michaels Schlafstörungen aufgeklärt?«

»Ja. Ich schlafe in dem Zimmer neben Ihrem Sohn. Wir werden schon miteinander klarkommen.« Dann fügte sie hinzu: »Er ist ein netter Junge. Sie sind bestimmt sehr stolz auf ihn.«

»Ja.« Sophie räusperte sich. »MacDuff hat mir gesagt, dass Ihr Vater Detective bei der amerikanischen Polizei ist. Es wundert mich, dass Sie ihn überreden konnten, Sie nach Schottland zu begleiten.«

»Es war auch nicht ganz einfach«, räumte Jane ein. »Joe hält sich gern an die Regeln, außer wenn das Leben eines Kindes auf dem Spiel steht. Dann setzt er sich über alle Regeln hinweg. Sie können ihm getrost vertrauen. Wenn ich ein Kind hätte, dann würde ich es niemandem lieber anvertrauen als Joe.«

»Sie könnten sich mit Ihrer Hilfsbereitschaft großen Ärger einhandeln. Warum sind Sie bereit, das Risiko auf sich zu nehmen? Stehen Sie MacDuff so nahe?«

»Gott, nein.« Schweigen. »Das war keine besonders beruhigende Antwort, nicht wahr? MacDuff und ich kennen uns schon lange, und wir sind nicht immer einer Meinung, aber in diesem Fall sind wir uns einig. Der Junge braucht Schutz, und Joe und ich können ihm diesen Schutz bieten.«

»Sind Sie Polizistin?«

Jane lachte. »Um Himmels willen, nein. Ich bin Künstlerin. Aber Joe hat mir beigebracht, mich und andere zu schützen. Noch mehr Fragen?«

»Nein, im Moment nicht.«

»Nun, Sie können mich jederzeit anrufen. Ich werde Ihrem Sohn nicht von der Seite weichen. Versprochen.«

»Danke.« Sophie räusperte sich. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihre Hilfe zu schätzen weiß. Kann ich jetzt mit Michael sprechen?«

»Sicher. – Michael! Da ist er schon.«

»Mom?«, sagte Michael. »Geht es dir gut?«

»Ja. Wir steigen gleich ins Flugzeug. Und dir? Geht es dir auch gut?«

»Klar. Joe ist total in Ordnung, aber Fußball spielt er nicht. Er sagt, er bringt mir Judo bei.«

»Das klingt ja … sehr interessant. Und Jane?«

»Sie ist sehr nett. Und hübsch. Sie erinnert mich an irgendjemanden …«

»Sei schön brav und tu, was die beiden dir sagen. Sie sind extra gekommen, um dir zu helfen.«

»Das musst du mir nicht sagen, Mom. Das ist doch klar.«

»Tut mir leid, ich glaub, ich bin einfach ein bisschen nervös. Natürlich weiß ich, dass du ein vernünftiger Junge bist.« Sie holte tief Luft. »Ich hab dich lieb. Ich rufe dich so oft wie möglich an. Mach’s gut, Michael.« Sie beendete das Gespräch.

»Zufrieden?« Royd reichte ihr ein Taschentuch.

»Vollkommen.« Sie wischte sich die Augen. »Jane MacGuire macht einen offenen und ehrlichen Eindruck. Ich glaube, sie wird sich gut um Michael kümmern.« Sie schluckte. »Und Michael mag sie. Auch wenn weder Jane noch Joe Fußball spielen. Das ist ihm anscheinend nicht so wichtig. Er sagt, sie ist sehr hübsch.«

Royd lächelte. »Oh, oh, das klingt gefährlich. Womöglich steigt sein Testosteronspiegel schlagartig an. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie bei Ihrer Rückkehr einen bis über beide Ohren verknallten Michael vorfinden.«

»Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist.« Sie gab ihm das Taschentuch zurück. »Gehen wir.« Sie steckte das Handy ein. »Wo werden wir in Miami übernachten?«, fragte sie, während sie auf das Flugzeug zugingen.

»Jedenfalls nicht im Ritz. Ich habe ein Ferienhäuschen gemietet, da habe ich schon mal gewohnt. Ziemlich abseits gelegen und einigermaßen komfortabel eingerichtet. Dort müssten wir es aushalten können, bis wir wissen, wohin es weitergeht.«

Sie nickte. »Ich möchte mir noch mal diese CD mit Gorshanks Formeln ansehen. Wie gesagt, ich glaube, ich habe da ein paar Schwachstellen entdeckt, das muss ich in Ruhe überprüfen.«

»Sie haben sich doch schon mal einen ganzen Tag lang damit beschäftigt.«

»Wenn man bedenkt, dass Gorshank wahrscheinlich ein ganzes Jahr gebraucht hat, um diese Formeln zu entwickeln, ist ein Tag nicht besonders viel.« Sie schürzte die Lippen. »Außerdem war ich total erschüttert und verängstigt, als ich die Daten durchgegangen bin, und in so einem Zustand kann ich nicht klar und analytisch denken.«

»Ach ja, den hatte ich ganz vergessen.« Sein Lächeln verschwand, als er hinter ihr her die Stufen zum Flugzeug hochstieg. »Ihren Schuldkomplex. Also studieren Sie diese Formeln! Vielleicht stellen Sie ja tatsächlich fest, dass Sie kein Hitler oder Göring sind. Wäre doch eine angenehme Überraschung.«

 

»Haben Sie sich gut eingelebt?« MacDuff stand am Fuß der Treppe, als Jane MacGuire nach unten kam. »Schläft der Junge?«

Jane nickte. »Es hat eine Weile gedauert. Er ist sehr aufgeregt und versucht gleichzeitig, es sich nicht anmerken zu lassen. Ein erstaunliches Kind.« Ihre Blicke begegneten sich. »Und er mag Sie sehr.«

»Was für eine Überraschung.«

»Eigentlich nicht. Sie können doch jede Rolle spielen. Und es hat Ihnen nun mal gefallen, nett zu Michael zu sein.« Sie stand jetzt direkt vor ihm. »Jock sagt, es gibt einen Monitor in meinem Zimmer und einen in der Bibliothek. Ist das richtig?«

»Ja, aber wenn Sie noch einen brauchen, wird Campbell ihn für Sie installieren.«

»Wann reisen Sie ab? Ich dachte, Sie warten auf Nachrichten über diesen Gorshank.«

»Ich warte noch diese eine Nacht ab, dann fliege ich in die Staaten.« Ernst fügte er hinzu: »Sie sind hier absolut in Sicherheit, Jane. Ich lasse die meisten meiner Männer hier, damit Sie und Joe Ihre Entscheidung auf keinen Fall bereuen müssen. Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass Ihnen hier nichts passieren kann, hätte ich Sie nicht hergebeten.«

Sie zuckte die Achseln. »Was passiert, passiert. Von jetzt an liegt die Verantwortung bei Joe und mir, und wir sind beide keine Angsthasen. Er ist einer der hartgesottensten Männer, die ich kenne, und ich bin auf der Straße groß geworden und nicht wie Sie in einem vornehmen Schloss.« Sie ging in Richtung Bibliothek. »Zeigen Sie mir, wo der Monitor steht.«

MacDuff lachte. »Ich hatte ganz vergessen, wie köstlich direkt Sie sind.« Dann wurde er ernst. »Nein, das stimmt nicht. Ich habe es nie vergessen. Ich habe nichts von dem vergessen, was Sie zu Jane MacGuire macht.«

»Ich weiß.« Sie öffnete die Tür zur Bibliothek. »Sonst wäre ich jetzt nicht hier, um Ihre Aufgabe zu übernehmen, während Sie sich Ihrem Vergnügen widmen und die Demokratie retten.«

»Vergnügen?«

»Die meisten Männer lieben das Jagen und Sammeln. Das ist der Neandertalerinstinkt. Und wenn die Jagd ein bisschen gefährlich ist, umso besser.« Sie ließ ihren Blick durch die Bibliothek schweifen und entdeckte den Monitor auf einem Tisch an der Wand. »Okay, ich werde das Ding wahrscheinlich woanders aufstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich hier drin meine Zeichnungen mache. Vielleicht in der Eingangshalle.«

»Wen werden Sie denn zeichnen? Michael?«

»Wahrscheinlich. Für so einen kleinen Jungen hat er ein sehr interessantes Gesicht, vielleicht, weil er schon so viel mitgemacht hat. Ziemlich außergewöhnlich.«

»Und alles Außergewöhnliche fasziniert Sie. Ich weiß noch, was es für ein Theater war, Sie von Jock fernzuhalten.«

»Es ist Ihnen nicht gelungen. Abgesehen davon, dass Jock der schönste Mensch ist, dem ich je begegnet bin, wirkte er so gequält wie der an den Felsen gekettete Prometheus. Ich konnte einfach nicht widerstehen.« Sie musterte MacDuff wohlwollend. »Sie habe ich noch nie gezeichnet. Sie wären auch kein schlechtes Modell.«

»Ich fühle mich geehrt«, erwiderte er trocken. »Auch wenn ich natürlich neben Jock und Michael völlig verblassen würde.«

Sie schüttelte den Kopf. »An Sie würde ich mich wahrscheinlich sowieso nicht rantrauen. Sie sind zu kompliziert. Dazu würde die Zeit nicht reichen.«

»Ich bin nur ein einfacher Gutsbesitzer, der versucht, sein Erbe zu schützen.«

Sie schnaubte verächtlich. »Einfach? Sie sind eine Mischung aus zivilisiertem Aristokraten und dem Nachkommen der Raubritter, von denen Sie abstammen.«

»Sehen Sie? So kompliziert kann ich gar nicht sein, wenn Sie mich schon so gut durchschaut haben.«

»Ich habe bisher nur an der Oberfläche gekratzt.« Sie drehte sich um und verließ die Bibliothek. »Halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich möchte immer wissen, was vor sich geht.«

»Mach ich.« Dann fragte er: »Haben Sie übrigens immer noch Kontakt zu Mark Trevor?«

»Ja.«

»Regelmäßig?«

Sie schaute ihn über die Schulter hinweg an. »Das geht Sie nichts an, MacDuff.«

»Stimmt, aber manchmal überkommt mich die Neugier. Muss an den Raubrittergenen liegen. Sehen Sie ihn häufig?«

»Gute Nacht, MacDuff.«

Er lachte in sich hinein. »Gute Nacht, Jane. Wie schade, dass das zwischen Ihnen und Trevor nicht läuft. Aber ich hatte Ihnen ja gleich gesagt –«

Sie wirbelte herum. »Zwischen Trevor und mir ist alles in Ordnung, verdammt. Kümmern Sie sich gefälligst –« Sie unterbrach sich, als sie das Funkeln in seinen Augen bemerkte. »Ich bin hier, um mich um den Jungen zu kümmern, und nicht, um mich von Ihnen provozieren zu lassen. Holen Sie Jock und machen Sie, dass Sie mir aus den Augen kommen. Sie sollten lieber dieser armen Frau helfen, die sich zu Tode ängstigt, weil sie nicht weiß, wem sie ihr Kind anvertrauen soll.«

Sein Lächeln verschwand. »Jetzt weiß sie, dass ihr Kind in guten Händen ist, Jane. Sie besitzt eine Menge Menschenkenntnis, und sie müsste blind sein, um nicht zu erkennen, was für ein Juwel Sie sind.« Er griff nach der Türklinke. »Jock und ich werden Sie nicht wecken, um uns zu verabschieden. Richten Sie Joe meinen Dank für seine Unterstützung aus.«

»Moment.« Wahrscheinlich spielte er mit ihr, dachte sie frustriert. Er war ein Meister der Manipulation, sonst wäre sie jetzt nicht hier. Aber in dieser Missstimmung konnte sie ihn nicht seine gefährliche Mission antreten lassen. »Passen Sie auf sich auf, MacDuff.«

Er strahlte sie an. »Was sind Sie doch für ein liebreizendes Mädchen, Jane.«

»Blödsinn.«

»Es stimmt, Sie wissen diese Seite von sich zu verbergen, aber das macht Sie nur umso interessanter.« Dann fügte er hinzu: »Ich werde mich bemühen, diesen Schlamassel so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Ich habe zu viele andere Interessen, um allzu viel Zeit für so etwas zu vergeuden.«

Er schloss die Tür der Bibliothek.

Jane zögerte, ehe sie die Treppe hochging. Wie immer hatte MacDuff mit ihren Gefühlen gespielt, und sie war zuerst frustriert, dann sauer und schließlich mitfühlend gewesen. Was zum Teufel machte sie eigentlich hier?

Sie wusste genau, warum sie hier war. Wegen des Jungen. Es spielte keine Rolle, dass MacDuff ihr auf die Nerven ging und versuchte, sich in ihr Leben einzumischen. Das seltsame Band, das zwischen ihnen entstanden war, bestand noch immer. Sie hatte versucht, es zu ignorieren und MacDuff aus ihrem Leben zu verbannen, aber offenbar war es ihr nicht gelungen, denn als MacDuff ihr von Sophie Dunston und deren Sohn erzählt hatte, hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihre Hilfe zu verweigern.

Es ging nicht um MacDuff, dachte sie entnervt. Wenn es um das Leben eines Kindes ging, hätte sie niemandes Bitte um Hilfe abgeschlagen, dafür hatte sie als Kind selbst zu viel Schlimmes durchgemacht. Eve und Joe waren für sie da gewesen und hatten sie gerettet. Und jetzt brauchte Michael jemanden, der zu ihm stand. Auch wenn es nur für kurze Zeit war, musste sie für ihn da sein.

Und mit diesen Gefühlen hatte MacDuff nicht das Geringste zu tun.

Außer dass er sie zu gut kannte und sein Wissen ausgenutzt hatte, um ihr ein Anliegen anzutragen, das sie nicht ablehnen konnte. Das ließ sich nicht leugnen. Und warum sollte sie das auch? MacDuff war MacDuff, und sie würde sich nicht länger als nötig hier aufhalten. Sobald Sophie Dunston kam, um ihren Sohn abzuholen, würde Jane ohne Reue in die USA zurückkehren, zufrieden darüber, ihre Sache gut gemacht zu haben.

Und über MacDuff würde sie nur die Nase rümpfen.

 

Das Ferienhaus im Norden von Miami war im spanischen Stil erbaut und rundherum von einer hohen Mauer umgeben. Royd parkte den Wagen am Straßenrand und schloss das schmiedeeiserne Tor auf.

»Sehr hübsch«, bemerkte Sophie, als sie den kleinen Springbrunnen in der Mitte des gefliesten Innenhofs sah. »Sie sagten, Sie waren schon mal hier?«

»Mehrmals. Das Haus ist sehr gemütlich.« Er verriegelte das Tor hinter ihnen. »Und sicher. Hinter hohen Mauern fühle ich mich am wohlsten.«

»Deswegen hocken Sie ja auch dauernd hinter hohen Mauern.«

Er schaute sie an. »Ich nehme an, Sie sprechen nicht von den Mauern dieses Hauses?«

»Tut mir leid, das ist mir so rausgerutscht«, erwiderte sie müde. »Es ist Ihr gutes Recht abzuwehren, wen Sie wollen.«

»Ich wehre Sie nicht ab.«

»Ach nein?« Sie wandte sich von dem Springbrunnen ab und erschrak, als sie ihm in die Augen sah. »So hab ich das nicht gemeint.«

»Dann überlegen Sie sich nächstes Mal, was Sie sagen, denn mir entgeht kein Wort und auch kein Unterton.« Er schloss die Terrassentür auf. »Es gibt drei Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, Wohnzimmer und Küche.« Er zeigte auf die geschwungene schmiedeeiserne Treppe. »Suchen Sie sich ein Zimmer aus, duschen Sie und kommen Sie in die Küche. Ich besorge uns in der Zwischenzeit in einem kubanischen Restaurant hier in der Nähe was zu essen. Ich weiß, es ist noch früh, aber ich schätze, Sie können was zwischen die Zähne gebrauchen, stimmt’s?«

»Okay.« Sie ging die Treppe hoch. »Egal, was.«

»Gehen Sie nicht an die Tür, falls es klingelt.«

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Sagten Sie nicht, dieses Haus sei absolut sicher?«

»Das ist es auch. Aber nur ein Narr verlässt sich blind auf solche Aussagen.« Er verließ das Haus.

Und Royd war kein Narr, dachte Sophie, als sie nach oben ging. Er lebte seit Jahren mit dem Schrecken, den sie über ihn gebracht hatte, und er litt immer noch an den Nachwirkungen. Jede Minute, die sie mit ihm verbrachte, erinnerte sie an die Schuldgefühle, die sie wegen Garwood hegte.

Nicht darüber nachdenken. Er hatte ihr klipp und klar zu verstehen gegeben, dass er kein Mitleid von ihr wollte. Sie würde duschen und dann Michael anrufen, um sich zu erkundigen, ob es ihm gutging.

Und hoffen, dass MacDuff etwas über Gorshank in Erfahrung gebracht hatte.

 

Michael kauerte im Sessel am Fenster. Nur das Mondlicht, das durchs Fenster fiel, erhellte das Zimmer.

»Es ist schon spät, du müsstest längst im Bett liegen.« Jane hatte eigentlich nur einen Blick in Michaels Zimmer werfen wollen, um nach ihm zu sehen, aber sie sah ihm an, wie angespannt er war. Sie betrat das Zimmer und schloss die Tür. »Kannst du nicht schlafen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Machst du dir Sorgen um deine Mom?«

Er nickte. »Ich warte auf ihren Anruf. Sie hat gesagt, sie würde sich melden, sobald sie in den Staaten angekommen sind.«

»Sie weiß doch, wie spät es hier ist.«

»Sie ruft an. Sie hat’s versprochen.«

»Sie möchte bestimmt nicht, dass du vor lauter Sorge nicht schlafen kannst. Leg dich ins Bett, ich wecke dich, sobald sie anruft.« Sie trat zu ihm an den Sessel. »Das war ein dummer Vorschlag. Wenn man etwas möchte, heißt das noch lange nicht, dass es auch klappt.«

»MacDuff hat auch so was gesagt«, erwiderte Michael zaghaft. »Du brauchst nicht hierzubleiben. Es geht mir gut. Und ich möchte dir keine Umstände machen.«

»Du machst mir keine Umstände.« Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. »Fürchtest du dich davor einzuschlafen, Michael?«

»Manchmal. Aber heute nicht. Ich mache mir nur Sorgen um Mom.«

»Das hast du sie aber nicht merken lassen, und das war sehr tapfer. Ich habe genau gesehen, wie stolz sie auf dich ist.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich mache ihr viel zu viel Mühe.«

Es wäre unklug, sich auf eine Diskussion mit ihm einzulassen. Er war ein kluger Junge, und er würde jede Lüge durchschauen. »Das bedeutet noch lange nicht, dass sie keinen Grund hat, stolz auf dich zu ein. Außerdem macht sie sich gern die Mühe um dich.«

»Weil sie halt meine Mutter ist. Niemand anders würde so denken.« Er schaute sie an. »Du auch nicht, stimmt’s?«

Es war Zeit, Klartext zu reden. Sie hatte damit gerechnet, dass der Zeitpunkt kommen würde. Michael hatte sie akzeptiert, weil er es damit seiner Mutter leichter machte, aber jetzt mussten sie beide miteinander zurechtkommen. »Ich wäre nicht hier, wenn ich nicht so dächte.«

»Du kanntest mich ja nicht mal«, entgegnete er schnippisch. »Wieso bist du hergekommen? Weil MacDuff es dir befohlen hat?«

»MacDuff hat mir überhaupt nichts zu befehlen.« Michael schaute sie immer noch an. Er brauchte eine Antwort. »Ich bin gekommen, weil ich wusste, dass du mich brauchst. Als ich klein war, hatte ich keine Mom wie du, und ich war ziemlich einsam. Dann ist eine Frau gekommen und hat mich bei sich aufgenommen, und das hat mein Leben verändert. Die Frau heißt Eve Duncan. Sie und Joe haben mir ein Zuhause gegeben und mir meine Einsamkeit genommen. Die beiden haben mir beigebracht, dass Menschen einander helfen müssen. Ich dachte, indem ich mich um dich kümmere, könnte ich vielleicht ein bisschen von dem zurückgeben, was Eve und Joe mir gegeben haben.«

»Du hattest Mitleid mit mir?«, fragte er argwöhnisch. »Ich brauche kein Mitleid.«

»Natürlich habe ich Mitleid mit dir. Du hast ein Problem, und ich möchte dir helfen, es zu überwinden. Das heißt aber nicht, dass ich dich für bedauernswert halte. Du bist ziemlich zäh, Michael. Ich weiß nicht, ob ich das aushalten würde, was du durchmachst.« Eine Weile musterte er schweigend ihr Gesicht. Er brauchte noch deutlichere Worte, und die musste sie ihm sagen, auch wenn es weh tat. Sie versuchte zu lächeln. »Du bist so zäh, dass ich MacDuff seine Bitte beinahe abgeschlagen hätte. Erst als er mir deinen Namen genannt hat, habe ich es mir anders überlegt.«

Er runzelte die Stirn. »Hä?«

»Er hat mir gesagt, dass du Michael heißt. Ich kannte mal einen kleinen Jungen namens Michael, bevor Eve mich bei sich aufgenommen hat. Er war jünger als ich, und wir haben ihn Mikey genannt. Ich war für ihn so etwas wie eine große Schwester. Wir sind zusammen aufgewachsen.«

»Bin ich ihm ähnlich?«

»Nein, er war ein netter Junge, und ich mochte ihn sehr, aber du bist viel tapferer und selbständiger.« Sie räusperte sich. »Aber Mikey kann ich nicht mehr helfen, und deswegen helfe ich jetzt einem anderen Michael.«

»Ist dein Mikey fortgegangen?«

»Ja.« Sie wandte sich ab. »Er ist fortgegangen.« Sie stand auf. »Lässt du mich dir helfen? Es wird mir guttun. Willst du mein Freund sein und zulassen, dass ich dir und deiner Mutter helfe?«

Nach langem Zögern nickte er. »Ich möchte gern dein Freund sein.«

»Kann ich dich dann überreden, ins Bett zu gehen, damit ich deine Mutter anrufen und ihr sagen kann, dass ich meine Sache gut gemacht habe?«

Er lächelte. »Also gut.« Er stand auf und ging zum Bett. »Ich will nicht, dass du Ärger kriegst. Ich bin längst nicht so zäh wie meine Mom.«

»Ich glaube, das bist du sehr wohl.« Sie schaute zu, wie er sich an den Monitor anschloss, dann deckte sie ihn zu. »Und ich bin stolz darauf, dich zum Freund zu haben, Michael«, flüsterte sie. »Danke …«

 

Sophie hatte gerade ihr Gespräch mit Michael beendet, als Royd an ihre Zimmertür klopfte.

Sie steckte das Handy in ihre Hosentasche und öffnete die Tür. »Michael geht es gut. Er schläft. Es tut mir leid, dass ich ihn geweckt habe, andererseits ist es ein gutes Zeichen, dass er schon geschlafen hat. Und MacDuff hält sich immer noch im Schloss auf. Er sagt, er hat Gorshank noch nicht ausfindig gemacht.«

»Dann sitzt er wahrscheinlich auf heißen Kohlen«, sagte Royd. »Er kann es kaum erwarten, sich endlich auf den Weg zu machen. Haben Sie Hunger?«

Sie nickte. »Heißhunger. Haben Sie das kubanische Restaurant gefunden?«

»Nein, ich hab’s mir anders überlegt.« Er deutete auf den Plastikbeutel, den er in der Hand hielt. »Ich bin stattdessen zu einem kleinen Lebensmittelladen gefahren. Ich dachte, wir könnten unser Abendessen am Strand einnehmen, da ist es friedlich, und wir könnten uns ein bisschen entspannen. Außerdem brauche ich frische Luft.«

Ja, frische Luft wäre nicht schlecht. Seit Royd in ihr Leben getreten war, lief sie ständig auf Hochtouren, und etwas Frieden und Entspannung konnte sie weiß Gott gebrauchen. »Einverstanden, gehen wir.« Sie ging an ihm vorbei in Richtung Treppe. »Aber es wundert mich, dass Sie sich nach Frieden und Entspannung sehnen. Sie wirken nicht gerade …« Sie blieb stehen und suchte nach den richtigen Worten. »Sie sind wie elektrisch geladen. Ich hab das Gefühl, ich könnte einen Schlag abbekommen, wenn ich Sie aus Versehen berühre.«

»Als Sie die Nacht bei mir im Bett verbrachten, haben Sie keinen lebensbedrohlichen Stromschlag abbekommen.«

»Nein.« Sie vermied es, ihn anzusehen. »In der Nacht waren Sie sehr nett zu mir.«

»Ich bin nicht nett.« Er hielt ihr die Haustür auf. »Fast alles, was ich tue, tue ich aus egoistischen Motiven. Hin und wieder vergesse ich das schon mal, aber verlassen Sie sich lieber nicht darauf.«

»Das würde ich nie tun. Ich habe gelernt, mich niemals auf irgendjemanden zu verlassen.« Sie hatten den Sandstrand erreicht, und sie zog ihre Schuhe aus. »Aber Ihnen würde ich mehr vertrauen als den meisten Menschen.«

»Ach? Wie kommt’s?«

»Weil ich Ihre Motivation kenne.« Die Sonne ging schon unter, aber der Sand unter ihren Füßen fühlte sich warm an. Der Wind blies ihr die Haare aus dem Gesicht, und ganz plötzlich fühlte sie sich leicht und frei … Sie hob den Kopf und atmete die salzige Luft ein. »Das war eine gute Idee, Royd.«

»Ich habe ab und zu gute Ideen.« Er zeigte auf ein paar Felsbrocken in der Nähe des Wassers. »Dort?«

Sie nickte. »Egal, wo. Ich sterbe vor Hunger.«

Er grinste. »Das ist das erste Mal, dass Sie ein so extremes Begehren zugeben. Sonst scheinen Sie nur zu essen, um zu überleben.« Er musterte sie von oben bis unten. »Und das sieht man. Sie sind zu dünn.«

»Ich bin gesund und kräftig.«

»Sie sehen aus, als könnte ich Sie umknicken wie einen Strohhalm.«

»Das täuscht.« Sie blieb bei den Felsen stehen. »Sie könnten mich nicht zerbrechen, Royd.«

»Doch, könnte ich.« Er setzte sich in den Sand und öffnete den Beutel mit den Lebensmitteln. »Ich bin gut darin, Dinge … und Menschen zu zerbrechen.« Er sah zu ihr hoch. »Aber ich würde es niemals tun. Es würde mir selbst zu weh tun.«

Ihr blieb die Luft weg, und sie spürte ihr Blut in den Schläfen und in den Handgelenken pulsieren. Sie brachte es nicht fertig, den Blick von ihm abzuwenden.

Schließlich wandte er sich ab. »Setzen Sie sich und essen Sie was. Vollkornsandwich mit Salami, Dillgurken, Kartoffelchips. Es gab keinen Wein, deswegen müssen Sie sich mit Cola begnügen.«

»Kein Problem.« Langsam setzte sie sich ihm gegenüber in den Sand. In Wirklichkeit hatte sie ein ziemlich großes Problem. Sie fühlte sich schwach und ein bisschen benommen. Gott, so hatte sie sich seit ihrer Teenagerzeit nicht mehr gefühlt. »Ich mag Salami.« Vorsichtig nahm sie das Sandwich entgegen, das er ihr reichte. Sie durfte ihn auf keinen Fall berühren, das wäre ein großer Fehler. Verflixt, ihn anzustarren war auch ein Fehler, denn das führte nur dazu, dass sie am liebsten sein Gesicht mit den Fingerspitzen gestreichelt hätte. Er war so hart, so angespannt, doch sie wusste, dass sie diese Anspannung in ihm lösen konnte. Von dem Machtgefühl, das sie dabei überkam, wurde ihr beinahe schwindlig.

Adam und Eva und der verdammte Apfel. Was sie empfand, war absolut primitiv.

»Keine Bange.« Er musterte ihr Gesicht. »Ich werde nicht über Sie herfallen, bloß weil Sie sich ein bisschen schwach fühlen. Das ist nicht der Grund, warum ich Sie hierher gebracht habe.«

Am liebsten hätte sie abgestritten, dass sie sich schwach fühlte. Aber sie konnte nicht lügen. So schwach hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht gefühlt. »Warum haben Sie mich denn hierher gebracht?«

Er runzelte die Stirn. »Weil Sie sich entspannen müssen. Ich wollte Sie ausnahmsweise mal ohne Sorgenfalten erleben.« Er biss in sein Sandwich. »Und ich wollte Ihnen sagen, dass … ich ziemlich ruppig mit Ihnen umgesprungen bin. Ich wollte nicht, dass Sie mich begleiten, und da bin ich eklig geworden.«

»Ja.«

Er zuckte die Achseln. »Ich hab das nicht so gemeint. Es ist mir durchaus nicht gleichgültig, ob Sie am Leben bleiben oder nicht.«

Er wirkte wie ein verlegener kleiner Junge, der etwas ausgefressen hatte. Sie hob die Brauen. »Na, das ist ja überaus tröstlich. Dann war das also gelogen, als Sie behauptet haben, Sie wollten mich eigentlich nur flachlegen?«

»Also, es war insofern gelogen, als ich gesagt hab, es wäre mein einziger Beweggrund gewesen.« Er grinste. »Aber wichtig war es mir schon.« Er wurde ernst. »Und das ist es immer noch. Aber ich will Sie nicht drängen.« Er aß sein Sandwich fertig, streckte sich auf dem Rücken aus und schloss die Augen. »Noch nicht.«

Sie betrachtete ihn mit einer Mischung aus Entgeisterung und Belustigung. Typisch Royd, sie erst zu provozieren und dann zu ignorieren.

»Essen Sie Ihr Sandwich und entspannen Sie sich«, sagte Royd, ohne die Augen zu öffnen, »denn das ist vielleicht vorerst Ihre letzte Chance. Man sollte die guten Zeiten genießen, solange man kann.«

»Ich weiß.« Sie schob sich den letzten Bissen in den Mund und blieb noch eine Weile nachdenklich sitzen. Gott, er schien tatsächlich einzuschlafen. Er scherte sich überhaupt nicht darum, wie nervös und angespannt sie war. Ach, das war auch egal.

Sie lehnte sich gegen den Felsen, vor dem sie saß. »Aber falls ich einschlafe, sollten Sie mich lieber wecken, bevor die Flut mich überrollt. Ich werd nicht gern unsanft geweckt.«

»Das ist doch manchmal gar nicht schlecht. Ein kleiner Schrecken macht munter. Ich werd’s Ihnen irgendwann mal zeigen …«

»Ich will nicht –« Am besten, sie hielt einfach die Klappe. Jedes Wort, das er sagte, rief Erinnerungen wach. Wie Royd in jener ersten Nacht nackt im Bett gelegen hatte. Wie ihr Herz gerast hatte, als er sie so intensiv angesehen hatte. »Ich kann mich nicht entspannen, wenn Sie die ganze Zeit mit mir reden.«

»Gutes Argument. Sie sind eben eine kluge Frau. Und das ist eins meiner Probleme. Sie sehen gar nicht aus wie eine Ärztin.«

»Wie sieht eine Ärztin denn Ihrer Meinung nach aus?«

»Jedenfalls nicht wie Sie. Wenn Ihre Haare frisch gewaschen sind, sind sie ganz lockig und luftig wie bei einem Kind. Sie tragen meistens kaum Make-up, und Sie sehen immer so unschuldig und weich und strahlend aus …«

Himmelherrgott, ihr wurde schon wieder ganz heiß und mulmig.

»Das klingt ja, als wär ich Shirley Temple.« Sie hatte Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. »Ich wünschte, ich wäre unschuldig, aber an mir ist nichts Kindliches.« Sie schloss die Augen. »Ich habe selbst ein Kind, erinnern Sie sich?«

»Wie könnte ich das vergessen? Es ist das Wichtigste in Ihrem Leben.«

»Da haben Sie allerdings recht.«

Aber im Moment schien Michael ganz weit weg zu sein. Es war schon ziemlich lange her, dass sie sich anstatt wie eine Mutter einfach ganz wie eine Frau gefühlt hatte. Sie war sich ihres Körpers und ihrer Muskeln intensiv bewusst, spürte, wie ihre Brust sich beim Atmen hob und senkte. Obwohl sie die Augen geschlossen hatte, sah sie vor ihrem geistigen Auge das Meer, den Sand und Royd ganz deutlich vor sich.

»Das ist in Ordnung«, sagte Royd leise. »So sollte es auch sein. Ich wollte dem nicht widersprechen. Aber Sie sind ein Mensch, Sophie. Wenn Sie mich brauchen, bin ich für Sie da.«

Sie brachte kein Wort heraus. Dieser Mistkerl. Rau und grob, aber manchmal war er so sanft, dass sie ihn am liebsten in die Arme nehmen und trösten würde. Und jedes Mal, wenn es ihr gerade gelungen war, sich gegen ihn zu verschließen, sagte er plötzlich etwas, das wieder ihr Herz rührte. »Danke.« Sie räusperte sich. »Ich werde daran denken.«

Er sagte nichts. War er eingeschlafen? Sie wusste, dass sie keinen Schlaf finden würde.

Daran denken? Wie sollte sie das vergessen können?