13

»KANN ICH SIE einen Augenblick sprechen?«

MacDuff blickte von seinem Schreibtisch auf und erhob sich. »Ich habe nicht viel Zeit, Miss Dunston. In einer Stunde kommt der Polizeichef mit einigen Leuten von Scotland Yard.«

»Ich werde Sie nicht lange stören.« Sie betrat die Bibliothek. »Wir müssen miteinander reden.«

»Unbedingt. Ich hatte ohnehin vor, Sie später aufzusuchen. Wie geht es dem Jungen?«

»Nicht besonders. Aber das war nicht anders zu erwarten. Ich habe nur kurz mit ihm gesprochen, bevor ich zu Ihnen gekommen bin, es schien ihm allerdings schon ein bisschen besser zu gehen als gestern Abend. Und er hat während der Nacht keine Angstanfälle gehabt, womit ich eigentlich gerechnet hätte.«

»Seit er hier ist, ist das nur ein einziges Mal vorgekommen. Vielleicht verliert es sich ja mit dem Größerwerden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber es wird weniger.«

»Setzen Sie sich«, sagte MacDuff. »Ich bin hundemüde, ich habe eine fürchterliche Nacht hinter mir, und meine Höflichkeit hindert mich daran, mich zu setzen, solange Sie da rumstehen. Das ist das Kreuz mit meiner Erziehung zum Herrn über diesen Haufen Steine.«

Sophie ließ sich in den Sessel fallen. »Es ist ein großartiger Haufen Steine und überraschend gemütlich.«

»Stimmt. Deswegen kämpfe ich immer noch darum, es vor dem Zugriff des National Trust zu bewahren. Kaffee?« Ohne eine Antwort abzuwarten, füllte er eine Tasse und reichte sie ihr. »Sahne?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind sehr liebenswürdig. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Sie wütend auf mich sein würden.«

»Ich habe tatsächlich eine Mordswut im Bauch.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Aber die richtet sich nicht gegen Sie. Ich habe Michael unter meinem Dach aufgenommen, und ich bin verantwortlich für die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Ich hatte damit gerechnet, dass man womöglich mich angreifen würde, nicht jedoch meine Leute. Das war ein sinnloses Blutbad gestern Abend.«

Ein Schauder überlief sie. »Allerdings. Royd hat mir davon erzählt. Ich dachte, nach all dem würden Sie Michael und mich vor die Tür setzen.«

»Damit dieser Dreckskerl Sanborne sich ins Fäustchen lacht? Und glaubt, er könnte mir seine Killer auf den Hals hetzen und mich damit so einschüchtern, dass ich ihm Michael zum Fraß vorwerfe?« MacDuffs Augen funkelten vor Zorn. »Allein schon, um ihm eins auszuwischen, würde ich Ihnen und Ihrem Sohn weiterhin meinen Schutz gewähren.«

»Möglicherweise müssen wir trotzdem abreisen. Es ist nämlich zu erwarten, dass die Polizei bei Ihnen aufkreuzt, wenn die rausfinden, dass ich Michael hierher geschickt habe.« Es fiel ihr schwer, sich zu beherrschen. »Die halten mich für so verrückt, dass ich meinen eigenen Sohn umbringen würde.«

»Ich werde versuchen, Scotland Yard hinzuhalten.« Er runzelte die Stirn. »Aber ich bin ein bisschen beunruhigt. Mir wäre nicht ganz wohl dabei, Michael hierzulassen, wenn ich das Schloss verlasse.«

Sie zuckte zusammen. »Sie reisen ab?«

»Wundert Sie das? Devlin hat vier meiner Leute ermordet. Ich kann ihn nicht ungestraft davonkommen lassen. – Aber keine Angst, ich werde dafür sorgen, dass der Junge in Sicherheit ist.«

»Sie sagten doch gerade, dass Sie das nicht können.«

»Ich sagte, mir wäre nicht ganz wohl dabei, ihn hierzulassen, wenn niemand da wäre, der die Verantwortung für ihn übernimmt. Aber ich arbeite dran.«

»Das brauchen Sie nicht. Für die Sicherheit meines Sohnes bin immer noch ich verantwortlich, ich bin diejenige, die dafür sorgen muss, dass ihm niemand etwas antut.« Sie stand auf. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich kümmere mich um meinen Sohn.«

»Nein, das werden Sie nicht tun.«

Sie starrte ihn entgeistert an. »Wie bitte?«

»Ich werde Sie und Royd wahrscheinlich brauchen. Sie stecken bis zum Hals in diesem Schlamassel, und Sie verfügen über Kenntnisse und Informationen, die mir fehlen. Ich kann nicht zulassen, dass Sie vor lauter Sorge um Ihren Sohn handlungsunfähig werden.«

»Himmelherrgott.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind ja genauso schlimm wie Royd.«

»Sie meinen eigennützig? Darauf können Sie Gift nehmen. Ich würde den Jungen so oder so beschützen, aber wenn ich Sie damit davon abhalten kann, einen Fehler zu begehen, dann werde ich es erst recht tun.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gehen Sie zu Michael und Royd. Ich muss mich mit dem Polizeichef und dem Inspektor von Scotland Yard auseinandersetzen, der den Mord an Dermot untersucht. Lassen Sie sich nicht blicken. Er soll nicht mitbekommen, dass sich Fremde im Schloss aufhalten.«

»Das wäre mir auch lieber«, sagte Sophie trocken. »Wahrscheinlich würden die mich auch verdächtigen, diese Morde begangen zu haben.« Sie verließ die Bibliothek und schloss die Tür hinter sich. Sie war sich nicht sicher, was genau sie von MacDuff erwartet hatte, aber er überraschte sie immer wieder. Mal war er arrogant und herrisch, mal war er charismatisch. Eins allerdings war ihr mittlerweile klar: Mit dem Mann war nicht zu spaßen, und sie würde sich vorsehen müssen, wenn sie nicht von ihm niedergewalzt werden wollte.

»Was ziehst du denn die Stirn so kraus?«

Als sie aufblickte, stand Jock in der Eingangstür. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, aber es erreichte seine Augen nicht. Er wirkte erschöpft und traurig. Wer konnte ihm das verdenken?, dachte Sophie mitfühlend. Er hatte die ganze Nacht über Totenwache gehalten. »Bist du gerade erst zurückgekommen?«

Er nickte. »Ich musste bleiben, bis der Inspektor von Scotland Yard kam. Der Chef der örtlichen Polizei wollte mich nicht gehen lassen.« Er verzog das Gesicht. »Dabei hat MacDuff die halbe Nacht mit ihm telefoniert und ihm geschworen, dass ich ein Alibi habe.«

»Du hättest gar nicht erst dortbleiben sollen. Bei deiner Geschichte ist es doch kein Wunder, dass der Polizeichef –«

»Ja, ich weiß. MacDuff war auch nicht gerade begeistert davon. Aber Mark Dermot war mein Freund.« Er wechselte das Thema. »Warum warst du eben so nachdenklich? Ich hab dich aus der Bibliothek kommen sehen.«

»Dann weißt du ja, warum ich nachdenklich bin. Dein MacDuff ist verdammt arrogant. Ich hab ihm gesagt, dass er genauso ist wie Royd.«

»Hm, es gibt gewisse Ähnlichkeiten. Sie sind beide unnachgiebig und unbeirrbar. Womit hat MacDuff dich denn so aufgebracht?«

»Er hat mir mehr oder weniger erklärt, dass er sich um Michael kümmern wird, ob es mir gefällt oder nicht, denn er möchte nicht, dass ich meine Energie auf meine Mutterpflichten vergeude, wo ich ihm doch so wichtige Dienste erweisen kann.«

Jock lachte. »Er muss sehr müde sein. Normalerweise ist er wesentlich diplomatischer. Wenn es sein muss, kann MacDuff mit seinem Charme Steine erweichen.«

»Also, diesmal war von seinem Charme jedenfalls nicht viel zu merken. Er hat mir gesagt, ich soll mich verziehen und mich nicht blicken lassen, solange der Inspektor von Scotland Yard hier ist, er würde sich später mit mir unterhalten.«

»Und? Wirst du das tun?«

»Nein, verdammt.« Sie seufzte. »Ja, natürlich werde ich mich verziehen, ich bin ja nicht blöd. Scotland Yard im Nacken zu haben hätte mir gerade noch gefehlt. Aber ich lasse mir nicht von MacDuff vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Meine Entscheidungen treffe ich immer noch selbst.« Sie schüttelte den Kopf. »Auch wenn ich in letzter Zeit weiß Gott hin und her geworfen werde wie ein betrunkener Matrose in einem Sturm.«

»MacDuff ist sehr gut zu Michael, Sophie«, sagte Jock ruhig.

»Ja, das weiß ich. Nicht jeder Junge hat das Vergnügen, mit einem Schlossherrn Fußball zu spielen. Und Michael hat mir was von einer Schatzsuche erzählt. Hat MacDuff sich das ausgedacht, um ihn bei Laune zu halten?«

Jock zuckte die Achseln. »Hier in der Gegend erzählt man sich so manche Geschichte. Auf jeden Fall hat Michael sich nicht gelangweilt. Er ist immerhin ein kleiner Junge und weit weg von zu Hause.«

»Und ich bin MacDuff sehr dankbar für seine Mühe. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich von ihm bevormunden lasse.«

»Ich werde mit ihm reden.«

»Tu, was du willst.« Sie wandte sich ab und ging zur Treppe. »Ich muss nach Royd sehen. Er war ziemlich schwach. Er hätte gestern Abend nicht zu Fuß zum Schloss zurückgehen sollen.«

»Ich habe ihm angeboten, einen Wagen zu besorgen.«

»Ich mache dir ja keinen Vorwurf. Es war seine Entscheidung. Der Idiot hält sich für Superman.«

 

»Sie waren anscheinend nicht sehr taktvoll«, sagte Jock zu MacDuff, als er die Bibliothek betrat. »Und Sophie kann es nicht leiden, wenn man ihr Vorschriften macht. Sie können von Glück reden, wenn sie nicht mit Michael die Flucht ergreift.«

MacDuff blickte auf. »Im Moment bin ich zu aufgebracht, um taktvoll zu sein. Ich habe ihr gesagt, was Sache ist, und sie gebeten, sich nicht blicken zu lassen, solange sich der Inspektor von Scotland Yard noch hier aufhält. Sind die Herren unterwegs hierher?«

»Ja, sie werden jeden Augenblick eintreffen. Dieser Inspektor Mactavish scheint mir ganz in Ordnung zu sein.« Jocks Lächeln verschwand. »Wenn er mich nicht gerade verdächtigt, das Blutbad angerichtet zu haben. Er hat mich gezwungen zuzusehen, als sie das kleine Mädchen aus dem Brunnen gezogen haben. Ich glaube, er wollte meine Reaktion beobachten.«

MacDuff fluchte leise vor sich hin. »Ich hab dir ja gleich gesagt, du sollst nicht da oben bleiben, bis die Polizei eintrifft.«

»Mark war mein Freund.« Jock schwieg eine Weile. »Wann nehmen wir die Verfolgung von Devlin auf?«

»Bald. Ich muss hier erst klar Schiff machen.« Dann fügte er grimmig hinzu: »Und Scotland Yard davon überzeugen, dass du keinen Rückfall erlitten hast.«

»Sophie wird nicht auf Sie warten«, sagte Jock. »Es sei denn, Sie überreden Royd zu vermitteln. Ihn akzeptiert sie inzwischen.«

»Dann rede ich eben mit Royd.« Er stand auf. »Ich werde diesen Inspektor im Hof empfangen. Ich brauche ein bisschen frische Luft.« Er runzelte die Stirn. »Und du lässt dich auch nicht blicken. Ich möchte nicht, dass er mehr als unbedingt nötig mit dir in Kontakt kommt.«

»Aus den Augen, aus dem Sinn?«

»Wie auch immer.« Er ging zur Tür. »Ich will einfach nicht, dass du ihm über den Weg läufst.«

»Dann werde ich folgsam sein und mich zusammen mit den anderen vor dem Arm des Gesetzes verstecken. Sonst noch Wünsche?«

»Folgsam? Du weißt doch nicht mal, wie man das schreibt.« Er blieb an der Tür stehen. »Ja, es gibt noch etwas, was du für mich tun kannst.«

»Ich stehe Ihnen zu Diensten.«

»Ruf Jane MacGuire an, finde raus, wo sie sich aufhält, und frage sie, ob es ihr recht ist, wenn ich sie heute Nachmittag anrufe.«

»Warum machen Sie das nicht selbst?«

»Es kann nicht schaden, wenn du den Weg ein bisschen ebnest. Sie hat dich immer gemocht und empfindet dich nicht als Bedrohung.«

»Stimmt, sie hat mich nicht mal als Bedrohung empfunden, als ich es durchaus hätte sein können. Unglaublich.« Er legte den Kopf schief. »Und Sie glauben, sie empfindet Sie als Bedrohung?«

»Möglich. Ruf sie einfach an.«

 

Michael war nicht in seinem Zimmer.

Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Sie hatte ihm doch gesagt, dass er auf sie warten soll.

»Es geht ihm gut.«

Als sie sich umdrehte, sah sie Royd in der Tür stehen. »Michael wartet in meinem Zimmer auf Sie. Ich bin hergekommen, um nach ihm zu sehen, und ich dachte, Sie hätten nichts dagegen, wenn ich ihm Gesellschaft leiste. Also habe ich ihn gebeten, mir den Verband zu wechseln. Beschäftigung lenkt ab.«

»Ja, das stimmt. Danke.« Sie musterte sein Gesicht. »Sie sind ein bisschen blass, aber Sie sehen schon besser aus. Haben Sie gut geschlafen?«

»Gut genug. Wir könnten doch nach unten gehen und uns was zu essen besorgen.«

»Noch nicht. MacDuff bekommt gerade Besuch von einem Inspektor von Scotland Yard, und er möchte, dass wir uns nicht blicken lassen, solange der Mann hier ist.«

»Da wir auch nicht wild darauf sind, dem Inspektor über den Weg zu laufen, werden wir seinem Wunsch entsprechen, oder? Haben Sie schon mit MacDuff geredet?«

Sie nickte. »Sie hatten recht. Er will Devlin in die Finger bekommen, und er braucht uns, um ihn zu finden. Das heißt, er will uns benutzen, um ihn zu finden. Und er fürchtet, dass Michael während seiner Abwesenheit hier nicht mehr in Sicherheit ist. Er arbeitet gerade an einem neuen Plan.«

»Und das bringt sie auf die Palme? Warum?«

»Ich habe nichts dagegen, dass jemand versucht, für Michaels Sicherheit zu sorgen. Aber es regt mich wirklich auf, dass MacDuff sich nicht darum schert, wie ich mir das vorstelle.«

»Er wird seine Haltung schon noch ändern.« Er grinste. »Bei mir haben Sie ja auch dafür gesorgt, dass ich meine Haltung ändere.«

»Es bleibt aber nicht mehr viel Zeit. Ich hatte gehofft, MacDuffs Hilfe ein bisschen länger in Anspruch nehmen zu können.« Sie seufzte. »Glauben Sie, Devlins eigentlicher Auftrag bestand darin, Michael zu töten, oder sollte es eine Falle für mich sein?«

»Entweder das eine oder das andere oder beides.«

»Wie zum Teufel soll ich dann –«

»Es gibt neue Informationen. Kelly hat mich heute Morgen angerufen.«

Sie erstarrte. »Und?«

»Ich hab ihm gesagt, er soll das Schiff im Auge behalten. Es ist gestern Abend ausgelaufen.«

»Was? Sie hatten doch gesagt, die hätten die Produktionsstätte noch gar nicht komplett leer geräumt.«

»Offenbar haben sie alles eingepackt, was sie brauchen, und den Rest einfach zurückgelassen.«

»Verflucht, wie sollen wir dann –«

»Immer mit der Ruhe. Kelly ist an der Sache dran. Er hat eine Barkasse gemietet und den Frachter eingeholt, ehe er aus dem Kanal war. Er versucht, ihm unbemerkt zu folgen. Der Frachter hat Kurs nach Süden genommen.«

»Und Sanborne?«

Royd zuckte die Achseln. »Kelly kann nicht überall gleichzeitig sein. Aber wenn wir das Schiff nicht aus den Augen verlieren, können wir davon ausgehen, dass wir Sanborne und Boch wiedersehen, wenn sie das Schiff an seinem Bestimmungsort in Empfang nehmen.«

»Und wenn nicht?«

»Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es so weit ist. Oder ich werde das tun. Ich breche noch heute auf, um zu Kelly aufs Boot zu gehen, aber Sie brauchen nicht mitzukommen. Wenn Sie lieber bei Michael bleiben wollen, dann –«

»Hören Sie auf. Sie wissen doch genau, dass ich mitkommen werde.« Trotzdem musste sie Michael beschützen, dachte sie. »Und Sie haben mir selbst gesagt, dass Sie mich wahrscheinlich brauchen werden. Wieso bin ich plötzlich entbehrlich?«

»Niemand ist entbehrlich. Nur bin ich mein Leben lang ohne Sie zurechtgekommen. Sie hätten sich als nützlich erweisen können, aber wenn Ihre Gedanken sich nur um Ihren Sohn drehen, kann ich Sie nicht gebrauchen. Also halten Sie sich von mir fern.«

»Nicht zu fassen. Sie sind wirklich der gröbste –« Sie unterbrach sich, als sie seinen Gesichtsausdruck wahrnahm. »Mein Gott, ich habe tatsächlich den Eindruck, Sie versuchen, mich zu schützen. Wie absurd.«

»Es ist keineswegs absurd. Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich Sie schützen würde, wenn ich könnte.«

»Um mich dann bei jeder Gelegenheit einer neuen Gefahr auszusetzen.«

»Ich habe Ihnen lediglich die Gelegenheit dazu geboten. Sie haben sich aus freien Stücken der Gefahr ausgesetzt.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber inzwischen steht das nicht mehr zur Debatte. Sie müssen tun, was Sie für richtig halten.«

»Das werde ich. Also halten Sie sich bedeckt. Diese ritterliche Masche passt nicht zu Ihnen. Sie wirken viel überzeugender, wenn Sie grob und rücksichtslos sind.« Sie trat ans Fenster und schaute hinunter in den Hof. »Da unten steht ein Auto. Wahrscheinlich das von dem Inspektor. Wir können also noch nicht runter gehen.« Sie ging zum Tisch und kramte in ihrer Handtasche. »Dann werde ich die Zeit nutzen und mir mal auf meinem Laptop ansehen, was auf der CD ist, die ich in Sanbornes Fabrik kopiert habe. Würden Sie sich solange um Michael kümmern?«

»Ich will auch sehen, was da drauf ist.«

»Ich werde es Ihnen berichten. Womöglich ist es auch gar nichts Brauchbares.«

»Wenn die CD in dem Safe war, dann muss etwas Wichtiges darauf gespeichert sein.«

»Kann ich helfen?« Als sie sich umdrehten, sahen sie Jock in der Tür stehen. Er schaute von einem zum anderen. »Kann es sein, dass hier dicke Luft herrscht?«

»Ja, du kannst uns helfen«, sagte Royd. »Würdest du in mein Zimmer gehen und Michael ablenken, während wir ein bisschen recherchieren?«

»Sicher. Am besten, ich gehe gleich mit ihm zum Turnierplatz, dann wird er sich freuen. Der Inspektor ist fast fertig. MacDuff ist ein einflussreicher Mann, und selbst ein Inspektor von Scotland Yard behandelt ihn mit einem gewissen Respekt.«

»Moment«, sagte Sophie. »Warum bist du hergekommen?«

»Um die Wogen zu glätten. Allerdings nicht zwischen dir und Royd. Ich habe mit MacDuff geredet, und er hat eingesehen, dass er dir gegenüber nicht besonders taktvoll war. Er will wirklich nur das Beste für dich und Michael, Sophie. Er gibt sich alle Mühe, eine angemessene Lösung zu finden.«

»Damit er sich ruhigen Gewissens auf den Weg machen kann, um Devlin zu töten.«

Jock lächelte. »Das hoffe ich nicht«, sagte er. »Ich hoffe, das wird er mir überlassen. Was dieses Thema angeht, habe ich schon ein paar ausgezeichnete Ideen.« Er drehte sich um und ging.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, während sie ihm nachschaute. So schön wie die Morgendämmerung und so tödlich wie eine Viper. Diese Seite an Jock war ihr nicht vertraut. »Mein Gott.«

»Sie haben das kleine Mädchen in dem Brunnen nicht gesehen«, bemerkte Royd.

Sie nickte. »Es hat mich nur so … verblüfft.« Sie zog ihre Reisetasche aus dem Schrank und nahm den Laptop heraus. »Ich muss mich an die Arbeit machen. Wenn Michael so durcheinander ist, kann ich ihn nicht allzu lange allein lassen.« Sie setzte sich aufs Bett, klappte den Laptop auf und schob die CD ins Laufwerk. »Dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben.«

»Zahlen«, murmelte Royd.

»Formeln«, korrigierte sie ihn. Dann erstarrte sie. »REM-4.«

»Was?«

»Das ist nicht meine Formel, aber meine Formel wurde als Ausgangsbasis benutzt.«

»Sie wussten doch, dass sie benutzt wurde.«

»Aber nicht so.« Sie starrte wie gebannt auf den Bildschirm. »Das ist etwas anderes.«

»Inwiefern?«

»Weiß ich noch nicht.« Sie ging auf die nächste Seite. »Aber es gefällt mir ganz und gar nicht. Gehen Sie. Das wird eine Weile dauern.«

»Kann ich irgendetwas tun?«

»Gehen Sie«, wiederholte sie. Sie öffnete die nächste Seite. Nichts als komplexe Formeln. Wer die entwickelt hatte, war ein Genie.

»Wie lange werden Sie brauchen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Also gut, ich komme in ein paar Stunden wieder.«

Er sagte noch etwas, aber sie war zu vertieft in die Gleichungen, um es mitzubekommen. Allmählich schien sich ein Muster abzuzeichnen …

 

Am späten Nachmittag rief MacDuff bei Jane MacGuire an.

Beim zweiten Läuten nahm sie ab. »Was haben Sie vor, MacDuff? Es passt nicht zu Ihnen, dass Sie Jock bei mir anrufen und vorfühlen lassen.«

»Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie erreichbar sein würden. Ich muss etwas mit Ihnen besprechen.«

Sie antwortete nicht gleich. »Blödsinn. Sie wollten bloß, dass Jock ein bisschen mit mir über die alten Zeiten plaudert.«

»Das könnte ich auch«, sagte er. »Uns verbinden dieselben Erinnerungen.«

»Ich habe kein Problem mit Jock.«

»Ich habe Ihnen ja auch genug Zeit gelassen. In all den Jahren habe ich Sie nur zweimal angerufen, und ich war häufig in Versuchung, Jane.«

»Was wollen Sie, MacDuff?«

»Wie geht es der wunderbaren Eve Duncan?«

»Sparen Sie sich den Sarkasmus. Sie ist wirklich wunderbar.«

»Das war nicht sarkastisch gemeint. Ich bewundere sie wirklich. Wie geht es ihr?«

»Sie arbeitet bis zum Umfallen, wie immer. Im Moment unterrichtet sie an der medizinischen Fakultät in Washington.«

»Und Joe? Ist Joe auch in Washington?«

»Nein, er ist hier.« Sie holte tief Luft und fragte noch einmal: »Was wollen Sie, MacDuff?«

»Ich möchte Sie um einen winzigen Gefallen bitten. Um ein bisschen von Ihrer Zeit.«

»Ich bin sehr beschäftigt. In einem Monat habe ich eine Ausstellung.«

»Aber für einen Verwandten hat man doch immer Zeit.«

»Wir sind nicht verwandt.«

»Darüber wollen wir uns nicht streiten. Verwandt oder nicht, ich weiß, dass Sie ein großes Herz haben, und Sie wollen bestimmt nicht, dass einem unschuldigen Kind etwas zustößt.«

»MacDuff!«

»Ich brauche Sie, Jane. Werden Sie mich anhören?«

»Ich lasse mich nicht von Ihnen benutzen.«

»Es geht um ein Kind, Jane.«

Schweigen. »Sie verdammter Mistkerl.« Sie seufzte resigniert. »Also gut, schießen Sie los.«

 

Sophies Hände waren nass geschwitzt. Tief Luft holen. Sie ging die Formeln zum dritten Mal durch, um sich zu vergewissern, dass sie richtig lag. Entgegen aller Vernunft hatte sie gehofft, dass sie sich irrte. Doch sie irrte sich nicht. Ein paar knappe Zeilen am Ende der Datei drückten es unmissverständlich aus, aber sie hatte es nicht glauben wollen.

Sie nahm die CD aus dem Laptop und legte sie zurück in die Hülle. Inzwischen war es ziemlich dunkel im Zimmer. Die Sonne würde gleich untergehen.

Sie musste es Royd sagen. Im Lauf des Tages war er dreimal gekommen, aber sie hatte ihm keine Beachtung geschenkt. Doch jetzt musste sie diesen Alptraum mit jemandem teilen.

Sie ging ins Bad und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Schon besser.

»Brauchen Sie ein Handtuch?« Royd stand in der offenen Tür und hielt ihr ein Handtuch hin.

»Danke.« Sie trocknete sich das Gesicht ab.

Als sie aus dem Bad kam, reichte er ihr eine Tasse dampfenden Kaffee. »Die Kanne, die ich Ihnen gebracht habe, haben Sie ja kalt werden lassen. Ich dachte, Sie könnten jetzt eine Tasse heißen Kaffee gebrauchen.«

»Ja.« Der Kaffee tat gut. »Wo ist Michael?«

»Jock und ich haben uns mit dem Babysitten abgewechselt. Die beiden sind jetzt auf dem Turnierplatz.«

»Ich muss zu ihm und ihm erklären, warum ich den ganzen Tag keine Zeit für ihn hatte.«

»Das können Sie tun, nachdem Sie mir einiges erklärt haben«, entgegnete Royd. »Und als Erstes möchte ich wissen, warum Sie so blass sind und zittern, als hätten Sie Malaria.«

»Ich zittere nicht.« Doch, sie zitterte tatsächlich. In diesem Zustand konnte sie unmöglich zu Michael gehen. Außerdem musste sie dringend mit Royd reden. »Ich bin total aufgebracht.« Sie ließ sich aufs Bett fallen. »Ich hab die Daten dreimal überprüft, Royd. Es ist wahr.«

»Was ist wahr?«

»Sanborne ist nach Garwood noch einen Schritt weitergegangen. Er hat einen Chemiker angestellt, um die Wirkung von REM-4 noch zu steigern.«

»Er hat sie verstärkt?«

»REM-4 konnte nur in geringen Mengen hergestellt werden. Das war eins der Probleme, an denen ich damals gearbeitet habe. Es wäre viel zu teuer gewesen, das Mittel als Massenprodukt herzustellen.«

»Und Sanbornes Chemiker hat das Problem gelöst?«

»Er hat die Wirkung extrem erhöht, so dass man das Mittel in Wasser auflösen kann, ohne dass es seine Eigenschaften einbüßt.«

»Wasser?« Er schaute sie durchdringend an. »In einem Glas Wasser?«

Sie hob die Schultern. »Oder in einem Fass. Erinnern Sie sich, wie der Lastwagenfahrer gesagt hat, die Fässer würden auf das Schiff gebracht?«

Er nickte.

»Am Ende der Datei steht ein kurzer Text, es sind nur ein paar Zeilen. Obwohl es ernste Probleme gab, haben die ersten Tests offenbar zu vielversprechenden Ergebnissen geführt. Gorshank versichert Sanborne in der Fußnote, dass das Experiment auf der Insel sich als voller Erfolg erweisen wird.«

»Insel? Wir suchen also nach einer Insel.«

»Wahrscheinlich.«

»Hat dieser Gorshank auch einen Vornamen?«

Sie schüttelte erneut den Kopf. »Er muss einer von Sanbornes Chemikern sein, aber ich habe noch nie von ihm gehört.«

»Und das Experiment?«

»Wozu sollte Sanborne all diese Fässer mit REM-4 brauchen?« Sie leckte sich die Lippen. »Es geht nicht um ein kontrolliertes, eingegrenztes Experiment.«

»Sondern? Was vermuten Sie?«

»Sanborne wird den Inhalt der Fässer auf der Insel in irgendein Wasserreservoir einleiten und dann abwarten, was passiert.«

Royd nickte. »Klingt plausibel.«

»Wie können Sie so gelassen bleiben? Er will sehen, ob er eine komplette Inselbevölkerung in Zombies verwandeln kann.«

»Und dann verkauft er die Formel an den Meistbietenden, damit der das Zeug in unsere Wasserversorgung einspeisen kann«, sagte Royd. »Ziemlich gruselig.«

»So weit habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Sophie. »Die Vorstellung von dem Experiment auf der Insel ist schon schlimm genug.« Aber unterschwellig war der Gedanke da gewesen, wurde ihr bewusst. »Das Mittel ist noch nicht ausgereift. Es könnte Menschen töten.«

»Oder sie so fügsam machen, dass sie einer Bande von Terroristen keinen Widerstand entgegensetzen würden.«

»Wir müssen das verhindern.«

»Ja.« Royd ging zur Tür. »Und wir haben jetzt einen Ansatzpunkt. Gorshank. An Boch und Sanborne ranzukommen wird nicht so einfach sein, aber vielleicht kriegen wir Gorshank.«

»Wenn wir wüssten, wer er ist.« Sie folgte ihm in den Flur. »Sie haben doch Kontakte. Können Sie nicht feststellen, wer der Mann ist?«

»Ich kann’s versuchen. Aber wir müssen schnell handeln. Und wir brauchen Unterstützung.« Er schaute sie an. »Ich werde mit MacDuff verhandeln. Es ist mir egal, ob Sie immer noch sauer auf ihn sind oder nicht. Ich habe mit Jock gesprochen, und er sagt, MacDuff kann Quellen anzapfen, zu denen ich keinen Zugang habe. Er hat Kontakte nach überallhin, von der britischen Regierung bis zur amerikanischen Polizei.«

»Ich habe ja nichts dagegen.« Sie seufzte. »Auch wenn ich nicht glaube, dass die Polizei auf irgendjemanden hören wird, der sich auf mich beruft. MacDuff kann tun, was er will, Hauptsache, er legt Sanborne das Handwerk. Nur was Michael angeht, könnte es sein, dass wir uns nicht einig sind.«

»Das ist eine Sache zwischen Ihnen und ihm.« Er ging die Treppe hinunter. »Da mische ich mich nicht ein.«

»Vielen Dank auch«, rief sie ihm nach. »Sehr liebenswürdig.«

Er drehte sich noch einmal um. »Das erwarten Sie doch von mir, oder?«, sagte er schroff. »Sie wollen nicht, dass ich mich einmische und Ihnen in die Quere komme. Sie machen große Worte darüber, dass man Hilfe einfach dankend annehmen soll, aber in der Hinsicht sind Sie auch nicht besser als ich. Sie sind schon so oft in Ihrem Leben verletzt worden, dass Sie fürchten, ich würde es auch tun. Okay, es kann sein, dass ich Sie mal verletze, aber niemals mit Absicht. Und ich werde jeden töten, der versucht, Ihnen etwas anzutun. Ja, verdammt, ich würde für Sie töten, ob es Ihnen gefällt oder nicht.«

Sie starrte ihn an, entgeistert über den plötzlichen Ausbruch.

»War Ihnen das zu grob?« Er drehte sich um und ging weiter die Treppe hinunter. »Pech für Sie. Das musste mal gesagt werden. Ihnen gegenüber bin ich viel zu diplomatisch, und das hat mir auf der Seele gelegen.«

»Diplomatisch? Sie?«

»Ja, verdammt.« Er funkelte sie wütend an. »Und wenn Sie vorhaben, mit mir zu MacDuff zu gehen, dann sollten Sie Ihren Arsch in Bewegung setzen.« Er ging auf die Tür zur Bibliothek zu.

Langsam stieg sie die Treppe hinunter. Gott, war der Mann ein Kotzbrocken. Eigentlich müsste sie sauer auf ihn sein. Er war verdammt grob gewesen und hatte sogar mit Gewalt gedroht.

Aber nicht ihr. Himmel, er hatte gesagt, er würde für sie töten.

Und er hatte es ernst gemeint.

»Los, Beeilung«, zischte er.

Instinktiv ging sie schneller. Er hatte recht. Sie musste MacDuff über die Situation aufklären und in Erfahrung bringen, ob er ihnen helfen konnte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um das Rätsel namens Matt Royd zu entschlüsseln.

 

»Gorshank«, wiederholte MacDuff. »Keine Initialen? Kein Vorname?«

»Nur der Nachname«, sagte Sophie. »Ich habe heute Nachmittag im Internet nach einem Gorshank gesucht. Ich habe es bei verschiedenen Universitäten und wissenschaftlichen Instituten versucht. Nichts.«

»Kann es sein, dass er kein Amerikaner ist?«

Sie nickte. »Gut möglich. Aber ich habe es auch bei internationalen Organisationen versucht, mit demselben Ergebnis.«

»Eine Menge osteuropäischer Wissenschaftler haben in der Sowjetunion an ziemlich hässlichen Projekten gearbeitet, und die wurden nicht gerade dazu angehalten, ihre Namen oder ihre Arbeit bekanntzumachen«, bemerkte Royd. »Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks haben die sich in alle Winde verstreut.«

»Falls er zu diesen Leuten gehört, dann ist er auch irgendwo registriert«, sagte MacDuff. »Wahrscheinlich beim Außenministerium oder bei der CIA. Ich kenne da ein paar Leute. Mal sehen, was ich tun kann.«

»Wie lange wird das dauern?«

Er zuckte die Achseln. »Ich wünschte, ich könnte es Ihnen sagen. Und selbst wenn die seinen Namen haben, heißt das noch lange nicht, dass sie wissen, wo er steckt. Womöglich ist er bereits auf dieser Insel.«

»Wir können nur hoffen, dass Sanborne vorhat, vor ihm dort einzutreffen«, sagte Sophie. »Sanborne und Boch hüten die REM-4-Formel wie ein Staatsgeheimnis, und sie werden nicht riskieren wollen, dass einer ihrer potentiellen Kunden den Chemiker, der die Formel kennt, für sich arbeiten lässt.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr«, sagte MacDuff. »Ich werde mich sofort darum kümmern. Ich will nicht –«

Royds Handy klingelte. »Entschuldigen Sie mich.« Er nahm das Gespräch entgegen. »Royd.« Er lauschte. »Verflucht. Nein, ich weiß, dass es nicht Ihre Schuld ist. Kehren Sie zurück und rufen Sie mich an, sobald Sie den Hafen erreicht haben.« Er schaltete das Handy ab. »Das war Kelly. Er hat die Constanza verloren.«

»Nein«, flüsterte Sophie.

»Er ist in einen Sturm geraten und kann froh sein, dass er mit dem Leben davongekommen ist. Auf jeden Fall war es ihm unmöglich, an der Constanza dranzubleiben. Als der Sturm sich gelegt hatte, war das Schiff verschwunden.«

Sophie sackte in sich zusammen. »Kann er es nicht wieder aufspüren?«

»Wenn er eine hochmoderne Radaranlage hätte, vielleicht. Aber als er die Barkasse gemietet hat, musste er schnell handeln, er hatte keine Zeit, sich mit Details aufzuhalten, sonst wäre die Constanza gleich weg gewesen.« Er wandte sich an MacDuff. »Also hängen Sie sich ans Telefon und versuchen Sie, eine neue Spur für uns zu finden.« Er stand auf. »Ich mache mich auf die Socken. Ich will auf keinen Fall auf der falschen Seite des Atlantik sein, wenn Sie mich anrufen und mir sagen, wo ich Gorshank oder diese Insel finde.« Er stürmte aus der Bibliothek.

»Sie würden ihn am liebsten begleiten.« MacDuff musterte Sophies Gesicht.

»Ich muss ihn begleiten.« Sophies Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich habe diesen Schlamassel verursacht, also muss ich ihn auch beseitigen.«

MacDuff nickte langsam. »Machen Sie sich Sorgen wegen Michael?«

»Ja, natürlich. Ich werde ihn nicht hierlassen, wenn Sie und Jock nicht im Schloss bleiben. Oder haben Sie es sich anders überlegt?«

»Nein, ich werde aufbrechen, sobald ich meine Telefonate erledigt habe.« Er lehnte sich zurück. »Aber ich habe vielleicht eine Lösung.«

»Eine Lösung?«

»Ich habe eine gute Freundin, die bereits hierher unterwegs ist. Sie müsste innerhalb weniger Stunden eintreffen.«

»Wer ist sie?«

»Jane MacGuire. Sie bringt ihren Adoptivvater mit, und die beiden werden so lange wie nötig hierbleiben.«

»Und warum sollte ich dieser Frau vertrauen?«

»Weil ich es tue.« MacDuff lächelte. »Und weil ihr Vater ein Detective bei der Polizei in Atlanta ist und einer der gewieftesten und hartgesottensten Männer, die Sie sich vorstellen können.«

»Ein Polizist? Sind Sie verrückt? Die werden Michael sofort mitnehmen. Die halten mich doch für eine durchgeknallte Mörderin.«

»Ich habe Joe Quinn die Situation erklärt. Er ist ein kluger Kopf und weiß, dass nicht immer alles so ist, wie es den Anschein hat. Außerdem vertraut er Jane. Wenn er sich bereit erklärt zu helfen, wird er zu seinem Wort stehen. Ich werde Campbell und einige weitere Männer hierlassen. Sie alle werden Quinns Anweisungen befolgen. Es wird keine Probleme geben.«

Sie war sich immer noch nicht ganz sicher. Ein Polizist, dem MacDuff vertraute. Vielleicht war es ja wirklich das Beste für Michael. »Ich weiß nicht …«

»Jane MacGuire ist eine starke und kluge Frau, und sie hat ein großes Herz«, fuhr MacDuff fort. »Sie erinnern mich ein bisschen an sie. Deswegen bin ich auf sie gekommen. Sie hat als Kind bei mehreren Pflegefamilien gelebt, bis sie adoptiert wurde, sie weiß also, was es bedeutet, allein und verletzt zu sein. Und sie weiß sich zu wehren. Michael wird sie mögen. Außerdem kann ich mir niemanden vorstellen, der mit seinen psychischen Problemen besser umzugehen wüsste als Jane.« Er lächelte. »Allerdings weiß ich nicht, ob sie Fußball spielt. Das ist der einzige Punkt, der womöglich gegen sie spricht.«

»Sind Sie wirklich davon überzeugt, dass Michael –«

»Er wird in Sicherheit sein«, sagte MacDuff. »Das verspreche ich Ihnen. Dafür wird Jane sorgen. Es ist bestimmt das Beste für ihn. Sie können sich beruhigt auf den Weg machen. Ich meine es ernst.«

Sie glaubte ihm. »Ich möchte mit Jane und ihrem Vater sprechen.«

»Dann müssen Sie sich mit einem Telefongespräch begnügen«, sagte MacDuff. »Ich glaube nicht, dass Royd bereit ist zu warten.«

»Er wird warten«, entgegnete sie grimmig. »Und wenn ich ihn fesseln und knebeln muss. Ich muss mit Michael reden und dann mit Jane MacGuire telefonieren. Vielleicht möchte ich auch mit Joe Quinn sprechen. Aber ich lasse Royd nicht ohne mich abreisen.«

»Sie haben ein Problem. Ich glaube, Royd sucht nach einem Vorwand, um Sie auszubooten.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

Er zuckte die Achseln. »Intuition? Ich schätze, dass Royd sich in einer merkwürdigen Lage sieht, sozusagen zwischen Baum und Borke. Für einen Mann, der so unbeirrbar ist, wie er es zu sein scheint, muss das äußerst verstörend sein. Einerseits will er Sie nicht in Gefahr bringen, andererseits weiß er, dass Sie ihm helfen könnten, Sanborne dingfest zu machen.«

»Glauben Sie mir, Royd ist viel zu abgebrüht, um sich von Gefühlen beirren zu lassen.«

Ich würde für Sie töten.

»Ihnen ist da gerade was eingefallen.« MacDuff musterte ihr Gesicht. »Ich sage ja nicht, dass Royd gefühlsduselig ist. Aber ich vermute, dass er im Moment auf Impulse reagiert, die nichts mit seinen Racheplänen zu tun haben, und das könnte ihn unberechenbar machen.«

»Er ist unberechenbar, seit ich ihn kenne.« Sie ging zur Tür. »Würden Sie für mich ein Telefongespräch mit Jane MacGuire arrangieren? Ich bin in einer Stunde wieder zurück.«

Er nickte. »Ich werde es versuchen. Sie sitzt gerade in einem Flugzeug über dem Atlantik. Es könnte eine Weile dauern.«

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Sie hat sich auf den Weg gemacht, ohne sich mit mir in Verbindung zu setzen? Sie muss Ihnen ja sehr nahestehen.«

MacDuff lächelte. »Man könnte sagen, wir sind seelenverwandt. Aber sie kommt nicht meinetwegen. Als ich ihr von Ihrem Sohn erzählt habe, konnte sie nicht widerstehen.« Er nahm sein Telefon. »Am besten, Sie machen sich jetzt auf die Suche nach Royd, während ich versuche, Jane zu erreichen. Sie haben mir ja nicht viel Zeit gegeben.«

Sophie verließ eilends die Bibliothek und durchquerte die Diele. Royd hatte ihr gesagt, dass Michael mit Jock auf dem Turnierplatz war, aber als Allererstes musste sie mit Royd reden. Sie hatte MacDuff gegenüber behauptet, er sei immer unberechenbar gewesen, aber etwas hatte sich geändert, das spürte sie noch deutlicher als MacDuff.

Es kam gar nicht in Frage, ihn allein abziehen zu lassen, bloß weil er auf einmal Skrupel hatte, sie der Gefahr auszusetzen.

Sie stürmte die Treppe hoch. Sie würde zuerst in seinem Zimmer nachsehen. Dann würde sie sich vergewissern, dass er nicht im Stall war, wo sie den Mietwagen untergestellt hatten.

Er saß auf dem Bett und telefonierte, seine offene Reisetasche neben sich. Als sie das Zimmer betrat, beendete er das Gespräch. »Sind Sie gekommen, um sich zu verabschieden?«

»Nein, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich Sie begleiten werde. MacDuff hat jemanden gefunden, der in seiner Abwesenheit auf Michael aufpasst.«

»Tatsächlich?« Royd stand auf und schloss den Reißverschluss an seiner Reisetasche. »Sind Sie sich da auch ganz sicher?«

»Ja, und stellen Sie Ihre Versuche ein, mich zu verunsichern.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Sie zu begleiten ist das einzig Richtige.«

»Sagen Sie mir das, wenn Sie tausend Meilen weit weg sind von Ihrem Sohn.«

»Sie verdammter Mistkerl.« Ihre Stimme zitterte. »Anfangs hatten Sie kein Problem damit, mich zu benutzen. Was zum Teufel ist auf einmal anders?«

Ihre Blicke begegneten sich. »Was sich geändert hat, ist die Art und Weise, wie ich Sie benutzen will.«

Ihr blieb die Luft weg. Sie spürte, wie ihr ganz heiß wurde.

»Tun Sie nicht so, als hätten Sie das nicht gewusst«, sagte er heiser. »Damit war doch zu rechnen. Ich bin kein Mann, der seine Gefühle verbirgt.«

Sie befeuchtete ihre Lippen. »Aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass Sex uns bei unserem gemeinsamen Ziel in die Quere kommen könnte.«

»Ich auch nicht. Deswegen geht es vielleicht auch nicht um Sex.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ah, das hat gesessen. Falls es nur Sex ist, dann ist es auf jeden Fall stark genug, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, und wenn es so stark ist, dann werden Sie es schwer haben mit mir. Ich bin nicht so ausgeglichen und zivilisiert wie Ihr Exmann. Also überlegen Sie es sich sehr gut, ehe Sie mich irgendwohin begleiten.«

»Versuchen Sie etwa, mir Angst vor Ihnen zu machen?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie werden mich schon nicht vergewaltigen.«

»Nein, aber ich werde nichts unversucht lassen.«

»Ich komme mit Ihnen.«

»Meinetwegen. Gut. Warum sollte ich etwas dagegen haben? Ich will Sie nur nach Strich und Faden durchvögeln, ehe Sie draufgehen.« Er nahm seine Reisetasche. »Ich habe ein Flugzeug bestellt. In einer halben Stunde breche ich auf.«

»Sie werden sich noch etwas gedulden müssen. Ich muss noch mit Michael sprechen. Ist er immer noch mit Jock auf dem Turnierplatz?«

»Soweit ich weiß.«

»Sobald ich fertig bin, komme ich zum Wagen.«

»Ich muss mit Jock reden. Schicken Sie ihn in den Hof.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer.

Sie holte tief Luft. Gott, sie zitterte am ganzen Leib. Und ihr war immer noch ganz heiß. Wie seltsam. Sie war voller Angst und Sorge um Michael gewesen, und plötzlich war sie nur noch erregt.

Aber bloß weil Royd so eine starke Anziehungskraft auf sie ausübte, war sie noch lange keine brünstige Stute, die sich mit ihm paaren musste.

Schluss damit, ermahnte sie sich. Sie musste einen klaren Kopf bewahren.

Sie würde zu Michael gehen und ihm zu erklären versuchen, warum seine Mutter ihn schon wieder verließ, und das, nachdem er gerade erfahren hatte, dass sein Vater ermordet worden war.

Wie zum Teufel sollte sie ihm das begreiflich machen?