3
»ICH HABE IN den letzten zwei Tagen zweimal mit MacDuff telefoniert«, sagte Jock, als Sophie sich am Telefon meldete. »Er will, dass ich nach Hause komme.«
Sophie versuchte, die aufwallende Enttäuschung zu unterdrücken. Schließlich war es doch genau das, was sie wollte. »Dann flieg. Ich brauche dich nicht. Als du in den letzten Tagen nicht mehr hergekommen bist, hatte ich schon gehofft, du hättest auf mich gehört.«
»Versuch nicht dauernd, mich loszuwerden. Ich habe MacDuff gesagt, ich komme, sobald ich eine Lösung für die Situation hier gefunden habe. Aber so weit bin ich noch nicht. Und du benimmst dich ziemlich dickköpfig. Wie geht’s Michael?«
»Er hatte letzte Nacht einen Anfall, aber ich konnte ihn sehr schnell wecken.«
»Verdammt. Es wird überhaupt nicht besser. Sag ihm, ich komme morgen und gehe mit ihm in den neuen Science-Fiction-Film, den er so gern sehen wollte. Oder, wenn er will, können wir auch ins Chuck E. Cheese’s gehen.«
»Jock, ich gehe mit ihm ins Kino. Er braucht keinen großen Bruder. Fahr nach Hause.« Sie holte tief Luft. »Sein Vater hat sich nach dir erkundigt.«
»Gut so. Ein bisschen Eifersucht um die Zuneigung des Jungen bringt ihn vielleicht zur Besinnung. Bei der Wahl deines Ehemanns hast du wirklich keinen besonders guten Geschmack bewiesen. Ein Wunder, dass Michael so ein netter Junge ist.«
»Dave hat viele gute Eigenschaften.«
»Aber mir ist aufgefallen, dass er sich mehr für das große Geld interessiert als für seinen Sohn.«
»Sicher, Dave legt großen Wert auf Geld, aber Michael ist ihm auch wichtig.«
»Lass uns nicht darüber streiten.« Jock wechselte das Thema. »Ich war bei Sanbornes Fabrik. Die sind dabei, alles, was nicht niet- und nagelfest ist, in Umzugswagen zu verstauen. Vielleicht hast du Sanborne ein bisschen nervös gemacht. Nervöse Menschen sind unberechenbar. Wir müssen reden. Lad mich auf eine Tasse Tee ein, wenn ich Michael nach Hause bringe.«
»Den Teufel werd ich tun.«
»Wenn ich’s mir recht überlege, komme ich lieber gleich rüber. Ich muss dich noch ein bisschen bearbeiten. Du wirst von Tag zu Tag sturer.«
»Ich werde dich nicht reinlassen. Flieg zurück nach Schottland.«
Sie hörte ihn leise lachen, ehe er auflegte.
Kopfschüttelnd stand sie auf. Ihre Erleichterung war völlig unangebracht. Es war Jock gegenüber nicht fair, ihn in ihrer Nähe zu behalten, also würde sie es auch nicht tun. Stattdessen würde sie MacDuff anrufen und ihn bitten, Jock noch mehr unter Druck zu setzen. Auf sie hörte der Kerl ja nicht.
Morgen.
Es war schon spät, und sie hatte um acht Uhr früh eine Besprechung.
Sie ging noch einmal ins Kinderzimmer, um nach Michael zu sehen.
Bitte, schlaf tief und gut, mein Schatz. Jede durchschlafene Nacht ist ein Geschenk.
Sachte schloss sie die Tür, dann ging sie in die Küche und programmierte die Kaffeemaschine für den nächsten Morgen. Neuerdings konnte sie nur noch mit Hilfe von starkem Kaffee durchhalten.
Als sie das Licht im Schlafzimmer einschalten wollte, legte sich ihr ein Arm um den Hals.
»Wenn du schreist, brech ich dir das Genick, du Miststück.«
O Gott.
Sie schrie nicht. Sie rammte ihrem Angreifer einen Ellbogen in die Magengrube und trat ihn gleichzeitig mit aller Wucht vors Schienbein.
Er stöhnte auf, und sein Griff lockerte sich.
Sie riss sich los und stürzte zu ihrem Nachttisch, um die Pistole zu holen, die Jock ihr gegeben hatte.
Auf halbem Weg erwischte er sie und riss sie zu Boden, setzte sich rittlings auf sie und legte ihr die Hände um den Hals.
Schmerz.
Sie bekam keine Luft.
Verzweifelt versuchte sie, seine Finger von ihrem Hals zu lösen.
Gott, sie durfte jetzt nicht sterben.
Michael …
Sie spuckte dem Mann ins Gesicht.
»Du Miststück!« Er schlug ihr ins Gesicht.
Sie drehte den Kopf und biss ihn in die Hand.
Sie schmeckte Blut, während er vor Wut und Schmerzen aufschrie.
Es gelang ihr, sich unter ihrem Angreifer wegzudrehen, doch ehe sie sich aufrichten konnte, packte er sie an den Haaren.
Etwas Metallisches blitzte in seiner Hand auf.
Ein Messer.
Tod.
Nein!
Sie sah sein verzerrtes Gesicht, als sie versuchte, sich zu befreien. Hässlich. So hässlich.
»Angst?«, keuchte er. »Recht so. Sie hätten es sich leichter gemacht, wenn Sie –« Seine Augen weiteten sich, sein Oberkörper bog sich nach hinten. »Was –«
Dann sah sie die Dolchspitze aus seiner Brust ragen.
Seine Augen wurden glasig, dann sackte er langsam nach vorn. Doch er wurde von dem Mann, der hinter ihm stand, zur Seite geschoben. Jock?, fragte sie sich benommen.
»Hat er Sie mit dem Messer verletzt?«
Nein, das war nicht Jock, schoss es ihr durch den Kopf. Groß, muskulös, kurze, dunkle Haare. Sein Ton war ebenso ausdruckslos wie sein breites Gesicht.
»Hat er Sie mit dem Messer verletzt?«, wiederholte der Mann. »Sie sind voller Blut.«
Sie betrachtete ihre blutgetränkte Bluse. »Nein, das muss sein Blut sein.«
Der Fremde warf einen Blick auf den Toten. »Wahrscheinlich. Wer ist das?«
Sophie zwang sich, das Gesicht des Angreifers zu betrachten. Schütteres braunes Haar, graue Augen, die ihr aus dem schmalen Gesicht leblos entgegenstarrten. »Das weiß ich nicht«, flüsterte sie. »Ich habe diesen Mann noch nie gesehen.«
»Ach, der Kerl ist also ganz zufällig hier vorbeigekommen, um Ihnen die Kehle aufzuschlitzen?«, fragte der Fremde sarkastisch.
Sophie zitterte. Sie fühlte sich schwach und verletzlich, und sie war stinkwütend. »Wer zum Teufel sind Sie überhaupt?«
»Matt Royd. Der Name dürfte Ihnen bekannt vorkommen.«
»Nein.«
Er zuckte die Achseln. »Na ja, es waren einfach zu viele, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Das Zimmer Ihres Sohnes liegt am Ende des Flurs, stimmt’s?« Der Mann ging zur Tür.
Sie sprang auf. »Woher wissen Sie das? Wagen Sie sich nicht in seine Nähe.«
»Ich hab Ihr Haus beobachtet und gesehen, wie Ihr Freund das Fenster aufgebrochen hat. Aber wer auch immer sauer auf Sie ist, könnte –«
»Ich habe eben erst nach Michael gesehen.« Aber jemand konnte in sein Zimmer gelangt sein, während sie mit ihrem Angreifer gerungen hatte, dachte sie voller Angst. Sie schob sich an Royd vorbei, rannte den Flur hinunter und riss die Tür zu Michaels Zimmer auf. Im Halbdunkel sah sie ihn im Bett liegen.
Vielleicht.
Sie musste sich vergewissern. Leise schlich sie sich näher. Er atmete tief und gleichmäßig. Oder doch nicht ganz so tief. Schläfrig öffnete er die Augen. »Mom? Stimmt was nicht?«
»Hallo«, flüsterte sie. »Nein, alles in Ordnung. Ich wollte nur mal nach dir sehen. Schlaf weiter.«
»Okay …« Die Augen fielen ihm zu. »Hast du was gekocht? Du hast Ketchup auf der Bluse.«
Gott, sie hatte das Blut ganz vergessen. »Spaghetti mit Tomatensoße für morgen Abend. Ich hab mich ein bisschen bekleckert. Gute Nacht, Michael.«
»Nacht, Mom …«
Sie verließ das Zimmer.
Royd stand im Flur. »Es scheint ihm gutzugehen.«
Sie nickte, während sie die Tür schloss. »Wie sind Sie ins Haus gelangt?«
»Durch die Hintertür.«
»Die war abgeschlossen.«
»Ein ziemlich gutes Schloss. Ich hab ein paar Minuten gebraucht, um es zu knacken.«
»Sind Sie ein Dieb?«
Verächtlich zog er die Mundwinkel nach unten. »Nur wenn man mir befiehlt zu stehlen. Ich habe von allem ein bisschen und viel von dem getan, was der Mann, der Ihnen die Kehle aufschlitzen wollte, als seine Tätigkeit betrachtet hat. Das war eine ziemlich leichte Übung für mich. Ich hatte schon vor REM-4 eine entsprechende Ausbildung und eine Menge Erfahrung.«
Sie erstarrte. »Was?«
»REM-4.« Er schaute sie durchdringend an. »Tun Sie bloß nicht so, als wüssten Sie nicht, wovon ich rede. Ich bin im Moment sehr reizbar, und ich könnte leicht die Beherrschung verlieren.«
»Verschwinden Sie aus meinem Haus«, sagte sie mit bebender Stimme.
»Kein Dank dafür, dass ich Ihnen das Leben gerettet habe? Wie unhöflich.« Er schnaubte verächtlich. »Mit ein bisschen Entgegenkommen könnten Sie mich vielleicht dazu bringen, die Leiche aus Ihrem Schlafzimmer verschwinden zu lassen. Mit solchen Dingen kenne ich mich sehr gut aus.«
»Wieso sollte ich nicht einfach die Polizei rufen? Der Mann ist in mein Haus eingebrochen.« Sie sah Royd in die Augen. »Ebenso wie Sie.«
»Soll das eine Drohung sein?«, fragte er leise. »Ich kann Drohungen nicht ausstehen.«
Allmählich bekam Sophie es mit der Angst zu tun. Gott, Royd jagte ihr noch mehr Angst ein als der Typ in ihrem Schlafzimmer. Sie leckte sich die Lippen. »Sie sind derjenige, der mich bedroht. Sie sind in mein Haus eingedrungen. Woher soll ich wissen, dass Sie nicht über mich hergefallen wären, wenn der andere Mann Ihnen nicht zuvorgekommen wäre?«
»Das können Sie nicht wissen. Ich könnte es immer noch tun, die Versuchung ist groß. Aber ich gebe mir Mühe, mich zu beherrschen. Wenn Sie mir geben, was ich will, haben Sie eine Chance zu überleben.«
Ihr Herz schlug so schnell, dass sie kaum atmen konnte. Sie wich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. »Raus hier.«
»Sie haben ja Angst.« Er trat auf sie zu und stützte sich über ihren Schultern an der Wand ab. »Das ist durchaus verständlich. Wäre doch eine Schande, wenn Ihr Sohn seine Mutter verlieren würde, bloß weil sie sich dumm verhalten hat.«
Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, sie fühlte sich in der Falle. Seine blauen Augen funkelten sie an. Hart und eiskalt. »Wer hat Sie geschickt?«
Er lächelte. »Na, Sie.«
»Reden Sie keinen Blödsinn.« Sie trat ihm mit dem Knie in die Hoden, tauchte unter ihm weg, als er sich vor Schmerz krümmte, und rannte zur Haustür. Nur weg hier. Hilfe holen. Keine Zeit zum Nachdenken.
Er war direkt hinter ihr, als sie die Haustür aufriss …
… und Jock in die Arme lief.
Sie versuchte, Jock zurückzuschieben. »Vorsicht, Jock. Er ist –«
»Schsch, ich weiß.« Er schaute über ihre Schulter hinweg und schob sie sanft zur Seite. »Was ist hier los, Royd?«
Royd blieb stehen und sah Jock misstrauisch an. »Das würde ich gern von dir wissen, Jock. Dich hätte ich hier nicht unbedingt erwartet. Willst du etwa behaupten, du hättest einen älteren Anspruch auf sie? Das kannst du gleich vergessen.«
Sophie riss überrascht die Augen auf. »Ihr kennt euch, Jock?«
»Könnte man so sagen. Wir waren auf derselben Schule.« Er schaute Royd an. »Du bist auf der falschen Fährte. Sie ist nicht die Person, die du suchst.«
»Von wegen«, entgegnete Royd unwirsch. »Ihr Name steht in Sanbornes Akten, und zwar sowohl in den alten als auch den aktuellen.«
»Woher weißt du das?«
»Von Nate Kelly. Er ist ein guter Mann. Der macht keine Fehler.«
»Aber er könnte Informationen, die er ausgräbt, falsch interpretieren.« Jock wandte sich an Sophie. »Geht es Michael gut?«
Sie nickte. »Aber in meinem Schlafzimmer liegt ein Toter.«
Jock drehte sich zu Royd um. »Einer von deinen Männern?«
»Ich töte nicht meine eigenen Männer«, erwiderte er sarkastisch. »Er wollte sie umbringen. Das konnte ich nicht zulassen. Ich brauche sie noch.«
»Sophie?«, fragte Jock.
»Er hat ihn getötet.«
»Wer ist der Mann, den er getötet hat?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Dann sehe ich besser mal nach.« Er nahm Sophies Arm. »Komm, lass uns reingehen. Wir wollen die Nachbarn nicht neugierig machen.«
Den Blick auf Royd geheftet, blieb Sophie stocksteif stehen.
»Er wird dir nichts tun«, sagte Jock. »Das ist ein Missverständnis.«
»Missverständnis? Er hat vor fünf Minuten einen Mann getötet.«
»Und Ihren Hals gerettet«, sagte Royd kühl.
»In Ihrem eigenen Interesse.«
»Da haben Sie vollkommen recht.«
»Royd, sie ist nicht diejenige, die du suchst«, wiederholte Jock. »Sobald sich eine Gelegenheit ergibt, werd ich’s dir erklären. Aber bis dahin halt dich gefälligst zurück.«
Royd zuckte zusammen. »Willst du mir etwa drohen?«
»Nur, wenn du nicht nachgibst. Aber wir sollten nicht so blöd sein, gegeneinander zu arbeiten. Wir stehen auf derselben Seite. Ich versuche schon seit Tagen, dich zu erreichen.« Er verzog das Gesicht. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich es mit dir aufnehmen könnte. MacDuff hat dafür gesorgt, dass ich schon seit einer ganzen Weile aus der Übung bin, während du ein Leben führst, das dich fit hält.«
»Red keinen Schwachsinn. Du warst der Beste, und du hast garantiert nichts vergessen.«
»Wir stehen auf derselben Seite«, wiederholte Jock. »Gib mir ein bisschen Zeit, dann beweise ich es dir.«
Sophie hatte den Eindruck, dass Royd Jock gegenüber nicht nachgeben wollte. Sie spürte seine Anspannung, die Gewaltbereitschaft, die unter der Oberfläche lauerte. Einen Augenblick lang dachte sie, er würde explodieren, da drehte er sich abrupt um und ging den Flur hinunter. »Sieh dir den Toten an. Falls er ein Profi war, sind ihm seine Gefühle in die Quere gekommen. Er war so wütend auf sie, dass er mich gar nicht hinter sich gehört hat.«
»Ich will diesen Royd nicht in meinem Haus haben, Jock«, fauchte Sophie. »Es ist mir egal, was euch verbindet, und ich lasse nicht zu, dass ich oder mein Sohn dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden.«
»Das können Sie vergessen.« Royd fuhr herum und funkelte sie wütend an. »Sie stecken bis zum Hals in dieser Sache drin, und alles, was ich von jetzt an tue, wird Sie in Mitleidenschaft ziehen. Beten Sie, dass Jock mich von dem überzeugen kann, was er behauptet, denn ich halte es nicht für wahrscheinlich.«
»Immer mit der Ruhe.« Jock schob Sophie ins Haus und schloss die Tür. »Geh schon mal in die Küche und setz Kaffee auf, während ich mir den Toten ansehe. Du siehst aus, als könntest du eine Tasse Kaffee gebrauchen.«
»Ich will mitgehen –« Das war eine Lüge. In Wirklichkeit wollte sie nicht noch einmal diesen Killer mit dem Messer in der Brust sehen. Und es würde sowieso nichts bringen. »Ich sehe noch mal nach Michael und warte dann in der Küche auf dich.«
Während sie zehn Minuten später die Kaffeemaschine in Gang setzte, versuchte sie, ihre Fassung wiederzugewinnen. Herrgott, sie zitterte dermaßen, dass sie keine Tasse in der Hand halten konnte, ohne den Inhalt zu verschütten. Wahrscheinlich war das die Schockreaktion. Sie würde sich gleich wieder im Griff haben, redete sie sich ein. Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich monatelang nicht unter Kontrolle gehabt. Aber mittlerweile hatte sie ihre alte Stärke wiedererlangt, und der Mann bedeutete für sie nichts weiter als eine Bedrohung.
Blut, das aus der Wunde spritzte. Sinnlos. Sinnlos. Sinnlos.
Nein, sie würde nicht die Kontrolle verlieren. Es ging ihr wieder gut.
»Sophie?« Jock kam in die Küche.
Sie öffnete die Augen und nickte. »Alles in Ordnung. Das alles hat wohl einfach ein paar schlimme Erinnerungen geweckt.«
»Was denn für Erinnerungen?«, fragte Royd, als er nach Jock die Küche betrat.
Sie schaute ihn kühl an. »Das geht Sie einen feuchten Kehricht an.«
»Geh ins Bad und zieh dich um.« Jock reichte ihr eine weiße Bluse. »Ich dachte, du möchtest jetzt sicher nicht so gern in dein Schlafzimmer gehen.«
»Danke.« Sie nahm die Bluse entgegen. Royd stand in der Küchentür, und sie gab acht, ihn beim Rausgehen nicht zu berühren. Trotzdem spürte sie seine Anspannung und seine leidenschaftliche Wut. Diesen heftigen Gefühlen wollte sie sich nicht aussetzen, solange sie sich nicht im Griff hatte. Sollte Jock sich um Royd kümmern. Sollte Jock zusehen, wie er den Kerl aus dem Haus bekam.
Sie wusch sich, zog die frische Bluse an und kämmte sich die Haare. Dann ließ sie sich noch einen Augenblick Zeit und versuchte, das Bild von dem Toten in ihrem Zimmer auszublenden. Es gelang ihr nicht. Warum versuchte sie es überhaupt? Sie musste sich mit dem, was vorgefallen war, auseinandersetzen, und sie musste mit Royd umgehen. Also Schluss mit dem Gejammere.
Als sie nach unten kam, saßen Jock und Royd am Küchentisch. Royd wirkte so entspannt wie ein Tiger, der versuchte, auf einem Barhocker zu balancieren. Tiger. Ja, diese Beschreibung passte zu ihm.
»Ich hab dir Kaffee eingeschenkt.« Jock zeigte auf den Stuhl neben sich. »Komm, setz dich. Wir müssen mit Royd reden.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Setz dich«, wiederholte Jock. »Du hast schon genug Sorgen, du musst dich jetzt nicht auch noch mit Royd anlegen.«
Zögernd setzte sie sich. »Hast du den Mann im Schlafzimmer erkannt?«
Er schüttelte den Kopf. »Und Royd kennt ihn auch nicht. Aber wir werden vielleicht bald erfahren, wer er ist. Royd hat mit seinem Handy ein Foto gemacht und es an seinen Mann bei Sanborne geschickt.«
Sie erstarrte. »Seinen Mann?«
»Er hat einen Mann unter falschem Namen in die Firma eingeschleust, um an Sanbornes geheime Unterlagen ranzukommen. Er bedient die Überwachungsbildschirme im Sicherheitszentrum des Werks.«
»Wieso?«
»Weil er was gegen Sanborne hat«, erwiderte Jock trocken. »Ich würde sagen, er hasst ihn mit derselben Inbrunst wie du.«
»Und warum?« Sie sah Jock forschend an, während sie sich an alles erinnerte, was Royd im Schlafzimmer zu ihr gesagt hatte. Zudem hatte Jock was davon gesagt, dass sie auf dieselbe Schule gegangen waren. Plötzlich wurde ihr übel. »Noch so einer wie du, Jock?«
Jock nickte. »Andere Umstände, aber so ziemlich dasselbe Ergebnis.«
»O Gott.«
»Es geht hier nicht um mich«, schaltete Royd sich ein. »Ich habe bisher noch nichts gehört, was mich davon überzeugt, dass sie nicht mit Sanborne unter einer Decke steckt, Jock.«
Jock schwieg eine Weile. »Vor zwei Jahren hat ihr Vater ihre Mutter erschossen und versucht, ihren Sohn zu töten, auf sie geschossen und sich dann selbst eine Kugel in den Kopf gejagt. Völlig grundlos. Der Angriff kam aus heiterem Himmel.«
Royds kühler Blick wanderte zu Sophie. »Eins Ihrer Experimente, das schiefgelaufen ist?«
»Nein.« Ihr drehte sich der Magen um. »O mein Gott, nein.«
»Das ist grob, Royd«, sagte Jock. »Zu grob.«
Royd sah Sophie unverwandt an. »Aber möglich. Woher wollen wir das wissen?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Ich hätte niemals – Ich habe ihn geliebt. Ich habe meine Eltern geliebt.«
»Und Sie waren natürlich für nichts verantwortlich. In Sanbornes Unterlagen über die anfänglichen Experimente mit REM-4 steht Ihr Name ganz oben, aber das hat selbstverständlich nichts zu bedeuten.«
»Das habe ich nicht gesagt.« Sie griff nach der Tasse, die vor ihr stand. »Doch, es hat etwas zu bedeuten. Es hat alles zu bedeuten.«
»Wieso? Inwiefern?«
Sie fühlte sich, als würde er auf sie einprügeln. »Ich trage die Verantwortung. Es war meine Schuld. Alles ist meine –«
»Ganz ruhig, Sophie.« Jock legte ihr eine Hand auf den Arm. »Das kann ich ihm später erklären. Du musst dir das jetzt nicht antun.«
»Du kannst mich sowieso nicht schützen.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Ich kann vor dem, was ich getan habe, nicht davonlaufen. Ich muss mich Tag für Tag damit auseinandersetzen. Jedes Mal, wenn ich Michael ansehe, weiß ich –« Sie unterbrach sich, dann hob sie den Kopf und blickte Royd an. »Und nichts, was Sie sagen, kann mich noch tiefer ins Unglück stürzen. Sie können die Wunde wieder aufreißen, aber Sie können sie nicht verschlimmern. Sie wollen wissen, was passiert ist? Ich war jung und ehrgeizig und glaubte, ich könnte die Welt verändern. Ich hatte gerade mein Medizinstudium abgeschlossen und habe die Stelle bei Sanborne Pharmaceutical angenommen, weil man mir versprochen hatte, ich könnte mich ganz der Forschung widmen, die ich neben meinem Studium betrieb. Ich hatte sowohl in Chemie als auch in Medizin promoviert und mich auf Schlafstörungen spezialisiert, weil mein Vater während meiner Kindheit an Schlaflosigkeit und nächtlichen Angstattacken gelitten hatte. Ich dachte, ich könnte nicht nur ihm, sondern auch anderen Menschen mit ähnlichen Problemen helfen.«
»Und wie?«
»Ich hatte eine Methode entwickelt, mit der man einen Patienten mit Hilfe von Medikamenten in die REM-4-Phase versetzen konnte, die psychologisch aktivste Schlafebene. In diesem Stadium war es möglich, die Patienten zu angenehmen Träumen anzuregen anstelle von Alpträumen, und sie sogar von ihrer Schlaflosigkeit zu erlösen. Sanborne war hellauf begeistert. Er hat mich dazu überredet, die Gesundheitsbehörde aus dem Spiel zu lassen und das Mittel in Amsterdam zu testen. Er wollte die Sache absolut geheim halten, bis wir uns ganz sicher sein konnten, dass das Mittel wirklich so vielversprechend war, wie wir hofften. Es hat ihn nicht viel Überredungskunst gekostet, mich auf die Überholspur zu setzen. Ich wusste, dass es immer ewig dauert, bis die Gesundheitsbehörde ein Medikament zulässt, und ich war ganz und gar von der Ungefährlichkeit des Verfahrens überzeugt. Die Tests waren erstaunlich erfolgreich verlaufen. Menschen, die ihr Leben lang unter Schlaflosigkeit und Nachtschreck gelitten hatten, waren plötzlich davon befreit. Sie wurden zufriedener und produktiver, und sie litten an keinerlei Nebenwirkungen. Ich war überglücklich.«
»Und dann?«
»Dann meinte Sanborne, wir sollten das Tempo drosseln. Er hat mir die Tests aus der Hand genommen und verlangt, dass ich ihm die Ergebnisse meiner Forschungsarbeit an der Verbesserung von REM-4 aushändige. Als ich mich geweigert habe, hat er mich kurzerhand von dem Projekt ausgeschlossen. Ich war zwar wütend und frustriert, kam aber überhaupt nicht auf die Idee, dass irgendwas Kriminelles dahinterstecken könnte.« Sie schluckte. »Sie können sich schon denken, was ich rausgefunden hab. Sie haben die durch das Medikament bewirkte Willenlosigkeit der Patienten missbraucht, um ihr Bewusstsein zu kontrollieren. Es gab eine rege Korrespondenz zwischen Sanborne und einem General Boch über die Vorteile, die eine solche Kontrolle in Kriegszeiten bedeuten würde. Ich bin zu Sanborne gegangen, habe meine Kündigung eingereicht und ihm erklärt, ich würde meine Forschungsunterlagen mitnehmen. Zuerst bekam er einen Wutanfall, aber dann hat er sich ziemlich schnell wieder beruhigt.
Am nächsten Tag standen zwei Anwälte vor meiner Tür. Sie behaupteten, die Forschungsunterlagen seien Sanbornes Eigentum, da ich während der Arbeit daran bei ihm angestellt gewesen sei. Ich stand vor der Wahl, entweder eine Abtretungserklärung zu unterschreiben oder vor Gericht zu gehen.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Sie können sich denken, was ich für Chancen gehabt hätte gegen Sanbornes Staranwälte. Ich wollte ohnehin nicht weiter an der Sache forschen, sie barg einfach zu viele Gefahren. Andererseits wollte ich natürlich auch nicht, dass Sanborne in seinem Sinne weiter daran forschte. Also drohte ich ihm damit, mich an die Medien zu wenden, falls er mit den Experimenten zur Bewusstseinskontrolle weitermachte. Er erklärte sich einverstanden, und ich dachte schon, ich hätte gewonnen. Ich habe eine Stelle an der Universitätsklinik in Atlanta angenommen und versucht, das Ganze als erledigt zu betrachten.«
»Ohne Beweis dafür, dass Sanborne sich an die Abmachung hält?«
»Ich hatte Freunde in Sanbornes Labor, und ich hab mich darauf verlassen, dass sie mich informieren würden, falls er es nicht tut.«
»Darauf verlassen?«
»Gut, ich war naiv. Ich hätte mich sofort an die Medien wenden sollen. Aber ich hatte jahrelang Medizin studiert und auf dem Gebiet geforscht, ich wollte nicht, dass alles umsonst war. Sanbornes Anwälte hätten mir meine Karriere und mein Leben ruiniert.« Sie holte tief Luft. »Auf jeden Fall wurden die Experimente eingestellt. Ein halbes Jahr lang habe ich regelmäßig bei meinen Freunden nachgefragt und erhielt jedes Mal die Information, das Projekt wäre eingestellt.«
»Und nach dem halben Jahr?«
Ihre Hände umklammerten die Kaffeetasse. »Danach brauchte ich mir keine Sorgen mehr zu machen, dass mein Leben zerstört werden könnte. Das war bereits geschehen. Irgendwann bin ich mit meinen Eltern zum Angeln rausgefahren. Jock hat Ihnen ja erzählt, was passiert ist. Mein Vater ist durchgedreht. An dem Tag war er völlig normal und liebenswürdig, und dann erschießt er aus heiterem Himmel die Frau, die er sein Leben lang geliebt hat. Wenn ich mich nicht dazwischengeworfen hätte, hätte er auch noch meinen Sohn erschossen. Die Kugel hat ihn zwar getroffen, aber sie hatte zuerst meinen Körper durchdrungen und war abgelenkt worden. Einen Tag später bin ich dann im Krankenhaus aufgewacht. Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch, als ich erfuhr, was passiert war. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. So etwas konnte einfach nicht passieren.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich war völlig entkräftet. Dave hat mir nicht mal gesagt, dass Michael Probleme hatte. Trotzdem hätte ich für ihn da sein müssen.«
»Das waren doch nur zwei Monate, Sophie«, sagte Jock ruhig. »Außerdem hattest du mit deinen eigenen Problemen genug zu tun.«
»Aber ich bin kein Kind«, entgegnete sie unwirsch. »Ich bin eine Mutter, und ich hätte bei meinem Sohn sein müssen.«
»Sehr rührend«, bemerkte Royd. »Aber ich würde gern noch mal auf Sanborne zurückkommen.«
Himmel, der Typ war wirklich knallhart. »Verzeihen Sie, dass ich Ihre wertvolle Zeit vergeude. Das war kein Versuch, Ihr Mitgefühl zu erregen. Wobei ich bezweifle, dass Sie zu so was wie Mitgefühl überhaupt fähig sind. Eigentlich haben wir das Thema Sanborne nie fallen lassen.« Sie hob ihre Tasse an die Lippen. »Während meines Aufenthalts in der psychiatrischen Klinik dachte ich, ich kann nur überleben, indem ich zu begreifen versuche, was geschehen war. Ich konnte einfach nicht glauben, dass mein Vater plötzlich den Verstand verloren hatte … Er war … ein großartiger Mensch. Liebenswürdig und völlig normal.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Er war nie krank, bis auf die Schlafstörungen, unter denen er seit seiner Kindheit gelitten hatte. Aber selbst diese Störungen hatten in den vorangegangenen Monaten nachgelassen, und zwar seit er von einem neuen Arzt behandelt wurde, einem Spezialisten namens Dr. Paul Dwight. Ich hatte mich über den Mann erkundigt und herausgefunden, dass er großes Ansehen genoss. Mein Vater suchte ihn wesentlich häufiger auf als seinen vorherigen Therapeuten, und alles schien gut zu laufen. Er schlief fast immer durch und wurde kaum noch von nächtlichen Angstattacken heimgesucht. Meine Mutter war überglücklich. An jenem letzten Tag wirkte er entspannter, als ich ihn je erlebt hatte. Dann, während ich in der Klinik über diese ganze Geschichte nachgrübelte, ist mir eingefallen, wie unglaublich entspannt die Probanden in Amsterdam immer nach der REM-4-Therapie gewirkt hatten.« Sie schüttelte den Kopf. »Anfangs hielt ich es für an den Haaren herbeigezogen, hab mir eingeredet, ich würde Gespenster sehen und Zusammenhänge herstellen, wo es keine gab. Aber es hat mir keine Ruhe gelassen, ich musste es unbedingt wissen. Denn wäre das nicht die einfachste Möglichkeit gewesen, mich loszuwerden? Ich bin fest davon überzeugt, dass mein Vater auch noch auf mich geschossen hätte, wenn ich nicht schon die Kugel abbekommen hätte, die für Michael gedacht war. Man hört ja immer wieder von Verrückten, die erst ihre ganze Familie und dann sich selbst umbringen. Es wäre eine ganz normale Familientragödie gewesen. Kein mysteriöser Täter, nach dem die Polizei gesucht hätte. Ich wäre vom Erdboden verschwunden, und Sanborne hätte seine Pläne mit REM-4 in die Tat umsetzen können.«
»Und was haben Sie daraufhin unternommen?«
»Nach meiner Entlassung aus der Klinik habe ich mir aus den Unterlagen meines Vaters die Adresse seines Arztes herausgesucht. Dann habe ich dort angerufen, um mir einen Termin geben zu lassen. Der Anschluss war stillgelegt worden. Der Arzt war drei Wochen zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
»Sehr praktisch«, murmelte Jock.
»Ja, das hab ich auch gedacht. Ich hab einen Privatdetektiv angeheuert, um rauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen Dr. Dwight und Sanborne gab. Aber das Einzige, was der Mann zutage fördern konnte, war, dass die beiden sich im selben Jahr auf einem Kongress in Chicago begegnet waren. Und dass Dwight während der letzten fünf Monate vor seinem Tod in regelmäßigen Abständen jeweils fast eine halbe Million Dollar in bar auf sein Konto eingezahlt hatte.«
»Nicht beweiskräftig.«
»Jedenfalls nicht für ein Gericht, aber mir hat es gereicht. Ich hatte endlich eine Spur, etwas, mit dessen Hilfe ich mich aus dem Sumpf ziehen konnte. Aber ich musste noch mehr in Erfahrung bringen. Ich hatte immer noch Freunde in Sanbornes Firma, und die habe ich befragt. Sie versicherten mir, dass im Werk keine Experimente mehr durchgeführt würden. Die Abteilung sei geschlossen und sämtliche Mitarbeiter mit anderen Aufgaben betraut worden. Aber das konnte ich mir nicht vorstellen. Also hab ich meine Freundin Dr. Cindy Hodge gebeten, sich ein bisschen für mich umzusehen.« Sie schürzte die Lippen. »Sie hat mir eine Namensliste gegeben und einen Ort genannt. Garwood, North Carolina.« Sie unterbrach sich, als sie Royds Reaktion bemerkte. »Haben Sie diesen Namen schon mal gehört?«
»Allerdings. Garwood kenne ich sehr gut.« Er warf Jock einen Blick zu. »Und du?«
»Meine Ausbildung war anders als deine. Der Name Garwood ist mir erst im vergangenen Jahr wieder eingefallen, als ich langsam wieder ich selbst wurde.« Er schaute Sophie an. »Und dann hat Sophie meiner Erinnerung nachgeholfen, als sie mich aufgespürt hat.«
»Sie hat nach dir gesucht?«, fragte Royd.
»Glaubst du etwa, ich hätte sie gesucht? Ich hatte genug damit zu tun rauszufinden, wer ich war und wer ich bin. Ich konnte mich nicht so leicht befreien wie du.«
»Ich war schon ziemlich lange in Garwood, als du dorthin gebracht wurdest. Und mir ist die Befreiung ganz und gar nicht leicht vorgekommen, sondern eher wie ein Ritt durch die Hölle.«
»Ihr wart nicht zur selben Zeit in Garwood?«, fragte Sophie. »Ich versteh überhaupt nichts mehr.«
»Jock ist auf Wunsch von Thomas Reilly nach Garwood geholt worden. Der hat dort seine hirnlosen Zombies ausgebildet«, erzählte Royd. »Und Sanborne hat dafür bezahlt, dass er mit Hilfe von REM-4 den Willen von Jock und einigen anderen seiner Opfer brechen konnte. Aber Reilly verfügte noch über andere Methoden, mit denen er experimentiert hat, Sanborne war für ihn nur ein Werkzeug.«
»Und Sie?«
»Ach, ich war ein persönliches Geschenk von General Boch an Sanborne, nachdem der sein Labor in Garwood eingerichtet hatte.« Royd lächelte freudlos. »Der General wollte mich loswerden, und da ist er auf die glorreiche Idee gekommen, mich nach Garwood zu seinem Kumpan zu schicken. Die Vorstellung, dass dort mein Wille gebrochen würde, gefiel ihm außerordentlich, und falls das nicht klappte, konnte er zumindest davon ausgehen, dass ich den Verstand verlieren würde. Das ist zwei Männern so ergangen, während ich in Garwood war.«
Ein eiskalter Schauer überlief Sophie. »Nein«, flüsterte sie.
Royd sah sie skeptisch an. »Wenn Sie von Garwood wussten, hätten Sie eigentlich auch über die ganzen Machenschaften informiert sein müssen.«
Sie schüttelte den Kopf. »In Sanbornes Unterlagen stand nichts davon.«
»Soweit ich weiß, haben die Leute, die in der Nähe von Auschwitz wohnten, auch immer behauptet, sie hätten von nichts gewusst.«
»Ich sage Ihnen, ich habe es nicht –«
»Wenn sie sagt, sie wusste es nicht, dann kannst du ihr glauben«, mischte Jock sich ein. »Sanborne hat bestimmt keine Unterlagen über ein fehlgeschlagenes Unternehmen aufbewahrt. Der würde das Thema einfach in der Versenkung verschwinden lassen.«
»Bist du sicher?«, fragte Sophie. »Das REM-4, das ich entwickelt habe, hatte weder psychische noch körperliche Nebenwirkungen. Ich schwöre, dass es vollkommen ungefährlich war.«
»Aber nachdem sie die Rezeptur verändert hatten, nicht mehr«, bemerkte Royd. »Sanborne und Boch haben den Suggestibilitätsfaktor extrem verstärkt. Die Mischung hat die Kandidaten so willenlos gemacht, dass einige daran zerbrochen sind. Das Zeug hatte plötzlich absolut teuflische Nebenwirkungen. In Garwood waren zweiundfünfzig Männer, die das bezeugen können.«
»In den Unterlagen ist nur von vierunddreißig die Rede«, sagte Sophie.
Royd sah sie nur an.
»Er hat sie … umgebracht?«
»Bevor ich abgehauen bin, hab ich zweiundfünfzig gezählt«, sagte er mit einem Achselzucken. »Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, da kann ich nur raten. Ich habe mich über drei Monate lang versteckt gehalten, und während der Zeit hat die CIA Thomas Reillys Versuchsanlagen entdeckt. Sanborne fürchtete, dass Reillys Unterlagen die CIA nach Garwood führen könnten, deswegen hat er den Laden so gründlich gesäubert, dass niemand mehr dahinterkommen würde, wozu die Anlage einmal benutzt worden war. Anschließend hat er den Laden dichtgemacht und das ganze Projekt an einen anderen Ort verlegt.«
»In seine Anlage in Maryland«, sagte Sophie. »Warum haben Sie sich nicht an die Polizei gewandt?«
»Die Polizei ist nicht besonders geneigt, auf einen Mörder zu hören. Und der General hat garantiert dafür gesorgt, dass mindestens einer der Auftragsmorde, die ich als sein Zombie ausgeführt habe, ausführlich dokumentiert ist.« Seine Kiefermuskeln spannten sich. »Die sind natürlich davon ausgegangen, dass ich mir einen Job suchen würde, bei dem es ums Töten ging. Ich war vier Jahre lang bei den SEALs, und dass man da zum Töten ausgebildet wird, ist hinlänglich bekannt. Nein, ich musste eine andere Möglichkeit finden, diesen Leuten das Handwerk zu legen.«
»Und wie sah die aus?«
»Ich musste genug Geld zusammenkriegen, um Informationen kaufen zu können. Ich habe eine Weile dafür gebraucht, aber es ist mir gelungen, die REM-4-Produktionsstätte zu lokalisieren und einen Maulwurf in Sanbornes Firma einzuschleusen.« Ihre Blicke begegneten sich. »Und so bin ich auf Ihre Spur gestoßen.«
»Ich wollte nicht – Ich würde niemals –« Sie brach ab und schüttelte erschöpft den Kopf. »Aber ich habe es getan. Ich habe das alles in Gang gesetzt. Es ist meine Schuld. Ich kann Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie –«
Michaels Monitor piepte.
»O Gott!« Sophie sprang auf. »Michael …«
Sie rannte aus der Küche.