4
ROYD FLUCHTE LEISE vor sich hin und stand auf.
»Sie haut nicht ab«, sagte Jock. »Setz dich wieder hin und trink deinen Kaffee aus. Sie kümmert sich bloß um ihren Sohn, dann kommt sie wieder.«
Langsam setzte Royd sich wieder auf seinen Stuhl. »Was ist denn mit ihm?«
»Alpträume. Gelegentlich hat er sogar eine Apnoe-Episode und hört auf zu atmen.«
»Verdammt.«
»Und um deine nächste Frage auch gleich zu beantworten: Sie hat ihn nicht als Versuchskaninchen benutzt. Es hat angefangen, nachdem sein Großvater versucht hat, ihn zu töten, und der Junge mit ansehen musste, wie der Alte auf seine Großmutter und seine Mutter geschossen hat. Sophie sagt, anfangs war es viel schlimmer, und er ist vielleicht auf dem Weg der Besserung.« Er verzog das Gesicht. »Aber es ist ziemlich gruselig, das mitzuerleben. So ein kleiner Junge.«
»Du hast gesagt, sie hätte dich aufgesucht. Wie hat sie dich denn gefunden?«
»Die Unterlagen über Garwood, die sie von ihrer Freundin bekommen hatte, enthielten Querverweise zu den Kandidaten von Thomas Reilly, die dorthin verlegt worden waren. Die Versuchspersonen aus Garwood waren ›verschwunden‹, aber es gab Hinweise auf einige von Thomas Reillys Opfern. Reilly hatte eine komplette Truppe von Männern, deren Dienste er dem Meistbietenden zur Verfügung stellte. Die sind alle getürmt, als die CIA Reilly hochgenommen hat. Die meisten sind nach und nach gefasst worden, aber ein paar konnten entkommen.« Er schaute Royd an. »Aber das weißt du doch alles. Du hast mich ja vor einem Jahr selbst aufgespürt.«
»Und du hast damals behauptet, du hättest keine Ahnung, wo Sanborne jetzt seine REM-4-Experimente durchführt. War das gelogen?«
Jock schüttelte den Kopf. »Damals konnte ich mich an fast nichts erinnern. Ich hab ewig gebraucht, um mich so weit zu erholen, dass ich mir allmählich wieder alles zusammenreimen konnte. Ich hab ziemlich vor mich hin vegetiert, als MacDuff mich nach meiner Flucht vor Reilly in der psychiatrischen Klinik in Denver gefunden hat. Bei deinem ersten Besuch war ich noch immer durch den Wind. Wärst du ein paar Monate später gekommen, hätte ich dir mehr erzählen können. Sophie hat mich genau zum richtigen Zeitpunkt aufgespürt, da war ich bereit, die Erinnerung zuzulassen. Und dann hat sie so lange nachgeholfen, bis mir allmählich alles wieder eingefallen ist.«
Royd sah ihn forschend an. Vermutlich sagte er die Wahrheit. Jock hatte sich sehr verändert. Noch vor einem Jahr war er ziemlich verwirrt und abwesend gewesen, aber an dem Mann, der ihm jetzt gegenübersaß, war nichts Verwirrtes und Abwesendes mehr zu entdecken. Dieser junge schottische Draufgänger hatte ein weiches Herz, aber alles andere an ihm war klar und entschlossen. »Und was ist dir wieder eingefallen?«
»Dass Reilly schon vor der CIA-Razzia vorhatte, ein paar von seinen Neuzugängen zur Ausbildung in ein anderes von Sanbornes Lagern zu schicken. An einen Ort irgendwo in Maryland.«
»Und warum hast du keinen Kontakt zu mir aufgenommen? Du wusstest doch, dass ich unbedingt Bescheid wissen musste, verdammt. Es hat mich Monate gekostet, mir diese Informationen zu beschaffen.«
»Ich war mit Sophie beschäftigt, und ich wollte nicht, dass du mir dazwischenfunkst.«
»Beschäftigt?«
»Sie hat erst durch mich das ganze Ausmaß von Sanbornes Machenschaften begriffen. Es hat sie dermaßen umgehauen, dass sie beschlossen hat, sich Sanborne selbst vorzuknöpfen.« Er schüttelte den Kopf. »Und das konnte ich nicht zulassen.«
»Warum nicht?«
»Sie hat etwas in mir berührt«, antwortete Jock einfach. »Sie war überwältigt von Schmerz und Schuldgefühlen, und sie ist Sanborne und dessen Schlägern nicht gewachsen. Zuerst wollte sie in Sanbornes Betrieb einbrechen und die Forschungsunterlagen über die Entstehung von REM-4 vernichten. Aber Sanborne hatte sämtliche Sicherheitscodes geändert, deshalb kam sie nicht rein. Also sagt sie sich, dass ihr nichts anderes übrig bleibt, als der Schlange den Kopf abzuschlagen und zu hoffen, dass das Gift damit aus der Welt ist.«
»Und dann hat sie dich gebeten, das für sie zu erledigen?«
Erneut schüttelte Jock den Kopf. »Weil sie zu dem, was mir angetan wurde, indirekt beigetragen hat, hat sie solche Schuldgefühle, dass sie niemals von mir verlangen würde, Sanborne umzubringen. Sie hat mich nur gebeten, ihr beizubringen, wie man einen Menschen tötet.«
»Und das hast du gemacht?«
»Ja. Was den Umgang mit Waffen angeht, ist sie sehr gut. Sie schießt fast so gut wie ich. Aber ob sie es tatsächlich tun kann? Sie glaubt, ja. Kommt drauf an, wie groß der Hass ist, den sie aufgestaut hat. Hass kann einen Menschen zu allem Möglichen befähigen.« Er durchbohrte Royd mit seinem Blick. »Nicht wahr?«
Royd überging die Frage. »Sie hat sich tatsächlich schuldig gemacht. Woher willst du wissen, ob sie nicht von Anfang an in Sanbornes Pläne eingeweiht war und bloß irgendwann einen Koller gekriegt hat?«
»Ich vertraue ihr.«
»Ich nicht.«
»Ich bin kein Idiot, Royd. Sie hat mir die Wahrheit gesagt.« Er musterte Royds Gesicht. »Du wirkst verdammt frustriert. Warum versteifst du dich darauf, dass sie mit Sanborne unter einer Decke steckt?«
»Weil ich darauf gesetzt hatte, dass ich genug Informationen aus ihr rauspressen könnte, um zu erfahren, wo sich die REM-4-Formeln befinden, und Sanborne und Boch fertigzumachen. Und jetzt erzählst du mir, dass sie bloß eine unschuldige Randfigur ist.« Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Das kaufe ich dir einfach nicht ab.«
»Das kommt schon noch. Du bist viel zu intelligent, um dich von deinem Wunsch, die Dinge so zu sehen, wie sie dir passen, blenden zu lassen. Du musst das alles einfach ein bisschen sacken lassen.«
»Vielleicht.«
Jocks Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was denkst du gerade?«
»Seit meiner Flucht aus Garwood musste ich mir jede Situation zurechtfeilen, um zu überleben und mein Ziel, Sanborne zu vernichten, nicht aus den Augen zu verlieren. Und genauso werde ich diesmal verfahren.« Seine Kiefermuskeln spannten sich. »Ich bin zu dicht dran, Jock. Sophie Dunston mag mir vielleicht nicht von Nutzen sein, aber ich werde mich auch nicht von ihr aufhalten lassen. Ich hätte keine Hemmungen –«
Sein Handy klingelte, und er warf einen Blick auf das Display.
Nate Kelly.
»Drück uns die Daumen, dass er rausgefunden hat, wer der Scheißkerl im Schlafzimmer ist«, murmelte er, als er das Gespräch entgegennahm.
Nachdem Sophie Michaels Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, blieb sie noch einen Moment stehen, um durchzuatmen und sich für die erneute Konfrontation mit Matt Royd zu wappnen.
Gott sei Dank hatte es Michael diesmal nicht ganz so schlimm erwischt. Der ganze Abend war für sie ein einziger Horrortrip gewesen, und eine Katastrophe mit Michael hätte dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Das hätte sie nicht verkraftet.
Doch, natürlich hätte sie es verkraftet – sie würde jede Situation meistern, die das Leben für sie bereithielt.
Und mit Royd, der sie mit seinen eisigen Augen so vorwurfsvoll ansah, würde sie auch fertig werden.
Sie straffte ihre Schultern und ging in die Küche.
Jock blickte auf, als sie eintrat. »Hat Michael sich wieder beruhigt?«
Sie nickte. »Diesmal war es nicht so schlimm. Ich hab einfach ein paar Minuten bei ihm gesessen und mit ihm geredet, und dann ist er wieder eingeschlafen.«
»Gut«, sagte Jock. »Hoffen wir, dass er nicht wieder aufwacht. Es gibt Neuigkeiten. Royd hat gerade von dem Mann, den er bei Sanborne eingeschleust hat, eine E-Mail erhalten.«
Sie schaute Royd an. »Haben Sie rausgefunden, wer der Mann war?«
»Einer von Sanbornes Leibwächtern«, sagte Royd. »Zumindest ist er als solcher in der Personalakte registriert. Arnold Caprio.«
»Caprio«, wiederholte Sophie.
»Sie wissen, wer er ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Aber der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Denken Sie nach.«
»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich nicht weiß, wer –« Sie unterbrach sich. »Doch, ich weiß …« Sie ging ins Wohnzimmer und öffnete die oberste Schublade an ihrem Schreibtisch. Sie nahm die Ledermappe heraus, die die Liste enthielt, und ging die Namen durch.
Arnold Caprios Name stand in der Mitte.
Sie schloss die Augen. »O Gott.«
»Wer ist er?«
Sie öffnete die Augen wieder und drehte sich zu Jock und Royd um. »Der Name Caprio steht auf der Liste, die Cindy mir gegeben hat. Eine Liste der Männer, an denen in Garwood diese Experimente durchgeführt wurden. Anscheinend war er Sanbornes Leibwächter. Nur dass er ihn außerdem für Anschläge auf gefährliche Leute wie mich eingesetzt hat.« Sie holte tief Luft, um ihr Zittern in den Griff zu bekommen. »Da liegt schon eine gewisse Ironie drin, nicht wahr? Sanborne schickt einen der Männer, für deren Schicksal ich mit verantwortlich bin, um mich zu töten.«
»Du bist nicht dafür verantwortlich«, sagte Jock. »Du hast nie gewollt, dass so etwas passiert. Im Gegenteil, du hast versucht, es zu verhindern.«
»Erklär das mal Caprio.« Sie schaute Royd an. »Und Royd. Sie geben mir doch auch die Schuld, hab ich recht?«
Er schaute sie lange an, dann zuckte er die Achseln. »Es spielt keine Rolle, was ich denke. Vielleicht sollten Sie wissen, dass Sanborne nicht wie Reilly halbwüchsige Jungs für seine Experimente benutzt hat. Er wollte nicht bei Null anfangen. Er war der Meinung, dass die Experimente am besten bei Männern anschlugen, die bereits als gewalttätig aufgefallen waren. Boch hat ihm häufig Scharfschützen und Ex-SEALs wie mich geschickt. Er hat sich irgendwelche heiklen Missionen ausgedacht, um sie in die Gegend zu locken, anschließend brauchte Sanborne sie nur noch von seinen Schlägern einsammeln zu lassen. Und ich weiß von zwei Drogendealern und mindestens drei professionellen Killern, die in Garwood waren.«
Sophie sah ihn entgeistert an. »Soll ich mich vielleicht jetzt besser fühlen?«
»Nein. Sie haben mir eine Frage gestellt, ich habe sie beantwortet. Und jetzt werde ich Ihnen eine Frage stellen. Sie kannten meinen Namen nicht. Stand er nicht auf der Liste?«
Sie überlegte. »Nein. Aber Jocks Name stand drauf.«
Royd hob die Schultern. »Vielleicht standen nur die Namen von Leuten auf der Liste, die Sanborne persönlich rekrutiert oder gekauft hat. Ich war ein Geschenk von seinem Partner.« Er wandte sich an Jock. »Wir sollten zusehen, dass wir Caprio möglichst schnell loswerden. Kennst du einen passenden Ort?«
»Der Sumpf im Westen außerhalb der Stadt«, sagte Jock. »Dort wird man ihn frühestens in ein paar Monaten, vielleicht auch erst nach Jahren finden.«
»Schreib mir auf, wie ich dahin komme. In der Zwischenzeit verpacke ich ihn in ein paar Mülltüten. Und bevor ich ihn ins Auto schaffe, sieh dich ein bisschen draußen um und vergewissere dich, dass die Gegend hier genauso verschlafen ist, wie sie aussieht.«
Sophie zuckte zusammen. »Müssen Sie –« Sie unterbrach sich und setzte noch einmal an. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit, ihn loszuwerden, als ihn zum Verrotten in einen Sumpf zu werfen?«
»Doch«, sagte Royd. »Ich könnte ihn zum Beispiel einfach in Sanbornes Vorgarten abladen, würde Ihnen das besser gefallen? Es wäre mir ein Vergnügen.«
Er würde es wirklich tun, dachte Sophie, und zwar mit der ganzen Genugtuung, die in seinen Augen aufblitzte. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort.«
»Aber es wäre sehr unklug«, entgegnete Royd. »Ein Schlag ins Gesicht ist eine eindeutige Warnung, und ich möchte weder Sanborne noch Boch warnen. Ich habe Caprio getötet und will keine Hindernisse im Weg haben. Wir werden Caprio also entsorgen, um Sanborne nichts gegen uns in die Hand zu geben, denn der findet am Ende noch eine Möglichkeit, den Anschlag auf Sie wie einen heimtückischen Mord an Caprio aussehen zu lassen. Über genügend Geld und Einfluss verfügt er jedenfalls.« Er wandte sich zum Gehen. »Und ehe Sie sich mit Gewissensbissen plagen, weil wir diesem Abschaum kein anständiges Begräbnis zukommen lassen, will ich Ihnen mal was zeigen, was ich in Ihrem Schlafzimmer auf dem Fußboden gefunden hab.« Er verließ kurz das Zimmer und kam nach wenigen Minuten mit zwei Gegenständen zurück, die er auf den Couchtisch warf. »Der Mann war gut vorbereitet.«
Sophie betrachtete das Seil. »Soll das heißen …?«
»Das Messer hat er nur für alle Fälle mitgenommen. Anscheinend war Caprio nicht halb so gut ausgebildet wie Jock und ich, denn er hat sich von seinen Gefühlen überwältigen lassen und sein Ziel aus den Augen verloren. Eigentlich sollte er Sie erhängen und es wie einen Selbstmord aussehen lassen. Aber er hat zwei Schlingen mitgebracht. Was schließen Sie daraus?«
»Michael?«, flüsterte sie.
»Eine psychisch labile Mutter, die erst ihr einziges Kind und dann sich selbst umbringt. Man sollte annehmen, dass Sie Ihren Sohn eher vergiften würden, aber Sanborne hat keine Ahnung von Psychologie. Andererseits, wenn man Ihre Geschichte in Betracht zieht, ist das mit den Schlingen nicht völlig aus der Luft gegriffen.« Über die Schulter hinweg sagte er zu Jock: »Ich bin in zehn Minuten fertig. Sorg dafür, dass draußen die Luft rein ist.« Wieder an Sophie gewandt, fügte er hinzu: »Wir reden miteinander, wenn ich wieder zurück bin.«
Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, sagte Sophie zu Jock: »Wenn es schon getan werden muss, sollte ich mit anpacken.«
»Und Michael allein lassen?« Jock betrachtete die beiden Schlingen. »Den Anblick hätte Royd dir ersparen können.« Er warf die Schlingen in den Papierkorb in der Ecke.
»Er hat nicht vor, mir irgendetwas zu ersparen«, entgegnete Sophie erschöpft. »Ich kann’s ihm nicht verdenken. Was kann ich tun, um zu helfen, Jock?«
»Bleib hier und kümmere dich um deinen Sohn«, sagte Jock kopfschüttelnd und ging zur Tür. »Wir wissen, was wir zu tun haben. Du würdest uns nur behindern.«
Frustriert und hilflos sah sie zu, wie er die Tür hinter sich zuzog.
Nein, sie durfte Michael auf keinen Fall allein lassen, aber sie zog Jock mit in die Sache hinein, indem sie zuließ, dass er ihr half, dabei hatte sie genau das doch eigentlich verhindern wollen.
Und dass Matt Royd ein solches Risiko auf sich nahm, war ihr auch nicht recht. Schließlich hatte er ihr das Leben gerettet, als er Caprio getötet hatte. Andererseits fiel es ihr schwer, Royd gegenüber Dankbarkeit zu empfinden, so knallhart und regelrecht feindselig, wie er sich ihr gegenüber verhielt.
Aber konnte man es ihm übelnehmen?, dachte sie. Sie konnte von Glück reden, dass Jock ihr nicht dasselbe Misstrauen entgegenbrachte. Seit sie von Garwood erfahren hatte, quälte sie sich mit Selbstvorwürfen. Sie hatte diesen Männern, allen diesen Männern, ein Leid zugefügt, wie man es sich kaum vorstellen konnte.
Und doch versuchte sie immer wieder, es sich vorzustellen. Sie konnte einfach nicht damit aufhören.
Bis sie Robert Sanborne das Handwerk gelegt hatte.
Nachdem die beiden Männer Caprios Leiche in den Wagen geladen hatten, kam Jock zurück ins Haus.
»Ich dachte, du wolltest mit ihm fahren«, bemerkte Sophie.
»Wollte ich auch. Aber Royd meinte, es gäbe keinen Grund, dass wir uns beide dem Risiko aussetzen, wenn er die Sache auch allein durchziehen kann. Ihm gefiel der Gedanke nicht, dich hier allein zu lassen.«
»Kaum zu glauben, dass er sich meinetwegen Sorgen macht. Er ist anders als du.«
»Ja und nein. Wir haben eine Menge gemeinsam. Als er mich vor einem Jahr aufgesucht hat, fühlte ich mich ihm sehr verbunden. Wir gehören beide einem ziemlich exklusiven Club an.«
Sie hatte diese Verbundenheit gespürt, als sie mit den beiden am Tisch gesessen hatte. Obwohl sie so verschieden waren, schienen sie sich fast ohne Worte zu verstehen. »Er ist voller Wut und Verbitterung. Was du eigentlich auch sein müsstest.«
»Er ist frustriert. Wie gesagt, ich hab meinen persönlichen Dämon besiegt, als ich Thomas Reilly getötet habe, aber Royd kämpft immer noch gegen seine Dämonen. Und er wird nicht ruhen, ehe er Boch und Sanborne in die Hölle geschickt hat.«
»Und mich?«
Jock zuckte die Achseln. »Nicht, wenn ich ihn davon überzeugen kann, dass du die Wahrheit sagst. Er sträubt sich dagegen, es zu glauben, weil er dachte, er hätte endlich jemanden aufgestöbert, der ihm die Informationen über Sanborne und Boch liefern kann, die er braucht, um zuschlagen zu können. Dass du dich jetzt auch als Opfer der beiden entpuppst, geht ihm gegen den Strich, er will einen Ansatzpunkt. Er wird eine Weile brauchen, um das zu verdauen, aber er wird sich schon an den Gedanken gewöhnen. Aber selbst wenn er die Wahrheit akzeptiert, wird ihn das nicht lange daran hindern, dich zu benutzen, falls sich ihm die Gelegenheit bietet. Er sinnt einfach schon viel zu lange auf Rache.«
»Das kann ich verstehen.«
»Und es ist nicht nur wegen REM-4. Er hat seinen Bruder in Garwood verloren.«
»Was?«
»Boch musste Royd damals irgendwie nach Garwood locken, also hat er Sanborne gesagt, er soll seinem jüngerem Bruder dort einen Job verschaffen. Als Todd kurze Zeit darauf bei Royd angerufen und ihn um Hilfe gebeten hat, ist er sofort aufgebrochen.«
»Wie ist sein Bruder denn gestorben?«
»Das hat er mir nicht erzählt. Aber auf jeden Fall war’s eine hässliche Geschichte.«
»REM-4?«
»Sophie, in Garwood stand nicht alles Hässliche im Zusammenhang mit REM-4. Sanborne und Boch sind durch und durch kriminell, und ihrer perversen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Royd hat mir erzählt, dass Boch ihn töten wollte, weil er in Tokio Zeuge eines Treffens zwischen Boch und einem japanischen Drogenbaron geworden war. Weil er ihn loswerden wollte, hat er mit Sanborne zusammen den Plan ausgeheckt, Royd nach Garwood zu locken. Und wenn das nicht geklappt hätte, dann hätte er sich eben was anderes einfallen lassen, um ihn in die Hände zu kriegen.«
Sophie schüttelte den Kopf. »Garwood bot sich wahrscheinlich an. Aber was hatte Royd denn in Japan verloren?«
»Er hatte gerade bei den SEALs ausgemustert und wollte sich eine Weile in Ostasien herumtreiben, bevor er in die USA zurückkehrt, dann wollte er sehen, ob er das Kapital beschaffen kann, um ein Import-Export-Unternehmen zu gründen. Er hat mir erzählt, dass er in den Slums von Chicago aufgewachsen ist. Wenn man aus armen Verhältnissen stammt, legt man meist großen Wert auf die Sicherheit, die Geld bietet.«
»Aber wegen Garwood konnte er seine Pläne nie verwirklichen.«
»Er wird schon noch kriegen, was er sich wünscht. Ich bin noch nie jemandem begegnet, der so entschlossen ist wie Royd. Seine Pläne liegen nur vorübergehend auf Eis.«
Sophie musste daran denken, wie konzentriert er sie über den Küchentisch hinweg angesehen hatte. Ja, sie konnte sich gut vorstellen, dass er seine Ziele mit unerbittlicher Zielstrebigkeit verfolgte. Sie wandte sich ab. »Was meinst du, wie lange er weg sein wird?«
»Etwa eine Stunde.«
»Und dann?«
»Dann müssen wir uns einen Plan zurechtlegen.«
»Ich habe bereits einen Plan, und der wird nächsten Dienstag ausgeführt.«
»Wenn Sanborne dir seinen besten Mann auf den Hals hetzt, kann es gut sein, dass du keine Gelegenheit haben wirst, deinen Plan in die Tat umzusetzen. Der wird garantiert seinen Tagesablauf ändern.«
Jock hatte recht. An diese Möglichkeit hatte sie auch schon gedacht, sie jedoch wieder verdrängt. »Wir werden einfach abwarten müssen.«
»Ich glaube nicht, dass Royd bereit sein wird, abzuwarten und Däumchen zu drehen, bis du deine Chance kriegst. Du musst dich damit abfinden, dass es jetzt einen neuen Mitspieler gibt.«
»Ich muss mich mit gar nichts abfinden.« Sie setzte sich aufs Sofa. »Geh fort von hier, Jock. Diese Sache entwickelt sich mehr und mehr zu einer Horrorstory. Überlass das alles mir.«
»Wie wär’s mit einem Drink?« Er setzte sich in einen Sessel ihr gegenüber. »Wir müssen jetzt erst mal auf Royd warten.«
»Es wird mir vorkommen wie eine Ewigkeit.« Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ihr ging der Anblick der beiden Schlingen nicht mehr aus dem Kopf. Eine für sie und eine für Michael. Sie hatte sich durchaus Gedanken über die Konsequenzen für Michael gemacht, falls es ihr gelänge, Sanborne zu töten, aber sie hatte nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sein Leben in Gefahr sein könnte. Sie hatte angenommen, Sanborne hätte es ausschließlich auf sie abgesehen. Warum sollte jemand ein Kind töten wollen? Sicher, ihr Vater hatte versucht, Michael zu erschießen, aber das war von Sanborne so eingefädelt worden, um es aussehen zu lassen, als hätte er den Verstand verloren. Und jetzt war Michael wieder in Gefahr. Zur Hölle mit Sanborne. »Ich will keinen Drink. Ich wünschte, diese Nacht wäre schon vorbei.«
»Hat Caprio sich schon gemeldet?«, fragte Boch, als Sanborne das Gespräch annahm.
»Nein, noch nicht.«
Boch fluchte vor sich hin. »Ich hab Ihnen gesagt, bei Caprio sollen Sie sich vorsehen. Als wir ihn übernommen haben, war er ein drittklassiger Profikiller, und REM-4 hat ihn auch nicht klüger gemacht.«
»Aber es hat dafür gesorgt, dass er mir treu ergeben ist. Ich habe ihm genauestens erklärt, was er tun soll, und er wird den Auftrag ausführen. Die Experimente haben bewiesen, dass Intelligenz nicht immer die beste Voraussetzung für unsere Kandidaten ist. Dafür muss ich Sie ja wohl nur an Royd erinnern.«
»Er war der beste Kandidat, den wir je hatten.«
»Bis er sich von der Konditionierung befreit hat, als wäre es nichts.«
»Ganz so leicht war’s wohl nicht. Aber es geht nicht um Royd. Ich will wissen, warum Caprio sich noch nicht gemeldet hat. Schicken Sie jemanden zu Sophie Dunstons Haus, um nachzusehen.«
»Und riskieren, dass man ihn sieht, wenn die Leichen entdeckt werden? Auf keinen Fall. Wir warten noch ab.«
»Tun Sie, was Sie wollen. Ich bin nicht so geduldig wie Sie. Ich habe meine eigenen Männer, und das sind nicht solche Zombies wie Ihre. Ich gebe Ihnen noch zwei Stunden, dann will ich ein Resultat.«
»Was regen Sie sich so auf? Sie weiß nicht mal von Ihrer Existenz. Sie ist hinter mir her.«
»Und woher weiß sie, dass in dieser Anlage mit REM-4 experimentiert wird? Wenn sie das rausgefunden hat, dann weiß sie womöglich auch über unsere Kontakte Bescheid. Sie hätten sie sofort liquidieren sollen, als sie sich in Ihrer Nähe niedergelassen hat.«
»Ich hatte gehofft, dass sie mir von Nutzen sein kann, falls ich sie zu fassen bekomme. Das REM-4 ist noch nicht perfekt, und sie hat die weiteren Forschungen an einem verbesserten Produkt, das eine zehnfach stärkere Wirkung haben könnte, abrupt abgebrochen.«
»Nichts ist perfekt. Wir brauchen sie nicht, sie ist nicht der einzige Fisch im Teich. Was wir haben, ist vollkommen ausreichend.«
»Ihre Kunden könnten das anders sehen. Drei von zehn Probanden sterben oder verlieren den Verstand.«
»Das ist ein akzeptabler Prozentsatz. Ich kann nicht zulassen, dass sie ihre Nase in meine Angelegenheiten steckt. In drei Monaten werde ich mich zur Ruhe setzen, und wenn ich meine Kontakte behalten will, muss ich bis dahin reinen Tisch gemacht haben.«
Bochs ach so kostbare Beziehungen, dachte Sanborne genervt. Aber diese Beziehungen könnten sich für sie beide als wichtig erweisen. Der Mistkerl kannte jeden korrupten Mann in der ganzen Army, und er hatte Kontakte nach Übersee, die unschätzbar wertvoll sein würden, wenn sie REM-4 auf den Markt werfen würden. Sanborne riss sich zusammen. »Sie werden Ihre Kontakte schon nicht verlieren. Caprios Rückmeldung ist erst eine Stunde überfällig, Herrgott noch mal. Was macht Sie so nervös?«
Boch antwortete nicht gleich. »Mein Informant bei der CIA hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass Royd Kolumbien verlassen hat.«
»Was?«
»Vielleicht hat es nichts zu bedeuten. Womöglich hat er einfach einen neuen Job übernommen. Der Mann ist sehr gefragt.«
»Sie haben mir doch gesagt, Sie würden jemanden da runterschicken, der ihn eliminiert.«
»Das habe ich auch. Und zwar schon dreimal. Royd ist verdammt gut. Das ist unser Verdienst.«
»Und Sie sind ein Trottel.«
»Ich verbitte mir diesen Ton!«
Aha, jetzt habe ich das riesige Ego dieses Idioten verletzt, dachte Sanborne zähneknirschend. »Er befand sich außerhalb des Landes, und das war die beste Gelegenheit für uns, ihn zu liquidieren.«
»Ich habe ihn ständig im Auge behalten.«
»Und zwar so gut, dass er Ihnen durch die Lappen gegangen ist. Ich kann mich noch bestens an ihn erinnern. Er ist nicht nur verdammt gut, er ist ein Experte. Niemand in Garwood war besser als Royd.«
»Ich werde ihn schon finden«, sagte Boch. Dann fügte er hinzu: »Und wagen Sie es nicht, noch einmal so mit mir zu reden.«
Sanborne zögerte. Verflucht. Er musste den Scheißkerl besänftigen. »Tut mir leid.«
»Und regeln Sie Ihre Angelegenheiten. Sophie Dunston mag nur eine Frau sein, aber sie muss ausgeschaltet werden. Wenn wir uns auf der Insel niederlassen, will ich keine Altlasten mehr mit mir herumschleppen.« Er legte auf.
Glaubt Boch etwa, das weiß ich nicht?, dachte Sanborne aufgebracht. Sophie Dunston war ihm ein Dorn im Auge, seit sie herausgefunden hatte, dass er die Experimente, die sie in Amsterdam begonnen hatten, weiterführte. Bisher war es ihm gelungen, sie sich vom Hals zu halten, aber sie würde nicht aufgeben. Sie würde nicht aufhören zu schnüffeln, nachzuforschen und nach jemandem zu suchen, der ihr endlich zuhörte.
Aber womöglich machte er sich Sorgen um ein Problem, das längst gelöst war.
Falls Caprio das Miststück erhängt hatte.
»Alles erledigt?«, fragte Jock, als Royd anderthalb Stunden später zurückkehrte.
Royd nickte. »Die Straßen waren voller, als ich um diese Zeit erwartet hatte.« Er schaute Sophie an. »Sie sehen ja ganz elend aus. Legen Sie sich ins Bett. Reden können wir später.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es hat Sie also niemand gesehen?«
»Nein.« Er wandte sich an Jock. »Du kannst gehen. Ich bleibe hier und passe auf sie auf.«
»Das ist mein Job.«
»Himmelherrgott, ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte Sophie aufgebracht. »Ihr könnt alle beide –«
Michael.
»Okay, einer kann bleiben. Werft eine Münze.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich schlafe im Gästezimmer. Im Moment bringe ich es noch nicht fertig, in mein Schlafzimmer zu gehen.«
»Ich werde den Monitor einschalten, während du im Bad bist«, sagte Jock. »Und bis du geduscht hast, lausche ich auf das Warnsignal.«
»Danke.« Sie zitterte, als sie an ihrer Schlafzimmertür vorbeiging. Innerhalb weniger Minuten hatte sich ein Ort der Zuflucht in etwas Hässliches verwandelt. Sie wusste nicht, ob sie das Zimmer je wieder mit einem guten Gefühl würde betreten können.
Sie durfte jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Sie musste ins Bett. Vielleicht würde sie besser mit der Situation umgehen können, wenn sie erst mal ein paar Stunden geschlafen hatte.
Noch eine ganze Stunde lang lag sie wach im Bett und versuchte, sich einen Plan zurechtzulegen. Aus dem Wohnzimmer war kein Geräusch zu hören. Vielleicht waren sie ja beide gegangen. Nein, Jock würde sie nicht allein lassen …