7

ROYD BEOBACHTETE MICHAEL, wie er zusammen mit Jock unsicher die Stufen zu dem Privatjet hinaufstieg. »Er wird schlappmachen«, sagte er leise. »Jetzt wird ihm erst richtig klar, was ihm bevorsteht.«

Großer Gott, hoffentlich nicht. Michael war auf dem ganzen Weg zum Flughafen so still gewesen, aber dass es ihn traurig machen würde, sich von seiner Mutter verabschieden zu müssen, war normal. »Vielleicht auch nicht. Jock war sehr überzeugend.«

»Er wird schlappmachen«, wiederholte Royd. »Machen Sie sich darauf gefasst.«

Wie sollte sie sich –

Michael drehte sich um, wankte die Stufen hinunter und kam auf Sophie zugerannt. Weinend warf er sich in ihre Arme. »Ich will nicht weg«, flüsterte er. »Ich will nicht weg, Mom.«

Sie drückte ihn an sich. »Doch, du musst«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht das Beste für dich wäre.«

Nach einer Weile löste er sich aus ihren Armen und schaute sie mit tränenerfüllten Augen an. »Versprichst du mir, dass dir nichts passieren wird? Versprichst du es mir ganz fest?«

»Ja, ich verspreche es dir ganz fest. Das haben wir doch längst besprochen.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Und Royd hat es dir auch versprochen. Sollen wir es dir schriftlich geben?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber manches passiert einfach. Manchmal verrückte Sachen.«

»Mir nicht.« Sie sah ihm in die Augen. »Machst du einen Rückzieher?«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich würde lieber bei dir bleiben, aber Jock sagt, ohne mich ist es sicherer für dich.«

»Ja, da hat er recht.«

»Also gut, dann fliege ich.« Er umarmte sie noch einmal mit beinahe verzweifelter Innigkeit, dann wandte er sich an Royd und sagte eindringlich: »Passen Sie bloß gut auf sie auf, verstanden? Wenn meiner Mutter irgendwas zustößt, bring ich Sie um.«

Ehe Royd antworten konnte, rannte Michael schon wieder zurück zum Flugzeug, wo Jock auf ihn wartete. Einen Augenblick später schloss sich die Tür hinter ihnen.

Royd lachte in sich hinein. »Mein lieber Schwan. Ich glaube, ich traue es ihm tatsächlich zu. Ihr Sohn gefällt mir immer besser.«

»Ach, seien Sie doch still.« Sophie wischte sich die Augen, während sie zusah, wie das Flugzeug auf die Startbahn zu rollte. Sie fühlte sich, als würde sie in Stücke gerissen. Es war das Beste, hatte sie Michael erklärt. Und am frühen Morgen hatte sie mit MacDuff telefoniert, der ihr versichert hatte, ihren Sohn zu beschützen. Aber all das machte es ihr nicht leichter. Erst als das Flugzeug nicht mehr zu sehen war, wandte sie sich ab. »Fahren wir.« Sie ging in Richtung Parkplatz. »Haben Sie schon mit Ihrem Freund Kelly gesprochen?«

»Ich konnte ihn gestern Abend nicht erreichen. Er hat mir gesagt, er würde sich nur mit mir in Verbindung setzen, wenn er sich damit nicht in Gefahr bringt.« Er ging neben ihr her. »Wenn Sanborne dabei ist, jeden, der in irgendeiner Weise mit REM-4 zu tun hatte, aus dem Weg zu schaffen, dann wird es immer schwieriger werden, an diese Unterlagen ranzukommen.«

»Soll das heißen, Sie werden es erst gar nicht versuchen?«

»Blödsinn«, erwiderte er kühl. »Es bedeutet, dass ich abwarten werde, bis sich mir eine sichere Gelegenheit bietet.«

»Und wenn sich Ihnen keine bietet? Wenn es ihm gelingt, sich mit seinen Unterlagen in einem uneinnehmbaren Stützpunkt im Ausland zu verkriechen?«

Royd hielt ihr die Wagentür auf. »Dann werde ich ihn aufstöbern und ihn mitsamt seinem kleinen Stützpunkt in die Luft jagen.«

Seine Stimme klang leidenschaftslos, und sein Gesichtsausdruck war unverändert, und doch war die entschlossene Wut, die ihn antrieb, beinahe mit den Händen greifbar. Sophie holte tief Luft und wechselte das Thema. »Wo fahren wir hin? Zurück zum Motel?«

Royd schüttelte den Kopf. »Wir verlassen die Stadt. Ich habe in einem Motel, etwa achtzig Kilometer von hier entfernt, zwei Zimmer reserviert. Ich will nicht riskieren, dass Sie jemand hier sieht und erkennt. Laut den Nachrichten von gestern Abend sind Sie und Michael tot, und ich will, dass Sie so lange wie möglich weiter als tot gelten.«

»Das heißt also, ich kann auch meinem Exmann nicht mitteilen, dass Michael lebt.«

»Nein, verdammt!«

Eigentlich logisch. »Das wird hart für ihn. Schließlich liebt er Michael.«

»Pech.« Er setzte aus der Parklücke zurück. »Was ist mit Ihnen? Liebt er Sie immer noch?«

»Er ist wieder verheiratet.«

»Das hab ich nicht gefragt.«

Sie zuckte die Achseln. »Wir haben ein gemeinsames Kind. Woher soll ich wissen, was er noch für mich empfindet?«

»Wie steht’s mit Ihnen?«

Sie schaute ihn an, doch er hielt den Blick auf die Straße gerichtet. »Wie bitte?«

»Was empfinden Sie für ihn?«

»Das geht Sie nichts an. Wieso interessiert Sie das überhaupt?«

Er schwieg eine Weile. »Vielleicht suche ich nach möglichen Schwachstellen. Das wäre jedenfalls klug.«

»Und? Ist es so?«

»Nein.«

»Reine Neugier?«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht. Keine Ahnung.«

»Verschonen Sie mich mit Ihrer Neugier. Sie brauchen nicht mehr zu wissen, als dass ich nicht zu Dave laufen werde, um ihm mitzuteilen, dass wir beide leben.« Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Und jetzt hab ich keine Lust mehr, mit Ihnen zu reden. Das fühlt sich immer an, als müsste ich mich durch ein Dornengestrüpp kämpfen. Wecken Sie mich, wenn wir beim Motel angekommen sind.«

 

Das Zimmer im Holiday Inn Express war sauber und einfach eingerichtet, aber es verfügte immerhin über etwas mehr Komfort als das Zimmer, in dem sie die vergangene Nacht verbracht hatten.

Nachdem Royd sich im Zimmer umgesehen hatte, reichte er Sophie den Schlüssel. »Ich habe das Nebenzimmer.« Er lächelte. »Michael würde mich übel beschimpfen, wenn ich mich nicht in Rufnähe halten würde.«

Sophie warf ihre Tasche aufs Bett. »Ich brauche was zum Anziehen. Alles, was ich hatte, war in dem Haus.«

»Ich fahre los und besorge Ihnen was.« Er musterte sie. »Größe sechsunddreißig?«

»Achtunddreißig. Schuhgröße neununddreißig. Und ich brauche einen Laptop. Ich werde jetzt duschen und dann ein wenig schlafen.« Sie ging zum Bad. »Würden Sie sich erkundigen, ob es irgendwelche Neuigkeiten über unser Ableben gibt?«

»Alles, was Sie wünschen.«

»Wie außerordentlich zuvorkommend. Man würde Sie nie für den Mann halten, der alles zerstört hat, was ich je besessen habe.«

»Ich verspreche Ihnen, dass ich alles Wertvolle ersetzen werde.«

»Das können Sie gar nicht. Die Möbel und der ganze andere Kram interessieren mich nicht. Aber was ist mit meinen Fotoalben? Und mit den Andenken und den Lieblingsspielsachen meines Sohnes?«

»Nein, das alles kann ich natürlich nicht ersetzen«, erwiderte er ruhig. »Daran hatte ich wohl nicht gedacht. Ich bin bei acht verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen, Familienfotos habe ich nie besessen. Aber ich werde mich bemühen, es für Michael wiedergutzumachen. Nur Sie können entscheiden, ob die Zeit, die wir gewonnen haben, das wert ist, was ich Ihnen genommen habe.«

Natürlich war das den Verlust wert. Michael war auf dem Weg in die Sicherheit. »Sie haben getan, was Sie für das Beste hielten.«

»Ja, allerdings. Aber das bedeutet nicht, dass es die beste Methode war. Ich bin nicht perfekt.« Er nickte. »Ich bringe uns auf dem Rückweg vom China-Imbiss was zu essen mit. Ich schließe die Tür ab. Machen Sie niemandem auf außer mir.«

Er zog die Tür hinter sich zu.

Machen Sie niemandem auf außer mir.

Er hatte die Worte ganz beiläufig ausgesprochen, aber sie jagten ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Sie befand sich immer noch in Lebensgefahr, und das gefiel Royd zweifellos. Warum hatte sie dann nicht mehr Angst? Sie fühlte sich erschöpft und gereizt, aber seltsamerweise empfand sie keine Angst. Wahrscheinlich, weil Michael jetzt in Sicherheit war. Solange sie sich keine Sorgen um ihren Sohn machen musste, würde sie mit jeder Situation fertig werden.

Sie trat unter die Dusche und ließ das heiße Wasser über ihren Körper laufen. Michael würde gut aufgehoben sein. Niemand konnte sich besser um ihn kümmern als Jock.

Außer vielleicht Royd.

Wie war der Gedanke ihr bloß in den Sinn gekommen? Royd war rau und gefährlich. Er hatte nichts von der Sanftheit, die Jocks tödliche Gefährlichkeit überdeckte. Er war grob und zielstrebig und besaß etwa so viel Feingefühl wie ein wütendes Rhinozeros.

Und doch hatte er geahnt, dass Michael es im letzten Moment mit der Angst bekommen würde.

Das lag an seiner Menschenkenntnis und hatte nichts mit Sensibilität zu tun. Und an seiner Intelligenz hatte Sophie keine Zweifel.

Sie durfte nicht an ihn denken. Sie würde die Zeit nutzen, um sich zu entspannen und einen klaren Kopf zu bekommen. Sie war erregt und wütend, und Michael fehlte ihr jetzt schon. Michael war immer bei ihr gewesen, entweder in Wirklichkeit oder zumindest in Gedanken. Jeder Tag begann und endete mit ihrem Sohn. Dass er jetzt so weit fort war, tat weh.

Statt sich selbst zu bemitleiden, sollte sie lieber tun, was getan werden musste. Und immerhin waren sie jetzt nur deshalb voneinander getrennt, damit sie später wieder in Frieden zusammenleben konnten. Sie war nicht nur eine Mutter, sie war eine Frau mit Verstand und einem starken Willen.

Und dieser Wille musste ganz auf Sanborne ausgerichtet werden.

 

Royd saß am anderen Ende des Zimmers in einem Sessel, ein Bein über der Armlehne, den Kopf zurückgelegt.

Tiger, Tiger, Feuerpracht.

»Aufgewacht?« Royd setzte sich auf und lächelte. »Sie waren fast im Koma. Möchte wissen, wie lange Sie schon unter Schlafmangel leiden.«

Sie schüttelte den Kopf, um wach zu werden, und zog sich die Decke bis unters Kinn. »Seit wann sitzen Sie schon da?«

Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Seit drei Stunden. Ich hab zwei Stunden gebraucht, um eine passende Garderobe und eine Reisetasche für Sie zu besorgen.«

Fünf Stunden. »Sie hätten mich wecken sollen.« Sie schwang die Beine aus dem Bett. »Oder selbst ein bisschen schlafen.«

»Schlafen kann ich später noch. Allerdings scheint es allmählich zur Gewohnheit zu werden, dass ich derjenige bin, der Sie weckt. Aber diesmal hat es mir Vergnügen bereitet.«

»Was reden Sie für einen –« Sie brach ab, als sich ihre Blicke begegneten. Sinnliche Augen. So sinnlich wie die Art, wie er sich im Sessel räkelte – träge wie eine Katze. Sie wandte sich ab. »Suchen Sie sich gefälligst etwas anderes zu Ihrem Vergnügen«, sagte sie. »Ich mag es nicht, wenn man in meine Privatsphäre eindringt, Royd.«

»Ich dringe nirgendwo ein. Ich habe mich, seit ich gekommen bin, nicht aus diesem Sessel gerührt. Und ich habe Ihnen lediglich beim Schlafen zugesehen.« Er lächelte. »Tut mir leid. Ich habe mich wohl zu lange im Dschungel herumgetrieben.« Er stand auf. »Ich gehe in mein Zimmer und stelle das chinesische Essen in die Mikrowelle. Ihre Kleider finden Sie in den beiden Plastiktüten dahinten. Ich hoffe, es passt alles. Ich habe mich bemüht, etwas Modisches auszusuchen.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Aber Sie werden nie etwas finden, das Ihnen besser steht als dieses Laken.«

Sie starrte auf die Tür, die er hinter sich zugezogen hatte. Herrgott, ihre Wangen waren ganz heiß, und ihre Brüste fühlten sich plötzlich voll und empfindlich an. Sie fühlte sich – Darüber wollte sie lieber gar nicht erst nachdenken. Und auch nicht über den Mann, der diese Gefühle in ihr wachgerufen hatte. Das Ganze war einfach völlig absurd. Sie hatte sich immer von intelligenten, kultivierten Männern wie Dave angezogen gefühlt. Royd mochte vielleicht intelligent sein, aber an ihm war nichts Kultiviertes. Er lebte nach seinen eigenen Regeln, alles andere interessierte ihn nicht.

Es war in Ordnung, solche Gefühle zu haben. Diese spontane Reaktion war rein biologisch und normal, vor allem wenn man bedachte, dass sie seit der Trennung von Dave keinen Sex mehr gehabt hatte. Unter den gegebenen Umständen hätte sie wahrscheinlich auf jeden x-beliebigen Mann so reagiert.

Oder vielleicht doch nicht. Royd hatte etwas Animalisches, das –

Nicht darüber nachdenken. Es würde nicht wieder vorkommen. Sie stand auf und nahm sich die Plastiktüten vor. Sie würde sich anziehen, die restlichen Kleider in die Reisetasche packen, in Royds Zimmer gehen und mit ihm zu Mittag essen. Danach konnte sie vielleicht schon mit Jock und Michael telefonieren.

 

»Ich habe gerade die Abendnachrichten gesehen«, sagte Boch, als Sanborne das Gespräch entgegennahm. »Die Polizei weiß immer noch nicht, ob die beiden in dem Haus waren, als es in die Luft geflogen ist, verdammt. Und wenn doch, dann lassen sie sich nicht darüber aus.«

»Die waren garantiert in dem Haus. Der Polizist, der ihren Wagen angehalten hat, hat die beiden auf den Fotos erkannt. Auf dem Rasen vor dem Haus und in der Garage wurden Überreste des Wagens gefunden.«

»Aber keine Leichen.«

»Das liegt an der heftigen Explosion. Die suchen nach kleinsten Leichenteilen, und die werden die beiden erst für tot erklären, wenn sie absolute Gewissheit haben. Diese Explosion könnte alle möglichen Schadensersatzklagen gegen die Gaswerke nach sich ziehen oder in der Gegend, wo die Lecks festgestellt wurden, eine Panik unter den Bewohnern auslösen. Das wird noch dauern.«

»Ausflüchte, Sanborne? Caprio hat es vermasselt, und jetzt haben Sie keinen Beweis dafür, dass Ihre Leute den Schnitzer erfolgreich ausgebügelt haben.«

Sanborne bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich kann im Moment keinen meiner Kontaktleute bei der Polizei anrufen, weil mich niemand in irgendeiner Weise in Verbindung mit Dunston bringen darf. Kapieren Sie das denn nicht? Ich habe Gerald Kennett im Krankenhaus anrufen lassen, dort hat sie sich jedenfalls nicht gemeldet. Normalerweise erkundigt sie sich am Wochenende telefonisch nach ihren Patienten. Die Kollegen sind schockiert und besorgt.«

»Das reicht nicht. Sie ist schließlich nicht dumm. Womöglich hält sie sich irgendwo versteckt. Sie muss doch Freunde haben, die sie um Hilfe bitten kann. Treten Sie denen ein bisschen auf die Füße.«

»Ich muss vorsichtig sein. Ich kann nicht riskieren, dass die am Ende die Polizei anrufen, weil sie sich belästigt fühlen.« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Aber ich bin längst aktiv geworden. Larry Simpson, einer meiner Männer, hat sich als Journalist ausgegeben und die Nachbarn und den Fußballtrainer des Jungen befragt. Keiner hat etwas von ihr gehört.«

»Und was ist mit Dunstons Exmann?«

»Einer meiner Männer ist bereits auf dem Weg zu Edmunds. Zufrieden?«

»Nein, zufrieden bin ich erst, wenn die Polizei den Tod von Sophie Dunston bekanntgibt«, sagte Boch. Dann fügte er hinzu: »Ben Kaffir hat Kontakt zu mir aufgenommen. Er interessiert sich für REM-4, aber der flirtet mit Washington und will erst unterschreiben, wenn wir ihm versichern, dass sein Name auf keinen Fall im Zusammenhang mit irgendwelchen Ermittlungen auftaucht. Diese Dunston hat schon viel zu viel Staub aufgewirbelt.«

»Damit ist endgültig Schluss«, antwortete Sanborne. »Gedulden Sie sich. Geben Sie mir noch einen Tag Zeit, dann werden Sie schon sehen, dass Sie sich grundlos Sorgen machen.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Ich fliege nach Caracas, um alles unter Dach und Fach zu bringen. Sollte sich herausstellen, dass Sie es schon wieder vermasselt haben, komme ich zurück und liquidiere diese Dunston eigenhändig.« Boch legte auf.

Sanborne lehnte sich in seinem Sessel zurück. Sosehr ihn Bochs Arroganz ärgerte, der Mann hatte nicht ganz unrecht. Es stimmte zwar, dass es in solchen Fällen immer eine Weile dauerte, bis jemand für tot erklärt wurde, aber Caprios Verschwinden machte ihn allmählich nervös. Die Verzögerung bei der Bekanntgabe der Opfer könnte durchaus darauf zurückzuführen sein, dass die Forensiker versuchten, Leichenteile zu identifizieren, aber es könnte auch bedeuten, dass die ganze Sache schiefgegangen war. Es lief einfach nicht alles so glatt wie geplant, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Sollte Royd etwa dahinterstecken?

Verdammt, er konnte nur hoffen, dass das nicht der Fall war. Der hätte ihm in dieser heiklen Situation gerade noch gefehlt.

Also gut, er würde zunächst davon ausgehen, dass Royd nichts damit zu tun hatte. Und dass die Frau und ihr Balg tot waren, wie er es Boch versichert hatte.

Aber er brauchte Bestätigung.

Er betrachtete sein aufgeschlagenes Notizheft und unterstrich den letzten Namen auf der Liste.

Dave Edmunds.

 

Royd hatte das chinesische Essen auf zwei Papptellern angerichtet und auf den kleinen Tisch am Fenster gestellt. Er war gerade dabei, ein zweites Weinglas zu füllen, als Sophie hereinkam. »Ich habe Rotwein gekauft. Ich hoffe, das ist in Ordnung?«

Sie nickte. »Aber ich würde lieber Kaffee trinken.«

»Ich setze nach dem Essen welchen auf.« Er bedeutete ihr, Platz zu nehmen. »Das ist Wein aus dem Supermarkt, davon werden Sie sowieso nicht mehr als zwei Gläser vertragen. Ich versichere Ihnen, dass ich nicht die Absicht habe, Sie betrunken zu machen.«

»Das habe ich auch nicht angenommen.«

»Nein?« Seine Mundwinkel zuckten. »Ich habe den Eindruck, dass Sie prinzipiell argwöhnisch sind, egal, was ich sage oder tue. Ich bin vielleicht impulsiv, aber ich werde nicht über Sie herfallen.«

»Weil Sie mich brauchen, um an Sanborne und Boch heranzukommen.«

»Sie haben es erfasst.« Er lächelte. »Sonst hätten Sie keine Chance.«

Sie setzte sich an den Tisch und nahm ihre Gabel in die Hand. »Da täuschen Sie sich gewaltig. Jock war ein hervorragender Lehrer.«

Er lachte in sich hinein. »Dann werde ich mich tunlichst zurückhalten.« Er trank einen Schluck Wein. »Es heißt, Jock ist ein wahres Wunder.«

Sie blickte auf und runzelte die Stirn. »Sie sind ja ganz – Ich kann mich gar nicht erinnern, Sie schon mal lachen gesehen zu haben.«

»Vielleicht versuche ich ja, Sie in Sicherheit zu wiegen, damit ich zuschlagen kann.«

Sie musterte ihn. »Tun Sie das?«

Er zuckte die Achseln. »Könnte auch sein, dass Kelly mich endlich angerufen hat und ich weiß, dass er noch lebt. Mir ist bewusst, dass Sie mich für einen gefühllosen Scheißkerl halten, aber die Vorstellung, dass jemand, den ich auf eine Mission schicke, ins Gras beißen könnte, macht mich ziemlich nervös.«

»Aber Sie haben ihn trotzdem geschickt.«

»Ja.« Er schaute sie über sein Glas hinweg an. »Genauso wie ich Sie schicken würde.«

»Gut.« Sie schob sich ein Stück Hähnchenfleisch in den Mund. »Was hat Kelly denn gesagt?«

»Dass er die Unterlagen noch nicht gefunden hat und es weiter versucht. Er wird mich am späten Abend noch mal anrufen.«

»Womöglich sind die Unterlagen gar nicht im Aktenraum. Sanborne könnte sie auch im Safe bei sich zu Hause verstaut haben.«

»Kann sein. Aber ich wette, er bewahrt sie an einem Ort auf, wo sie am sichersten untergebracht sind, und das ist nun mal die Fabrik.«

»Aber auch dort liegen sie wahrscheinlich in einem Safe.«

»Wenn Kelly genug Zeit hat, knackt er so gut wie jeden Safe.«

Sie musste daran denken, wie leicht es Royd gefallen war, das Schloss an ihrem Haus aufzubrechen. »Wie praktisch. Aber selbst wenn Kelly die Unterlagen findet, erkennt er vielleicht nicht die richtige CD«, fuhr Sophie ruhig fort. »Es sei denn, er hat Chemie studiert. Sanborne hat alle seine wichtigen CDs mit Code-Nummern beschriftet. Und die Formel ist extrem kompliziert. Kelly wird Hilfe brauchen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Könnte Kelly mich in die Fabrik einschleusen?«

Royd antwortete nicht gleich. »Auf keinen Fall«, sagte er schließlich.

»Er kann mich auf keinen Fall einschleusen? Oder wollen Sie auf keinen Fall, dass ich es tue?«

»Beides.«

»Fragen Sie ihn, ob es ihm möglich ist.«

Royd fluchte vor sich hin. »Ausgerechnet jetzt, wo wir versuchen, Sie vor Sanborne zu verstecken, damit er Ihnen nicht die Kehle durchschneidet, wollen Sie sich in die Höhle des Löwen begeben?«

»Wir brauchen diese CD. Das ist eins unserer wichtigsten Ziele. Das wissen Sie ebenso gut wie ich.«

»Die kriegen wir schon.«

»Aber womöglich läuft Ihnen die Zeit davon. Sie sagten, es würde schwieriger werden, falls es Sanborne gelingt, die gesamte Produktionsstätte nach Übersee zu verlegen.«

»Nein«, sagte Royd bestimmt. »Den Job überlassen wir Kelly.«

»Fragen Sie ihn, wie ich da reinkomme. Da er im Videoüberwachungsraum arbeitet, weiß er, wo die Sicherheitskameras angebracht sind. Wenn er nicht wüsste, wie er diese Kameras deaktivieren kann, wäre er nie auch nur in die Nähe der streng vertraulichen Akten gekommen.«

»Aber in die Räume mit den Unterlagen gelangt man nur, nachdem man sich mittels Überprüfung des Daumenabdrucks als zugangsberechtigt ausgewiesen hat.«

»Das weiß ich. Aber um an die Informationen über mich zu kommen, muss es Kelly gelungen sein, sie zu umgehen.«

»Er hat seinen Daumenabdruck im Computer mit dem eines wissenschaftlichen Mitarbeiters vertauscht, der gerade ein paar Tage Urlaub hatte. Und er musste diesen Austausch noch am selben Tag rückgängig machen.«

»Wenn es ihm einmal gelungen ist, kriegt er das auch noch mal hin. Fragen Sie ihn.«

»Es ist unnötig, dass Sie dahin gehen. Beschreiben Sie mir Sanbornes Codierungssystem.«

Sie schwieg.

»Wir müssen zusammenarbeiten, Sophie.«

»Es sei denn, Sie sind derjenige, der allein arbeiten will«, entgegnete sie trocken. »Sie würden mich ohne mit der Wimper zu zucken im Regen stehenlassen.«

Er antwortete nicht gleich. »Vielleicht. Falls ich es allein schaffen kann, wär’s doch egal.«

»Nein, es wäre nicht egal. Sie sagten ›falls‹, und das ist das Stichwort. Ich habe zu viel aufgegeben, um Ihnen das Feld jetzt allein zu überlassen.« Sie aß den letzten Bissen von ihrem Teller und hob ihr Glas. »Ich will aktiv an der Unternehmung beteiligt werden. Ich will meinen Sohn wiederhaben.«

Er schaute sie lange an, dann zuckte er die Achseln. »Also gut, ich werde Kelly fragen. Sie haben recht, warum sollte ich Sie aufhalten? Sie scheinen wirklich lebensmüde zu sein.«

»Wann rufen Sie ihn an?«

»Jetzt gleich.« Er stand auf und nahm sein Handy. »Trinken Sie noch ein Glas Wein. Ich werde mir draußen ein bisschen die Füße vertreten. Ich brauche dringend frische Luft.«

»Was wollen Sie ihm sagen, das ich nicht hören soll?«

»Ich werde ihn fragen, welche Chance Sie haben, falls er Sie da reinschleusen kann. Und wenn es mir zu riskant erscheint, gehen Sie nicht da rein.« Er zog die Tür hinter sich zu.

Einige Minuten lang blieb sie am Tisch sitzen, dann trat sie ans Fenster. Royd ging auf dem Motelparkplatz auf und ab und telefonierte. Mit dieser Reaktion von ihm hatte sie nicht gerechnet. Zwar war sie davon ausgegangen, dass er sein Versprechen, sie zu beschützen, halten würde, aber als sie vorgeschlagen hatte, sich in die Fabrik schmuggeln zu lassen, hatte er heftig abwehrend reagiert. Vielleicht kannte sie Royd doch noch nicht so gut, wie sie glaubte. Sie hatte angenommen, dass die verbitterte Besessenheit, mit der er sein Ziel verfolgte, Sanborne und Boch zur Strecke zu bringen, jeden anderen Aspekt seiner Persönlichkeit überschatten würde. Aber je länger sie mit ihm zusammen war, umso mehr Facetten seines komplexen Charakters enthüllte er ihr.

Zum Beispiel Begierde, dachte sie. Nicht dass sie das wunderte. Er war zweifellos ein ausgesprochen männlicher Typ, und dass Sex die Welt regierte, war ein alter Hut. Eher wunderte sie, wie sehr er um die Sicherheit von Kelly besorgt war, einem Mann, der für ihn arbeitete. Er hatte ihr erklärt, Kelly sei für sich selbst verantwortlich, aber ganz so kaltschnäuzig, wie er sich gab, war er anscheinend doch nicht.

Royd telefonierte immer noch, und Sophie wurde allmählich ungeduldig. Es widerstrebte ihr, hier zu warten, bis er zurückkam. Es widerstrebte ihr, nicht die Kontrolle zu haben. Nun, einen Bereich gab es immer noch, den sie unter Kontrolle hatte. Sie durchquerte das Zimmer und nahm ihr Handy aus ihrer Handtasche.

Kaum hielt sie es in der Hand, klingelte es.

 

»Ich hab dich auch lieb. Pass auf dich auf.« Sie drückte die Trenntaste und drehte sich zur Tür um, als sie Royd hereinkommen hörte. »Dave hat wieder angerufen. Ich dachte –« Sie brach ab, als sie Royds Gesichtsausdruck bemerkte. Er knallte die Tür zu und stürmte auf sie zu. »Was in aller Welt –«

Fluchend packte er sie an den Schultern. »Sie sind eine Idiotin. Ich hab Ihnen doch gesagt –«

»Nehmen Sie die Hände weg.«

»Besser meine als die von Sanborne. Verdammt, der wird Sie zerquetschen wie eine Laus. Warum zum Teufel gehen Sie so ein Risiko ein, bloß weil Sie eine Schwäche für einen ehemaligen Liebhaber haben? Oder vielleicht ist er ja immer noch Ihr Liebhaber. Warum haben Sie nicht auf mich gehört, als ich –«

»Nehmen Sie Ihre Hände weg«, wiederholte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Sonst mache ich Sie zum Eunuchen, so wahr mir Gott helfe.«

»Versuchen Sie’s.« Sein Griff wurde fester. »Los, treten Sie. Mir ist danach, Ihnen weh zu tun.«

»Das ist Ihnen bereits gelungen. Ich kriege blaue Flecken an den Schultern. Zufrieden?«

»Warum sollte ich nicht –« Er brach ab, und die Wut verschwand aus seinem Gesicht. »Nein.« Er ließ ihre Schultern los. »Nein, ich bin nicht zufrieden.« Er trat einen Schritt zurück. »Ich wollte Ihnen nicht – Mist. Aber Sie hätten Daves Anruf nicht annehmen dürfen.«

»Hab ich auch nicht.« Sie steckte ihr Handy zurück in die Handtasche. »Ich habe nie behauptet, ich hätte mit ihm gesprochen. Ich habe lediglich gesagt, er hat angerufen. Sie haben mich ja gar nicht ausreden lassen. Er hat gestern Abend angerufen und eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen. Dann hat er heute Abend wieder angerufen. Ich fand es einfach merkwürdig, dass er es wieder versucht hat, wo er doch annehmen müsste, dass ich tot bin.«

»Mit wem haben Sie dann telefoniert?«

»Na, was glauben Sie wohl? Michael hat angerufen. Sie sind gerade auf dem MacDuff’s Run angekommen.«

»Aha.« Er schwieg einen Moment. »Ich hab Mist gebaut, stimmt’s?«

»Einen ganzen Misthaufen, Sie Scheißkerl. Ich habe Daves Anruf nicht ignoriert, weil Sie es mir gesagt haben, sondern weil ich es selbst für das Klügste halte.« Sie sah ihn wütend an. »Und fassen Sie mich nie wieder an.«

»Keine Sorge.« Er lächelte schief. »Das wäre mir viel zu gefährlich.«

»Gut so.«

»Tut mir leid, dass ich einen Augenblick lang die Beherrschung verloren habe.«

»Das war länger als ein Augenblick, und ich nehme Ihre Entschuldigung nicht an.«

»Dann werde ich mir wohl etwas mehr Mühe geben müssen, das wiedergutzumachen. Am besten versuche ich Sie abzulenken: Kelly hat gesagt, er kann die Überwachungskameras für etwa zwölf Minuten ausschalten.«

Sie runzelte die Stirn. »Nur zwölf Minuten?«

»Das reicht jedenfalls nicht, um den Safe zu finden, die CDs rauszuholen und wieder zu verschwinden.«

»Das wäre ziemlich knapp.«

»Viel zu knapp. Wir blasen die Aktion ab.«

»Kommt gar nicht in Frage. Lassen Sie mich einen Moment nachdenken.«

Er nickte langsam. »Es geht erst morgen los. Aber wir müssen Kelly genug Zeit geben, um den Stromausfall vorzubereiten.«

»Wenn Kelly so ein versierter Safeknacker ist, wie Sie behaupten, dann könnten wir es schaffen. Ich werde nicht lange brauchen, um den Inhalt des Safes durchzusehen, die entscheidenden CDs würde ich auf Anhieb erkennen. Aber zwölf Minuten sind – Ich werd’s mir überlegen.« Sie ging zur Zwischentür, die die beiden Zimmer verband. »Gute Nacht, Royd.«

»Gute Nacht. Lassen Sie die Zwischentür angelehnt und verriegeln Sie die Außentür.« Dann fügte er hinzu: »Und keine Widerrede.«

»Ich gebe gern Widerworte, aber ich bin nicht dumm. Bleiben Sie ruhig die ganze Nacht auf und beschützen Sie mich. Das würde Ihnen recht geschehen.«

»Ja, ich stimme Ihnen zu«, antwortete er feierlich. »Wie geht es übrigens Michael?«

»Besser, als ich gehofft hatte. Er ist vollkommen begeistert von MacDuff’s Run. Aber welcher Junge wäre das nicht?« Sie hob die Schultern. »Ein schottisches Schloss und ein Gutsherr, der einem jeden Wunsch von den Lippen abliest.«

»Nach allem, was ich von Jock über MacDuff weiß, passt die Beschreibung eher nicht auf ihn. Aber ich bin mir sicher, dass er sich gut um Michael kümmert.«

»Jock hat mir versprochen, dass sie das beide tun. Ich hoffe nur, dass Michael dort wirklich in Sicherheit ist«, sagte sie müde. »Bis morgen früh, Royd.« Sie wartete nicht auf eine Antwort. Wenige Minuten später zog sie Jeans und Bluse aus und streifte sich ein hellgelbes Nachthemd über den Kopf. Gelb? Seltsam, dass Royd diese Farbe gewählt hatte. Sie hätte eher mit marineblau oder jägergrün gerechnet …

Es wäre ein Wunder, wenn sie nach der ausgiebigen Nachmittagsruhe schlafen konnte. Aber vielleicht war es auch besser so. Sie konnte im Bett liegen und darüber nachdenken, ob sie tatsächlich ihren Hals riskieren und morgen versuchen sollten, in weniger als zwölf Minuten die CDs aus der Fabrik zu entwenden.

 

»Sie meldet sich nicht.« Dave Edmunds schaltete sein Handy aus. »Ich habe wieder nur ihre Mailbox erreicht. Ich hab Ihnen ja gleich gesagt, dass sie nicht rangehen würde. Wahrscheinlich ist ihr Handy bei der Explosion zu Klump geschmolzen oder in den Nachbargarten geschleudert worden. Die Polizei hat gesagt, sie hätten als Allererstes versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen.«

»Es war einen Versuch wert.« Larry Simpson zuckte die Achseln. »Wie gesagt, manchmal ist die Polizei nicht gründlich genug. Die haben einfach nicht genug Leute. Aber ich bin freier Journalist, und das bedeutet, dass ich alle Zeit der Welt habe. Ich hatte auf eine nette Story gehofft.«

»An dieser ganzen Geschichte ist nichts Nettes«, entgegnete Edmunds verbittert. »Mein Sohn ist tot. Meine Exfrau ist tot. Das hätte nicht passieren dürfen. Irgendjemand wird dafür bezahlen. Die Gaswerke werde ich auf Schadensersatz verklagen. Die werden nicht ungeschoren davonkommen.«

»Gute Entscheidung.« Simpson stand auf. »Hier, meine Karte. Falls ich Ihnen behilflich sein kann, brauchen Sie nur anzurufen.«

»Vielleicht tue ich das.« Edmunds’ Mundwinkel zuckten. »Wer glaubt, dass Prozesse nur vor Gericht ausgefochten werden, ist ein Idiot.«

»Sie sind Anwalt, Sie müssen es ja wissen.« Simpson warf einen Blick auf seine Notizen. »Hat Ihr Sohn außer diesem Jock Gavin sonst noch jemanden erwähnt, den Ihre Frau aufsuchen könnte?«

»Nein.«

»Und er hat nur gesagt, dass es sich um einen Vetter Ihrer Exfrau handelt. Weiter hat er nichts erzählt?«

»Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt.« Er sah Simpson durchdringend an. »Und Sie kommen mir allmählich nicht ganz koscher vor, Simpson. Ich habe Sie in mein Haus gelassen und Ihre Fragen beantwortet, weil ich womöglich die Unterstützung der Öffentlichkeit brauchen werde. Aber Sie sind mir ein bisschen zu aufdringlich. Vielleicht haben die Gaswerke Sie ja zu mir geschickt, um mir ein bisschen auf den Zahn zu fühlen.«

»Sie haben doch meinen Ausweis gesehen.«

»Und ich werde Ihre Angaben gleich morgen früh überprüfen.«

»Tut mir leid, dass Sie mich verdächtigen«, entgegnete Simpson ernst. »Auch wenn es absolut verständlich ist. Vielleicht können wir uns noch einmal ausführlicher unterhalten, nachdem Sie morgen Ihre Erkundigungen eingezogen haben.«

»Vielleicht.« Edmunds durchquerte das Zimmer und öffnete die Haustür. »Aber jetzt möchte ich mit meiner Trauer allein sein. Gute Nacht.«

Simpson nickte mitfühlend. »Selbstverständlich. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Edmunds folgte ihm auf die Veranda und schaute ihm nach, als er zu seinem Wagen ging, der am Straßenrand geparkt stand.

Beim Losfahren warf Simpson einen Blick in den Rückspiegel.

Verdammter Mist.

Nachdem er um die Ecke gebogen war, klappte er sein Handy auf.

»Er hat mein Autokennzeichen, Sanborne«, sagte er, als Sanborne abnahm. »Und er will meine Angaben morgen überprüfen.«

»Dann haben Sie ihn offenbar nicht gut genug von Ihren hehren Absichten überzeugt.«

»Ich habe mein Bestes getan. Was erwarten Sie eigentlich? Der verdächtigt jeden. Der Mann ist Anwalt, Herrgott noch mal.«

»Okay, regen Sie sich ab. Womit können wir ihn beruhigen?«

Simpson überlegte. »Er will die Gaswerke auf Schadensersatz verklagen. Er dachte, die hätten mich womöglich geschickt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er auf Rache oder auf die dicke Kohle aus ist.«

»Dann werden wir das herausfinden. Anwälte sind immer bereit, sich auf einen Deal zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft einzulassen. Das dürfte – Moment.« Sanborne ging kurz aus der Leitung. »Verdammt, die Feuerwehr hat soeben bekanntgegeben, dass in dem ausgebrannten Haus keine Leichen gefunden wurden.«

»Dann brauchen wir uns ja um Edmunds keine Sorgen mehr zu machen.«

»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.« Sanborne holte tief Luft. »Sehen Sie zu, dass Sie ihn morgen beschwichtigen können, und vereinbaren Sie ein Treffen, um im Auftrag der Gaswerke über seine Forderungen zu diskutieren. Da er keinen Beweis dafür hat, dass sein Sohn ums Leben gekommen ist, wird er sich auf Verhandlungen einlassen. Haben Sie sonst noch was in Erfahrung gebracht?«

»Dunston hat sich nicht gemeldet, als er sie auf ihrem Handy angerufen hat. Und der Junge hat seinem Vater neulich erzählt, dass seine Mutter seit Monaten ziemlich viel mit einem Vetter namens Jock Gavin zu tun hatte.«

Schweigen. »Jock Gavin?«

»Das ist der Name, den er mir genannt hat.«

»Ich werd verrückt.«

»Sie kennen ihn?«

»Ja, ich kannte ihn mal. Und seitdem ich ihn aus den Augen verloren habe, sind mir einige sehr eindrucksvolle Geschichten über ihn zu Ohren gekommen.«

»Was denn für –«

»Kommen Sie auf schnellstem Weg hierher zurück. Ich muss mit Ihnen darüber reden, wie wir Edmunds morgen austricksen.«

»Sollen wir ihn nicht lieber ein bisschen schmoren lassen?«

»Nein, ich will nicht warten. Hören Sie auf, mit mir zu diskutieren.« Er legte auf.