8

3:00 UHR.

Sophie drehte sich zum wiederholten Male im Bett um, auf der Suche nach einer kühlen Stelle auf dem Kopfkissen. Sie musste sich entspannen, verdammt. Sie hatte recht behalten, diese stundenlange Nachmittagsruhe war schuld daran, dass sie jetzt einfach keinen Schlaf fand. Seit vier Stunden wälzte sie sich nun schon im Bett herum. Wenn die Zwischentür nicht einen Spaltbreit offen stünde, hätte sie längst den Fernseher eingeschaltet und sich irgendeinen langweiligen alten Film angesehen. Seit Royd vor Stunden das Licht gelöscht hatte, war kein Laut mehr aus seinem Zimmer gekommen. Sie musste ihn ja nicht auch um den Schlaf bringen, bloß weil sie kein Auge –

Jetzt hörte sie ein Geräusch aus seinem Zimmer.

Heiseres, unregelmäßiges Atmen. Kein Stöhnen oder Schreien. Nur dieses rasselnde Atmen.

Angespannt lauschte sie.

Wenn das Royd war, klang er, als hätte er Schmerzen.

Es musste Royd sein. Sie hätte es gehört, wenn jemand die Tür geöffnet hätte.

Vielleicht lag ihm ja das chinesische Essen schwer im Magen. Das ging sie nichts an.

Blödsinn. Sie war schließlich Ärztin. Das Recht, die Schmerzen eines anderen zu ignorieren, hatte sie aufgegeben, als sie den Eid geleistet hatte. Manchmal wünschte sie, sie könnte sich einfach taub stellen. Wie zum Beispiel jetzt.

Verdammt, vielleicht hatte er ja nur einen ganz normalen Alptraum.

Vielleicht aber auch nicht. Sie neigte dazu, jedes Leiden mit ihren schlimmen Erfahrungen in Zusammenhang zu bringen. Selbst wenn es also nur ein Alptraum war, musste sie Royd wecken.

Anstatt sich den Kopf zu zerbrechen, sollte sie lieber handeln.

Sie stieg aus dem Bett und riss die Tür auf. Royd lag auf dem Bauch, halb mit einem Laken bedeckt.

Sie schaltete die Nachttischlampe ein. »Ich habe Sie gehört. Was ist –«

Er warf sie zu Boden und kniete sich auf sie!

Seine Hände umklammerten ihren Hals.

Sie drehte den Kopf und biss ihn in die Hand.

Sein Griff wurde kein bisschen lockerer. Er starrte sie an, aber sie war sich nicht sicher, ob er sie sah. Sein Gesicht war wutverzerrt.

Mit aller Kraft schlug sie ihn mit der Faust in die Genitalien.

Er grunzte vor Schmerzen und lockerte seinen Griff ein wenig.

Sie versuchte, unter ihm wegzurollen, doch er hatte sie mit den Beinen in der Zange. Sie grub ihre Fingernägel in seinen Oberschenkel.

»Scheiße!« Die Wut verschwand aus seinem Gesichtsausdruck, und er schüttelte den Kopf, um wach zu werden. »Sophie? Was zum Teufel haben Sie vor? Wollen Sie mich umbringen?«

»Ich versuche zu überleben, Sie Mistkerl. Was glauben Sie wohl, was ich hier tue? Lassen Sie mich los.«

Langsam stand er auf. »Alles in Ordnung?«

»Nein. Das ist heute schon das zweite Mal, dass Ihre verdammten Hände mich gepackt haben.« Sie riss ihr Nachthemd nach unten, als er sie auf die Beine zog. »Wenn ich mich Ihnen das nächste Mal nähere, bringe ich eine Pistole mit.«

»Auch ohne Waffe haben Sie schon beträchtlichen Schaden angerichtet.« Er verzerrte das Gesicht vor Schmerz. »Ich erinnere mich, dass Sie mir angedroht haben, mich zum Eunuchen zu machen.«

»Wenn ich ein Messer gehabt hätte, hätte ich es getan«, presste sie zwischen ihren Zähnen hervor. »Ich dachte, Sie bringen mich um.«

»Sie hätten mich nicht überrumpeln sollen.«

»Ich habe nicht versucht, Sie zu überrumpeln. Ich habe lediglich das Licht eingeschaltet. Ich hab Sie nicht mal angefasst. Sie hatten keinen Grund –«

»Warum?«, fiel er ihr ins Wort. »Was ist passiert? Warum sind Sie hier reingekommen?«

»Weil Sie – Es klang nicht, als würden Sie nur träumen. Ich wollte nicht riskieren – Ich kenne Ihre Krankengeschichte nicht. Ich dachte, Sie wären vielleicht krank. Oder Sie hätten einen Schlaganfall erlitten. Sie klangen, als ob – Herrgott, was bin ich für eine Idiotin.« Sie wandte sich ab. »Das nächste Mal weiß ich’s besser.«

»Ach, und wenn ich einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall habe, überlassen Sie mich einfach meinem Schicksal?« Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Sophie.«

»Offenbar war es weder das eine noch das andere, sonst hätten Sie nicht die Kraft gehabt, mich beinahe umzubringen.«

»Hab ich Ihnen weh getan?«

»Ja.«

»Tut mir leid.« Er schaute sie an. »Wie kann ich das wiedergutmachen? Was verlangen Sie von mir?«

»Nichts.«

Er legte ihr eine Hand auf den Arm. »Ich habe Ihnen weh getan. Das wollte ich nicht, aber Worte sind hohl. Ich tue alles, um das wiedergutzumachen. Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen.«

Er meinte es tatsächlich ernst. Sein Blick war so intensiv, dass sie sich nicht abwenden konnte. Sie fühlte sich seltsam erschüttert. »Ich will nichts von Ihnen. Lassen Sie mich gehen. Ich leg mich wieder ins Bett.«

Langsam ließ er seinen Arm sinken. »Danke, dass Sie versucht haben, mir zu helfen. Aber tun Sie das lieber nicht noch einmal.« Er lächelte matt. »Wenn Sie mich aus einem Alptraum wecken wollen, werfen Sie ein Kissen nach mir und rufen Sie mir von der Tür aus etwas zu. Das ist weniger gefährlich.«

Sie erstarrte. »Es war also ein Alptraum? Das dachte ich zuerst, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Es klang, als hätten Sie schreckliche Schmerzen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«

Er nickte. »O ja. Es war ein Alptraum.«

»Wovon haben Sie denn geträumt?«

»Von der Jagd, vom Tod. Die Einzelheiten wollen Sie ganz sicher nicht wissen.«

Doch, wollte sie. Aber natürlich hatte er nicht vor, darüber zu sprechen. »Sind Sie jemals im Zusammenhang mit diesen Träumen geschlafwandelt?«

»Nein. Glauben Sie etwa, ich hätte diese nächtlichen Attacken für normale Alpträume gehalten?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist ein Alptraum. Wie Sie wissen, kommen Alpträume gewöhnlich während der REM-Phase und nicht im Tiefschlaf. Sie treten also am Ende meines Schlafzyklus auf, nicht am Anfang. Mein Körper wirkt dann wie gelähmt, ich schlage also nicht um mich, sondern meine Glieder fangen an zu zucken, und ich schreie auch nicht. Mein Puls geht schneller, aber lange nicht so schnell wie bei den Angstanfällen. Beim Aufwachen erinnere ich mich an jedes Detail des Traums, was bei den Nachtattacken eher ungewöhnlich ist.«

Sie schaute ihn überrascht an. »Sie sind ja richtig beschlagen. Sind Sie in Behandlung?«

»Gott, nein. Aber als der Mist anfing, wusste ich, dass ich das irgendwie in den Griff kriegen muss, also hab ich mich schlaugemacht.«

»Meiner Meinung nach haben Sie das Problem aber keineswegs in den Griff bekommen. Sie haben lediglich erfahren, um was es sich handelt. Sie sollten sich vielleicht in Behandlung begeben.«

»Wirklich?« Er legte den Kopf schief. »Habe ich etwa Ihr professionelles Interesse geweckt?«

Sie befeuchtete sich die Lippen. »Haben die Träume irgendwas mit Garwood zu tun?«

Er antwortete nicht gleich. »Ja. Was dachten Sie denn?«

»Genau das.« Sie wandte sich ab. »Setzen Sie sich und atmen Sie ein paarmal tief durch. Sie müssen sich entspannen. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.«

»Warum?«

»Tun Sie, was ich Ihnen sage.«

Er runzelte die Stirn. »Ich will mich nicht von Ihnen bedienen lassen. Ich kann mir selbst ein verdammtes Glas Wasser holen.«

»Setzen Sie sich und halten Sie die Klappe. Ich bin gleich wieder da.«

Er hob die Brauen. »Darf ich mir was anziehen?«

»Warum? Nacktheit irritiert mich nicht, und Sie werden sich sowieso wieder ins Bett legen, sobald Sie sich entspannt haben.«

Er blickte an sich hinunter. »Nackt mit Ihnen in einem Zimmer zu sein wird ganz bestimmt nicht dazu beitragen, dass ich mich entspanne.«

»Machen Sie, was Sie wollen.« Sie verschwand im Bad. Auch sie würde sich beim Anblick von Royds nacktem Körper nicht entspannen können, dachte sie. Eher bekäme sie weiche Knie, und das hatte ihr gerade noch gefehlt. Aber das ihm gegenüber zuzugeben kam nicht in Frage.

Sie füllte ein Glas mit Wasser und ging zurück ins Zimmer. Royd saß in einem Sessel, die Beine vor sich ausgestreckt. Er hatte sie beim Wort genommen und sich nicht angezogen.

Verdammt.

Sie reichte ihm das Glas und setzte sich auf einen der Stühle an dem kleinen Tisch, an dem sie zu Abend gegessen hatten. »Sie schwitzen. Passiert das immer während des Traumzyklus?«

Er nickte.

»Wie oft haben Sie diesen Alptraum?«

»Zwei-, dreimal pro Woche.« Er trank einen Schluck. »Manchmal häufiger. Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Wie müde ich bin. Überschüssige Energie scheint zu solchen Träumen zu führen.« Er zuckte die Achseln. »Erschöpfung scheint das Gegenteil zu bewirken.«

»Durchaus möglich. Oder sie sorgt rechtzeitig für Spannungsabbau, ehe der Alptraum das im Schlaf übernehmen muss.«

»Diese Alpträume sind kein Entspannungsmechanismus, sondern ein Hinterhalt.« Er legte den Kopf schief und musterte sie. »Warum stellen Sie mir all diese Fragen? Was haben Sie vor?«

»Ich bin Ärztin, und ich habe mich auf Schlafstörungen spezialisiert. Ich möchte Ihnen helfen. Ist das so schwer zu verstehen?«

»In Anbetracht der Tatsache, dass ich Sie vor fünf Minuten beinahe erwürgt hätte, ja.«

»Sie waren nicht bei Sinnen. Sie wussten nicht, was Sie tun.«

»Versuchen Sie jetzt, Entschuldigungen für mein Verhalten zu finden?«

»Nein, Ursache und Wirkung festzustellen gehört nun mal zu meinem Beruf. Kurz nach Abschluss meines Medizinstudiums hatte ich einen Patienten, der mich so brutal geschlagen hat, dass er mir fast die Nase gebrochen hätte.« Sie verzog das Gesicht bei der Erinnerung. »Das hat er natürlich nicht gewollt, es war nur ein Reflex. Aber seither bin ich etwas vorsichtiger.«

»Diesmal waren Sie aber nicht sehr vorsichtig.«

»Ich wusste ja nicht, dass Vorsicht geboten war. Sie wirkten –«

»Geistig gesund?«

»Beherrscht«, sagte sie.

»Ich bin beherrscht.« Er verdrehte die Augen, als er ihren skeptischen Blick bemerkte. »Okay, außer wenn ich es nicht bin.«

»Haben Sie schon mal versucht, was zu nehmen?«

»Nein, ich werf nichts ein, niemals«, erwiderte er knapp. »Ich will doch nicht die Pest mit der Cholera bekämpfen.«

Sie zuckte zusammen. »Ich wollte Ihnen nicht vorschlagen – In manchen Fällen ist es förderlich, sich vor dem Einschlafen mit einem Hilfsmittel zu entspannen.«

»Richtig. Das habe ich festgestellt, als die Träume anfingen. Ich habe es mit allen möglichen Hilfsmitteln probiert. Mit Poker, Kreuzworträtseln, Schach. Aber mentale Stimulation half nicht. Ich musste mich körperlich erschöpfen, irgendwie. Eine Zeitlang bin ich jeden Abend zehn Kilometer gelaufen.«

»Das sollte eigentlich ausreichen, um einen zu erschöpfen.«

»Manchmal.« Er schaute sie an. »Mit Sex funktioniert es noch besser.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort.« Sie musterte ihn argwöhnisch. »War das ein Versuch, mich in Verlegenheit zu bringen?«

»Nein, nur eine Klarstellung. Sie haben mich gefragt, was mir hilft.«

»Und Sie wollten nur meine Frage beantworten.«

Er lächelte. »Nein, eigentlich war es ein Versuch, Sie zu verführen. Aber es stimmt. Es gibt keine bessere Entspannungsmethode als Sex. Meinen Sie nicht?«

»Wenn ich Ihnen zustimme, heize ich damit nur dieses Gespräch an, und daran bin ich nicht interessiert. Wollen Sie mir erzählen, wovon Ihr Traum gehandelt hat?«

»Nein. Nicht jetzt. Vielleicht, wenn wir uns ein bisschen besser kennen.«

Sein anzügliches Grinsen ließ keinen Zweifel daran, wie er das meinte. Er stand auf.

»Scheren Sie sich zum Teufel. Ich wollte Ihnen helfen, aber ich hätte mir denken können, worauf es hinauslaufen würde.«

Sein Grinsen verschwand. »Ich möchte nicht Ihr Patient sein, Sophie. Ich bin nicht Ihr Sohn. Dass Sie meine Hand halten und mich trösten ist das Letzte, was ich will. Und mir liegt auch nichts daran, gänzlich von meinen Alpträumen geheilt zu werden.«

»Dann müssen Sie verrückt sein.«

»Was für ein Ausdruck. Wie außerordentlich unprofessionell von Ihnen.«

»Ich erlebe immer wieder, wie sehr Michael leidet, und ich weiß, wie schrecklich diese Alpträume sein können. Wissen Sie, dass nightmare, das englische Wort für Alptraum, von mara kommt? Und mara kommt aus dem Altsächsischen und bedeutet ›Dämon‹. Alpträume können einen genauso quälen wie die Dämonen, nach denen sie benannt sind. Sie mögen nicht so gefährlich sein wie Pavor nocturnus, aber sie sind schlimm genug. Warum zum Teufel wollen Sie sie nicht loswerden?«

Er schwieg einen Augenblick. »Weil sie meine Erinnerung wach halten. Weil sie das Feuer meiner Wut schüren. Weil sie dafür sorgen, dass ich mein Ziel nicht aus den Augen verliere.«

Allmählich bekam sie eine Vorstellung von diesem Feuer der Wut, das unter seiner harten Oberfläche glühte. »Mein Gott, dass Sie sich so etwas antun. Ich weiß, was für Qualen solche Träume bedeuten.«

»Das haben Sanborne und Boch mir angetan. Es war ihr Geschenk an mich. Und ich werde es noch eine Weile behalten, damit ich es gegen meine Wohltäter einsetzen kann. Also vergeuden Sie Ihr Mitleid nicht an mich.«

»Tu ich nicht.«

»Doch, das tun Sie. Sie können ja gar nicht anders. Sie sind ein Gutmensch, der versucht, die ganze Welt auf den Schultern zu tragen.« Er ging zum Bett. »Sie würden nicht bis über beide Ohren in diesem Schlamassel stecken, wenn Sie nicht versucht hätten, Ihrem Vater zu helfen. Sie leiden, weil Sie Ihrem Sohn nicht helfen können. Und jetzt glauben Sie, ich würde Sie auch noch brauchen, dabei könnte ich Sie nach Strich und Faden manipulieren, wenn ich wollte.« Er legte sich ins Bett und deckte sich zu. »Aber das will ich nicht. Also gehen Sie zurück in Ihr Bett und lassen Sie mich schlafen.«

»Das werde ich, Sie Scheißkerl.« Sie ging zur Tür. »Und ich wünsche Ihnen, dass Ihre Alpträume sich zu Schlafterror auswachsen und dass Sie Ihr Leben lang –« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. »Nein, das wünsche ich Ihnen nicht. Das nicht.«

»Sehen Sie?«, sagte Royd leise. »Sie trauen sich nicht mal, mich zu verfluchen.«

»Diese schrecklichen Alpträume haben für mich eine ganz persönliche Bedeutung. Aber es gibt noch andere Schrecken, die ich Ihnen an den Hals wünschen könnte, und einige davon sind schrecklich genug, einen Mann wie Sie erbleichen zu lassen.«

»Ach? Und welche wären das?«

Sie schenkte ihm einen kühlen Blick. »Mögen Ihre Eier verschrumpeln und mögen Sie eine Allergie gegen Viagra und alle ähnlichen Mittel entwickeln.«

Er sah sie verblüfft an. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Gott, Sie sind wirklich eine unglaubliche Frau!«

»Nein, bin ich nicht. Ich bin ein Gutmensch, schon vergessen?«

Sie schlug die Tür hinter sich zu.

 

»Schläft der Junge noch?«, fragte MacDuff, als Jock die Treppe herunterkam.

»Der wird auch vorerst nicht aufwachen. Er war letzte Nacht so aufgekratzt, dass er erst gegen drei eingeschlafen ist.«

»Kommst du mit auf einen Spaziergang? Wir müssen reden.«

Jock schüttelte den Kopf. »Ich darf Michael keine Minute allein lassen. Das habe ich Sophie versprochen.«

»Ich habe dir doch diese Manschette mit dem Funkempfänger besorgt.«

»Aber wenn er einen Anfall hat und eine Apnoe erleidet, wenn ich zehn Minuten weit weg bin, haben wir hinterher einen toten Jungen.«

»Also gut«, sagte MacDuff. »Dann komm eben mit in den Hof. Von da aus ist man innerhalb von drei Minuten in jedem Zimmer des Schlosses.« Er lächelte. »Das müsstest du wissen, schließlich bist du als kleiner Junge hier ein und aus gegangen.«

»Und Sie haben mir nie das Gefühl gegeben, minderwertig zu sein, weil meine Mutter als Haushälterin für Sie gearbeitet hat«, sagte Jock, während er MacDuff in den Hof folgte. »Erst als ich die Wirklichkeit kennengelernt habe, ist mir klargeworden, dass Sie sich wie ein richtiger Mistkerl hätten aufführen können.«

»Das hier ist die Wirklichkeit, Jock.«

Jock blickte hinauf zu den Schlosstürmchen. »Für Sie. Das hier ist Ihre Geschichte. Dieses Schloss ist sozusagen ein Teil von Ihnen. Für mich ist es eine schöne Erinnerung und ein Ort, an dem ein Freund wohnt.«

»Für dich sollte es auch ein Zuhause sein.«

Jock schüttelte den Kopf.

MacDuff schwieg einen Augenblick und schaute in die Ferne. »Ich möchte, dass du hierbleibst. Ich habe dich gehen lassen, weil ich wusste, dass du Abstand von mir brauchtest. Du hast dich von meiner Fürsorge erdrückt gefühlt, weil du … nicht du selbst warst.«

Jock lachte in sich hinein. »Sie meinen, weil ich verrückt war.«

MacDuff lächelte. »Sagen wir einfach, dass du hin und wieder orientierungslos warst und keine Kontrolle über dich selbst hattest.«

»Nennen Sie es ruhig verrückt«, erwiderte Jock. »Das verletzt mich nicht. Es kommt immer noch hin und wieder vor, dass ich mich nicht ganz unter Kontrolle habe.« Ihre Blicke begegneten sich. »Aber es passiert immer seltener. Und ich brauche mich nicht ständig hier unter Ihren Argusaugen zu bewegen. Sie haben weiß Gott genug für mich getan und sich genug Sorgen um mich gemacht.«

»Unsinn. Ich werde mich so lange um dich kümmern, bis du komplett geheilt bist.« MacDuff sah ihn ernst an. »Und was wäre, wenn ich dir sage, dass ich dich brauche? Nicht umgekehrt?«

»Das würde ich Ihnen nicht glauben. Sie haben doch schon gesagt, dass Sie Ihr Ungeziefer selbst vernichten.«

»Himmelherrgott, du bist mir mehr wert als ein verdammter Kammerjäger. Du hast Grips.«

»Sie glauben also, ein Kammerjäger braucht keinen Grips?«

»Jock.«

»Also gut, dann sagen Sie mir, wozu Sie meinen Grips brauchen.«

»Ich habe Ciras Gold immer noch nicht gefunden.«

»Ciras Gold?« Jock musste lachen. »Haben Sie etwa wieder angefangen, nach diesem verschollenen Familienschatz zu suchen?«

»Ich habe nie damit aufgehört. Seit einem Jahr suche ich immer wieder danach. Ich werde MacDuff’s Run nicht an den National Trust verlieren. Das Schloss und die Ländereien gehören mir.«

»Aber Ciras Gold könnte sich als Mythos entpuppen.«

»Bleib hier, dann werden wir es gemeinsam herausfinden. Was für ein Abenteuer, Jock.« In einem verschwörerischen Ton fuhr er fort: »Ich habe inzwischen fast jeden Winkel abgesucht. Ich brauche jemanden, der unbefangen an die Sache herangeht und mir hilft, die Sache noch einmal ganz von vorne aufzuziehen.«

Jock reizte die Vorstellung. MacDuff wusste wirklich, wie er einen kriegen konnte. »Sie wollen mich doch bloß von Sophie und dem Jungen ablenken.«

»Einerseits. Aber ich brauche dich wirklich. Du bist für mich wie ein Sohn, und bei der Suche nach dieser Truhe voller Gold würde ich niemand anderem trauen. Hilf mir, Jock.«

»Ich werd’s mir überlegen.«

»Tu das.« MacDuff klopfte ihm auf die Schulter. »Du hast keinen Grund, nach Amerika zurückzukehren. Wir kümmern uns um den Jungen, bis diese Sache ausgestanden ist, und dann werde ich ihn höchstpersönlich wieder zu seiner Mutter bringen.« Als er Jocks Gesichtsausdruck bemerkte, zuckte er die Achseln. »Also gut, du kannst ihn nach Hause bringen. Hauptsache, du kommst mit dem nächsten Flugzeug wieder hierher zurück.«

»Ich finde, das geht ein bisschen zu weit.«

»Hast du mich jemals als zurückhaltend erlebt?«

»Nein, nie.« Sein Lächeln verschwand. »Aber es wird vielleicht nicht reichen, einfach abzuwarten, bis alles vorbei ist, und Michael dann nach Hause zu bringen. Möglicherweise habe ich Sanborne auf Sie aufmerksam gemacht. Während des Flugs hierher ist mir durch den Kopf gegangen, dass Sophies Exmann von mir weiß. Michael hat ihm erzählt, ich wäre Sophies Vetter, aber jetzt kennt Edmunds auch meinen Namen. Und was Edmunds weiß, wird Sanborne auch bald erfahren.«

»Damit befassen wir uns, wenn es so weit ist.«

»Sanborne ist ein sehr einflussreicher Mann.«

»Hier nicht. Nicht auf meinem Land. Nicht bei meinen Leuten. Soll er ruhig kommen.«

Jock lachte. Die Antwort war so typisch für MacDuff, dass er sich wieder wie zu Hause fühlte. »Dann werden Sie also auch nicht wollen, dass ich den Jungen irgendwo anders verstecke.«

»Was redest du für einen Unsinn? Ich habe die Verantwortung für den Jungen übernommen. Wenn du ihn mir wegnehmen willst, wirst du dich schon mit mir anlegen müssen.«

»Das möchte ich lieber gar nicht erst versuchen.« Er ging die Treppe hinauf. »Ich muss nach Michael sehen. Er mag vielleicht im Moment keine Alpträume haben, aber er ist ein Kind und sehr weit weg von zu Hause.«

»Er ist zehn. Du warst erst fünfzehn, als du von zu Hause weggelaufen bist, um die Welt zu erobern.«

»Das war meine Entscheidung, wenn auch keine besonders kluge, aber Michael ist nicht freiwillig hergekommen«, sagte er über die Schulter hinweg. »Und am Ende mussten Sie mich suchen und mir das Leben retten. Michael hat im Moment niemanden außer mir.«

»Dann ist er ein Glückspilz«, sagte MacDuff ruhig. »Ich würde mich immer glücklich schätzen, dich auf meiner Seite zu haben, Jock.«

Einen Moment lang wusste Jock nicht recht, was er sagen sollte. Er war immer MacDuffs Mündel gewesen. Im Prinzip war ihm zwar klar, dass er und MacDuff einander inzwischen ebenbürtig waren, aber gefühlsmäßig hatte er das noch längst nicht verarbeitet. Er war gerührt und rang sich ein Lächeln ab. »Gut zu wissen. Bedeutet das also, dass Sie nicht vorhaben, Michael und mich zu unserer eigenen Sicherheit in einem dunklen Verlies einzusperren?«

»O nein, das bedeutet das ganz und gar nicht. Ich tue immer, was nötig ist.« Grinsend folgte er Jock die Treppe hoch. »Aber im Moment steht das Verlies unter Wasser, seit es im Frühjahr so heftig geregnet hat. Wahrscheinlich hast du also Glück, und dieses Schicksal wird dir erspart bleiben.«

 

»Sie haben rausgefunden, dass Sie und Michael nicht in dem Haus waren«, sagte Royd, als Sophie am nächsten Morgen ins Zimmer kam. »Die Feuerwehr hat gestern Abend bekanntgegeben, dass keine Leichen gefunden wurden.«

»Irgendwann musste das ja bekannt werden.«

Er nickte. »Wir können von Glück reden, dass wir überhaupt so viel Zeit gewonnen haben. Aber von jetzt an müssen wir noch wesentlich vorsichtiger sein. Sie dürfen nirgendwo rumlaufen, wo Sie jemand erkennen könnte, denn nicht nur Sanborne und Boch werden hinter Ihnen her sein, auch die Polizei wird von Ihnen wissen wollen, warum Sie sich nicht gemeldet haben.«

»Ich habe nicht vor, irgendwo rumzulaufen, es sei denn, Sie haben eine produktive Aufgabe für mich.« Sie sah ihn durchdringend an. »Wie sieht’s aus?«

Er zuckte die Achseln. »Kelly hat angerufen. Er sagt, der beste Zeitpunkt, um durch einen Kurzschluss die Stromzufuhr zu unterbrechen, ist heute Abend um neun. Um diese Uhrzeit werden weitere Teile der Einrichtung aus den Labors abtransportiert, und wenn es plötzlich dunkel wird, werden sie alle übereinander stolpern. Je größer die Verwirrung, umso besser.«

»Und, kann er das arrangieren?«

»Er sagt ja«, erwiderte Royd knapp. »Er wartet nur auf grünes Licht von mir.«

»Dann geben Sie es ihm.«

»Nur, wenn mir etwas einfällt, wie ich Sie da wieder raushole.«

»Wenn Kelly mich da reinschleusen kann, dann wird er auch in der Lage sein, mich wieder rauszuschmuggeln.«

»Das ist nicht unbedingt gesagt. Vor allem, wenn das Licht wieder angeht.«

»Dann lassen Sie sich was einfallen. Ich gehe jedenfalls da rein.«

Er schwieg einen Moment. »Ich sage Kelly, er soll sich um Viertel vor neun mit uns draußen vor der Fabrik treffen, damit wir uns einen Plan zurechtlegen können.«

»Das wäre gut. Schließlich weiß ich ja nicht mal, wie der Mann aussieht. Haben Sie ein Foto?«

»Nein. Aber Kelly sieht aus wie ein rothaariger Fred Astaire.«

»Okay, das ist ja eine ziemlich brauchbare Beschreibung.«

»Und er ist ziemlich gut darin, sich aus gefährlichen Situationen rauszutanzen, aber ich möchte nicht, dass er heute Abend dazu gezwungen ist.« Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung Tisch. »Ich hab uns bei Hardee’s etwas Orangensaft und ein paar Sandwiches besorgt. Setzen Sie sich und essen Sie was.«

»Ich hab keinen Hunger.«

»Essen Sie trotzdem was, es wird Ihnen guttun. Dann haben Sie genug Energie, um auf mir rumzuhacken, wenn Ihnen danach ist. – Oder sind Sie immer noch zu sauer auf mich, um sich mit mir an einen Tisch zu setzen?«

»Ich lasse nicht zu, dass mir meine persönlichen Gefühle in die Quere kommen. So dumm bin ich nicht. Jock hat mich vorgewarnt, er meinte, ich würde mich mindestens einmal am Tag über Sie ärgern.« Sie setzte sich und wickelte das Sandwich aus. »Aber er hat reichlich untertrieben. Offenbar kennt er Sie nicht so gut, wie er glaubt.«

»Einen Teil meiner Persönlichkeit kennt er sehr gut, über den Rest kann er nur Vermutungen anstellen.«

»Und welchen Teil kennt er?«

»Den Teil, der sich an den Ketten wund gescheuert hat, den Teil, den er selbst aus eigener Erfahrung kennt.«

»Ketten?«

»Mentale, manchmal auch eiserne. Unterdrückung des freien Willens, das Wissen, dass einem nichts anderes übrigbleibt, als zu spuren.« Er lächelte spöttisch. »Sie sind dermaßen von Schuldgefühlen zerfressen, dass Sie glauben, Jock und ich wären es auch. Ich kann nicht für Jock sprechen, aber ich jedenfalls bin zu egoistisch, um mir wegen der Verbrechen, die ich begangen habe, als ich noch ferngesteuert war, graue Haare wachsen zu lassen. Es war grausam, von diesen Dreckskerlen zum Sklaven gemacht zu werden, so schwach zu sein, dass ich mich weder gegen die Wirkungen und Nebenwirkungen dieses verdammten Mittels wehren noch die Hurensöhne töten konnte, die es mir verabreicht haben.«

»Ich habe Ihnen das Mittel verabreicht«, flüsterte sie. »Oder zumindest so gut wie.«

»Blödsinn. Wenn ich das dächte, wären Sie längst tot.« Er setzte sich an den Tisch und öffnete die Saftpackung. »Also hören Sie auf zu lamentieren und gönnen Sie sich einen gesunden Egoismus, so wie ich.« Er füllte zwei Gläser mit Orangensaft. »Wenn Sie nichts mehr über Garwood hören wollen, halte ich die Klappe. Aber ich war schon immer der Meinung, dass Luft und Sonne Wunden heilen.«

»Und ein bisschen Hass als Zutat kann auch nicht schaden?«

Er nickte und hob sein Glas, wie um mit ihr anzustoßen. »Jetzt haben Sie’s kapiert.«

»Aber ich hasse Sanborne doch. Wie können Sie daran zweifeln?«

»Ich zweifle nicht daran. Aber wir gehen unterschiedlich damit um. Vielleicht liegt es daran, dass Sie einen heilenden Beruf ausüben und mein Job im Prinzip aus dem besteht, was ich in Garwood gelernt habe.«

»Und Sie müssen das Feuer schüren.«

»O ja.«

Sie wechselte das Thema. »Wo werden wir uns mit Kelly treffen?«

»Ungefähr drei Kilometer von Sanbornes Fabrik entfernt fließt ein Bach. Dort gibt es nirgendwo Überwachungskameras.«

Den Bach hatte sie gesehen, als sie vor Sanbornes Wachleuten geflüchtet war. »Hat er den Safe schon lokalisiert?«

»Er hat einen Safe lokalisiert. Der befindet sich in einem Büro in der Nähe des Labors, aber das Büro gehört zu keinem der leitenden Angestellten, sondern zur Personalabteilung.«

»Es könnte trotzdem Sanbornes Safe sein. Ein Trick, um neugierige Nasen irrezuführen.«

Royd nickte. »Es würde sich lohnen, dass Kelly das überprüft, aber ich bin mir nicht sicher, ob es sich lohnen würde, Sie da reingehen zu lassen.«

»Ich schon.« Sie trank ihren Saft aus. »Wenn er diesen Stromausfall provoziert, wird jeder in der Produktionsstätte unter Verdacht geraten. Dann wird er vielleicht keine zweite Gelegenheit mehr bekommen.« Sie stand auf. »Ich gehe da rein, Royd.«

Er zuckte die Achseln. »Wie Sie wünschen. Warum sollte ich mir deswegen Gedanken machen?«

»Weil Sie Ihren Köder verlieren, wenn Sie mich verlieren.«

»Ich habe nie behauptet, ich würde Sie als Köder benutzen.« Er runzelte die Stirn. »Na ja, vielleicht hab ich das mal gesagt, aber ich würde es nur im äußersten Notfall tun.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht zu fassen, Sie werden ja tatsächlich ein bisschen milder.«

»Ganz und gar nicht.« Er lehnte sich zurück. »Wahrscheinlich versuche ich Sie nur davon zu überzeugen, dass es sich für Sie lohnen würde, mit einem netten Typen wie mir ins Bett zu gehen.«

»Netter Typ?« Sie schaute ihn erstaunt an. »Da müssen Sie aber noch dran arbeiten, Royd.«

»›Selbst die längste Reise beginnt mit einem einzigen Schritt‹«, zitierte er. »Vielleicht sind Sie ja schon dabei, mich umzuerziehen. Was meinen Sie?«

»Ich meine, dass Sie dummes Zeug reden.«

Er lächelte. »Nun, Sie kennen sich doch mit Therapie aus, und wir haben den ganzen langen Tag Zeit. Sie dürfen sich sowieso nicht draußen blicken lassen, da könnten wir uns doch ins Bett legen und uns schön entspannen, damit wir heute Abend gute Nerven haben.«

»Sie können mich mal. Sie sind wirklich widerlich.«

»Im Bett nicht. Ich mag in mancher Hinsicht ein Widerling sein, aber nicht zwischen den Laken. Es wird Ihnen gefallen.«

»Sie eingebildeter Mistkerl.« Sie ging zu der Tür, die zu ihrem Zimmer führte. »Ich bin nicht an Sex mit Ihnen interessiert.«

»Ich glaube, ich habe eine winzige Spur von Interesse gespürt, und ich bin so ein geiler Bock, dass ich nehme, was ich kriegen kann.«

Gott, war der Typ dreist. Sie betrachtete ihn, wie er sich auf dem Stuhl fläzte und vor sexueller Ausstrahlung strotzte. Dann bemerkte sie plötzlich ein koboldhaftes Funkeln in seinen Augen. Ihr Ärger ebbte ab. »Das ist nicht der Grund, warum wir beide hier sind.«

»Aber falls Sie bei dem Job heute Abend draufgehen, kriege ich nie wieder die Chance, Sie flachzulegen.« Er grinste verschlagen. »Und Sie würden sich womöglich um ein einmaliges Erlebnis bringen.«

»Wenn ich heute Abend draufgehe, werde ich keine Gelegenheit mehr haben, das zu bedauern.«

»Wenn Sie so gut sind wie ich, wird Ihnen jede Minute, die Sie mit mir verbringen, wie eine Ewigkeit vorkommen.«

Ihre Mundwinkel zuckten unwillkürlich. »Ich glaube, mir wird schlecht.«

»Also gut, ich geb’s auf.« Sein Grinsen verschwand. »Aber wenn Sie nicht wollen, dass ich Sie auf angenehme Weise ablenke, sollten Sie sich etwas anderes einfallen lassen, sonst sind Sie heute Abend ein Nervenbündel.«

»Ich finde immer etwas, womit ich mich beschäftigen kann. Meine Unterlagen habe ich nicht hier, aber ich habe ein gutes Gedächtnis. Ich werde ein bisschen über meine Problempatienten nachdenken und mir Notizen machen.« Sie schaute ihn an. »Aber es gibt etwas, das Sie für mich tun könnten.«

»Ich stehe zu Ihren Diensten … vielleicht.«

»Ich kann meine Freundin Cindy Hodge nicht anrufen, aber Sie könnten das für mich tun. Sagen Sie ihr, dass Sie in meinem Auftrag anrufen. Das werden Sie natürlich irgendwie beweisen müssen …« Sie überlegte. »Erinnern Sie sie daran, dass wir uns früher immer die Star-Wars-Filme zusammen angesehen haben, und zwar gleich am ersten Tag, wenn sie in die Kinos kamen. Ich will wissen, ob sie noch lebt, und falls ja, sagen Sie ihr, sie soll sich in Sicherheit bringen.«

Er nickte. »Geben Sie mir ihre Nummer. An der Straßenecke ist ein kleiner Lebensmittelladen. Von dort aus werde ich sie anrufen.«

»Die Nummer ist in meinem Handy gespeichert. Wann werden Sie sie anrufen?«

»Was glauben Sie wohl?«, fragte er barsch. »Sie haben mich um einen Gefallen gebeten, weil Sie in Sorge um Ihre Freundin sind. Soll ich Sie etwa auf heißen Kohlen sitzen lassen? Ich bin in einer Stunde bereit.«

»Danke.« Sie schloss die Tür hinter sich.

Gott, der Mann war ihr ein Rätsel. Rau und ruppig, sinnlich und verschlossen, leidenschaftlich und kalt. Doch der humorvolle Funke, den sie vor wenigen Minuten entdeckt hatte, berührte sie. In den vergangenen Jahren hatte es wenig Humor in ihrem Leben gegeben. Selbst in der Ehe mit Dave waren sie beide immer so sehr auf ihre jeweilige Karriere fixiert gewesen, dass sie kaum Zeit für etwas anderes gehabt hatten.

Nicht dass sie und Dave keinen guten Sex gehabt hätten. Sex war immer gut, wenn zwei Menschen rücksichtsvoll miteinander umgingen. Gott, wie langweilig und kopflastig das klang.

Wie würde Sex mit Royd sein? Es gab keine Garantie, dass er sich rücksichtsvoll verhalten würde. Und wahrscheinlich würde er nicht besonders zärtlich sein. Jedes Mal, wenn sie in seiner Nähe war, spürte sie seine animalische Kraft. Die körperlichen Signale, die er aussendete, waren beinahe mit Händen greifbar.

Was dachte sie da? Jedes Mal? Ihr war nicht einmal bewusst gewesen, dass sie auf ihn reagierte, bis auf das eine Mal, als –

Sie holte tief Luft. Also gut, sie musste es sich eingestehen. Sie fühlte sich von Royd sexuell angezogen. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie mit ihm ins Bett gehen würde. Und das bedeutete auch nicht, dass es andauern würde, wenn das hier vorbei war. Es bedeutete lediglich, dass sie sexuell ausgehungert war und Royd zufällig zur Verfügung stand.

Ihr Handy klingelte. Royd.

»Hallo.«

»Cindy Hodge ist bei ihrer Mutter in den Catskills. Ich habe mit ihr gesprochen und ihr geraten, sich versteckt zu halten.«

Sophie atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank.«

»Bis später.« Er legte auf.

Er hatte sein Wort gehalten, und jetzt konnte sie sich auf die Dinge konzentrieren, die wichtig waren. Sie trat an den Schreibtisch, nahm Schreibpapier und einen Kugelschreiber aus der Schublade und ließ sich in den Sessel am Fenster fallen.

Sie würde sich über ihre Patientin Elspeth Gedanken machen.

Über Randy Lourdes, der an chronischer Schlaflosigkeit litt.

Sie würde nicht an die vergangene Nacht denken, als Royd nackt vor ihr gesessen hatte.

Sie würde nicht daran denken, wie Royd sich auf seinem Stuhl gefläzt und sie mit seinen Worten provoziert und amüsiert hatte.

Sie würde überhaupt nicht an Royd denken.