17

DIE SCHEINWERFER MEHRERER Autos, die sich dem Schloss näherten, zerschnitten die nächtliche Dunkelheit. Sie waren noch ziemlich weit entfernt, kamen jedoch schnell näher.

»Zehn, fünfzehn Minuten«, sagte Joe, als er sich vom Fenster abwandte. »Sieht so aus, als hätte Sophie richtig gelegen mit ihrer Vermutung, dass ein Auslieferungsantrag vorliegt.«

»Was sollten sie auch sonst mit einem wehrlosen Kind machen?«, fragte Jane. »Außerdem hatte der Mistkerl, der Sophie den Hinweis gegeben hat, eine Kugel in der Brust, weshalb sollte er sie also anlügen?«

»Stimmt.« Joe stand auf. »Und das bedeutet, dass wir von hier verschwinden müssen.«

Jane atmete erleichtert auf. »Du bist also einverstanden?«

»Ich habe oft genug erlebt, wie Gefangene von anderen Gefangenen getötet wurden, daher weiß ich, dass keine Sicherungsverwahrung eine Garantie für Sicherheit ist.« Er zog seine Jacke an. »Und Sanborne hat genug Geld, um Gott zu spielen.« Er ging zur Tür. »Von jetzt an nehmen wir das Heft in die Hand. Ich bin froh, wenn ich wieder auf heimischem Territorium bin.«

»Danke, Joe.«

»Du brauchst dich nicht zu bedanken. Ich wollte nicht, dass du dich wieder auf MacDuff einlässt, das weißt du. Ich bin nur mitgekommen, um aufzupassen, dass dir nichts passiert.«

»Lügner. Du bist mitgekommen, weil du aufpassen wolltest, dass dem Jungen nichts passiert.«

Er zuckte die Achseln. »Das auch. Und Eve hätte es mir nie verziehen, wenn ich einen von euch beiden im Stich gelassen hätte. Wir treffen uns in einer Viertelstunde im Hof. Hol Michael. Ich rede mit Campbell und sage ihm, er soll die Polizisten aufhalten.«

Jane rannte die Treppe hoch und riss Michaels Zimmertür auf. »Michael, aufwachen.« Sie schüttelte ihn sanft. »Wir müssen los.«

Schläfrig öffnete er die Augen. »Mom?« Als er Jane erkannte, erstarrte er. »Ist alles in Ordnung mit meiner Mutter?«

»Ja, es geht ihr gut. Ich habe eben erst mit ihr telefoniert. Aber wir müssen von hier verschwinden.« Sie ging an seinen Schrank und warf ihm Jeans und ein T-Shirt zu. »Beeil dich. Joe sagt, wir müssen auf der Stelle abhauen.«

»Warum denn?«, fragte er, während er sich hastig anzog. »Ich dachte, wir würden noch länger –«

»Ja, das dachte ich auch.« Sie stopfte die notwendigsten Sachen in seinen Rucksack. Das musste reichen. Dann warf sie einen Blick aus dem Fenster. Die Scheinwerfer waren schon näher gekommen. Sie konnte nur hoffen, dass Joe mit seiner Einschätzung richtig lag. »Aber jetzt hat sich die Lage geändert. Wenn wir wollen, dass deiner Mutter nichts zustößt, müssen wir dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist. Und deswegen müssen wir jetzt ganz schnell von hier verschwinden.« Sie öffnete die Tür und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, ihr zu folgen. »Komm. Es geht los. Joe wartet schon.«

Michael rannte die Treppe hinunter. »Wartet Joe im Auto auf uns?«

Jane lief hinter ihm her. Sie musste sich anstrengen, um nicht zurückzufallen. Sie hatte schon ganz vergessen, wie schnell ein kleiner Junge sein konnte. »Nein, wir fahren nicht mit dem Auto.«

Verdutzt warf er einen Blick über die Schulter. »Nein? Wie wollen wir denn von hier wegkommen?«

»Das wirst du gleich sehen«, flüsterte sie. »Durch einen Geheimgang. Ist das nicht aufregend?«

Seine Augen weiteten sich. »Wirklich?«

Michael mochte für sein Alter ziemlich erwachsen wirken, aber ein Geheimgang war für ihn dennoch verlockend. Welchem Jungen ginge es da anders?

»Ja, wirklich. Aber du musst ganz leise sein und genau tun, was ich dir sage.« Auf dem Treppenabsatz warf sie noch einen Blick aus dem Fenster. Die Scheinwerfer waren verdammt nah.

Sie holte Michael ein und nahm ihn an der Hand. Als sie die Eingangstür aufriss, sah sie Joe mit Campbell im Hof stehen.

»Das wurde auch höchste Zeit«, sagte Joe grimmig. »Campbell, halten Sie die Polizei auf. Wir brauchen mindestens fünf Minuten. Ich hoffe, das reicht.«

 

Nachdem sie Jane nicht erreicht hatte, versuchte Sophie viermal, MacDuff anzurufen.

Auch er meldete sich nicht, verdammt.

»Was zum Teufel geht da vor?« Sie wählte Jocks Nummer. Ebenfalls vergebens.

Panik überkam sie. »Was ist, wenn die Michael abgeholt haben? Warum hab ich Jane nicht gesagt, sie soll ihn sofort da wegbringen?«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Royd. »MacDuff und Jock müssten jeden Augenblick hier sein.«

»Und warum geht dann niemand ans Telefon? Verdammte Technik!« Sie wählte noch einmal Janes Nummer. Ihre Hand umklammerte das Handy. »Keine Mailbox, ich kann ihr nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Sie hat das verfluchte Ding einfach abgeschaltet!«

»Vielleicht hatte sie einen guten Grund dafür.«

»Mag sein.«

Als MacDuff zwanzig Minuten später in den Wal-Mart-Parkplatz einbog, rannte Sophie dem Wagen entgegen und riss die Beifahrertür auf, ehe Jock und er dazu kamen auszusteigen.

»Warum sind Sie nicht ans Telefon gegangen, MacDuff? Können Sie mir vielleicht erklären, was auf Ihrem Schloss vor sich geht?«

»Die Antwort auf die erste Frage lautet: Ich war beschäftigt und musste einige Anrufe erledigen. Die Antwort auf die zweite Frage: Auf meinem Schloss geht im Moment überhaupt nichts vor sich.« MacDuff stieg aus. »Außer dass es dort gerade von Polizisten wimmelt, die jeden Winkel absuchen, weil sie Ihren Sohn mitnehmen wollen.«

»Aber keine Sorge, sie werden ihn nicht finden«, sagte Jock und klopfte Sophie beruhigend auf die Schulter. »Jane hat ihn aus dem Schloss geschmuggelt und ist mit ihm und Joe unterwegs zum Flughafen in Aberdeen.«

Sophie wurde beinahe schwindlig vor Erleichterung. »Sie hat sich also bei euch gemeldet?«

»Das kann man wohl sagen.« MacDuff verzog das Gesicht. »Kaum hatte sie den Jungen in Sicherheit gebracht, hat sie mich angerufen und beschimpft, weil ich nicht da war, als sie meine Hilfe brauchte, um aus meinem ›alten Steinhaufen‹ zu verschwinden. Dann hat sie mich angefaucht, ich soll ihr gefälligst ein Flugzeug nach Atlanta besorgen und jemanden schicken, der den Jungen beschützt, bis er im Flieger sitzt.«

»Und? War es Ihnen möglich?«

»Deswegen haben wir die ganze Zeit telefoniert«, sagte Jock. »Wir mussten ein paar Beziehungen spielen lassen und ein bisschen organisieren, aber es hat geklappt.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »In ungefähr anderthalb Stunden müssten sie im Flugzeug sitzen. Sobald sie in der Luft sind, erhalte ich einen Anruf.«

»Gott sei Dank.« Sophie hatte so weiche Knie, dass sie sich gegen das Auto lehnen musste. Diese anderthalb Stunden würden ihr wie eine Ewigkeit vorkommen. »Atlanta. Das ist so nah. Könnte ich ihn vielleicht kurz besuchen?«

»Vielleicht, wir werden sehen«, sagte Royd, der hinter ihr stand.

Sophie fuhr zu ihm herum. »Ich will ihn sehen«, sagte sie. »Glaubst du, er ist immer noch in Gefahr?«

Er wich ihrer Frage aus. »Ich glaube nicht, dass Franks aufgibt. Das wird Sanborne nicht zulassen.« Er wandte sich an MacDuff. »Haben Sie dafür gesorgt, dass Devlins Leiche verschwindet?«

MacDuff nickte. »Das war auch einer der vielen Anrufe. Sie schicken die Jungs von der örtlichen Polizei, die kümmern sich darum.«

»Kein Problem?«

»Devlin stand schon auf den Fahndungslisten der Polizei, lange bevor Sanborne ihn nach Garwood geholt hat, und die Behörden sind im Moment ziemlich kooperativ. Die CIA ist sehr daran interessiert zu erfahren, was mit den Männern geschehen ist, die in Thomas Reillys Lager, wo Jock war, ehe er nach Garwood geschickt wurde, einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Die wollen keine potentiellen Selbstmordattentäter in den USA rumlaufen haben.« Er schürzte die Lippen. »Warum wollen Sie Devlins Leiche eigentlich so unauffällig verschwinden lassen?«

»Ich denke, es ist für uns von Vorteil, wenn Sanborne noch nicht gleich erfährt, dass wir über Gorshank Bescheid wissen.«

»Inwiefern?«

»Dadurch könnten wir Zeit gewinnen. Wenn wir nichts von Gorshanks Existenz wissen, können wir auch nichts von den Unterlagen wissen, die ich in Gorshanks Schreibtisch gefunden habe.«

»Unterlagen?«

»Pläne von einer Wasseraufbereitungsanlage«, sagte Royd lächelnd. »Auf einer Insel namens San Torrano, die vor der Küste von Venezuela liegt.«

»Heiliger Strohsack«, murmelte Jock. »Du hast es tatsächlich rausgefunden.«

»Werden Sie uns weiterhin bei der Jagd nach Sanborne unterstützen, MacDuff?«, fragte Royd. »Sie waren ja eigentlich hinter Devlin her, und der ist tot.«

»Und ich bin nicht gerade begeistert davon, dass Sie mich um das Vergnügen gebracht haben, Devlin eigenhändig den Hals umzudrehen«, antwortete MacDuff grimmig. »Aber ich werde erst ruhen, wenn Sanborne vernichtet ist. Er hat Devlin beauftragt zu morden, und er hat es geschafft, dass die Polizei meines eigenen Landes sich gegen mich wendet.« Seine Lippen spannten sich. »Und dass die im Moment überall auf dem MacDuff’s Run rumschnüffeln, geht mir verdammt gegen den Strich.«

»Das ist doch eine klare Antwort«, sagte Jock, während er Royd durchdringend ansah. »Und ich habe so ein Gefühl, dass du dir schon eine Aufgabe für uns ausgedacht hast.«

»Das würde mir nicht im Traum einfallen.«

»Von wegen.«

Royd zuckte die Achseln. »Ich habe da so eine Idee, aber ich muss noch ein bisschen darüber nachdenken. Es gibt einige Faktoren, die mir nicht gefallen.«

»Was für Faktoren?« Als Royd nicht antwortete, schaute Jock Sophie prüfend an. Dann nickte er langsam. »Also gut. Sag uns Bescheid, sobald du dich entschieden hast.«

»Mach ich«, sagte Royd. Er fasste Sophie am Ellbogen und führte sie zu ihrem Wagen. »Und du hältst Sophie über Michael auf dem Laufenden.«

»Selbstverständlich.«

»Welche Faktoren hast du eben gemeint?«, fragte Sophie. »Hör auf, in verdammten Rätseln zu sprechen. Wenn du eine Möglichkeit siehst, Sanborne zu erwischen, dann sag’s mir.«

»Das habe ich auch vor.« Er schürzte die Lippen. »Da ich so ein Hundesohn bin, besteht eigentlich nie ein Zweifel daran, dass ich eine finde.« Er öffnete die Beifahrertür. »Aber noch bin ich nicht so weit. Zuerst muss ich Kelly anrufen und ihm mitteilen, dass wir uns sofort auf den Weg zu ihm machen. Und dann warten wir, bis wir Gewissheit haben, dass Michael in Sicherheit ist.«

 

Sie sah MacDuffs Wagen nach, dessen Rücklichter hinter der Kurve verschwanden. »Was hast du vor, Royd?«

»Das, was ich seit meiner Flucht aus Garwood vorhabe.« Er wählte Kellys Nummer auf seinem Handy. »Das Übliche. Ich werde jeden benutzen, jeden dem Risiko aussetzen. Und alles zu dem Zweck, Sanborne und Boch zu vernichten.« Dann sagte er ins Telefon: »Wir fahren nach Atlanta und nehmen den nächsten Flug. Machen Sie das Boot klar und bringen Sie alles über eine Insel namens San Torrano in Erfahrung.« Er beendete das Gespräch.

»Ich habe noch nie von San Torrano gehört«, bemerkte Sophie.

»Wahrscheinlich ist die Insel ungefähr so groß wie eine Briefmarke. Boch und Sanborne wollten für ihre Experimente bestimmt keine Insel, die jeder kennt.« Er ließ den Motor an. »Je kleiner, desto besser.«

»Wir fahren also nach Atlanta? Kann ich Michael dann sehen?«

»Was fragst du mich das? Ich könnte dich wohl kaum von ihm fernhalten.«

»Ich meinte, ob es ungefährlich ist, wenn ich ihn besuche.«

»Weiß der Geier.«

»Royd, was zum Teufel ist los mit dir? Du benimmst dich wie ein Arschloch!«

»Was mit mir los ist? Ich muss dauernd daran denken, wie du da auf den Verandastufen gelegen hast und Devlin auf dich losgehen wollte.«

Sie runzelte die Stirn. »Warum denn? Es war furchtbar, aber es ist vorbei. Ich hätte nicht gedacht, dass du jemand bist, der sich mit Vergangenem aufhält.«

»Bist du irre?«, fragte er barsch. »Was tun wir denn die ganze Zeit? Wir kommen beide nicht von der Stelle, weil wir dauernd in der Vergangenheit festhängen. Und diesmal hätte dich die Vergangenheit beinahe eingeholt und dich das Leben gekostet. Ich sollte dich in Sicherheit bringen und dann zusehen, dass ich von dir wegkomme.«

Sie wandte sich ab. »Du hast mich in Sicherheit gebracht. Wahrscheinlich hast du mir das Leben gerettet. Und wenn du dich von mir entfernen willst, kann ich dich nicht daran hindern. Aber ich werde dir folgen. Wir sind zu dicht am Ziel.«

Er schwieg einen Augenblick. »Und ich würde nicht versuchen, dich abzuschütteln.« Er trat aufs Gaspedal. »Und jetzt sei still und lass mich überlegen, wie ich diesmal deinen Hals riskieren kann.«

 

»Haben Sie den Jungen?«, fragte Boch.

»Noch nicht«, antwortete Sanborne. »Sie waren nicht mehr im Schloss. Aber Franks hat einen von MacDuffs Männern ausgequetscht und in Erfahrung gebracht, wer sich um den Jungen kümmert. Ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir ihn haben.«

»Sparen Sie sich den Zirkus und sagen Sie Franks, er soll diese Dunston töten«, blaffte Boch. »Das REM-4, das wir haben, ist gut genug.«

»Nein, es ist zu riskant. Begreifen Sie denn nicht, dass die Situation sich geändert hat? Ich werde meine Investition nicht mit einem mangelhaften Produkt gefährden, wenn ich die Möglichkeit habe, das Problem zu lösen.«

»Ich brauche eine narrensichere Demonstration, und wir haben nur noch eine Woche.«

»Eine Woche reicht. Niemand kennt sich mit REM-4 so gut aus wie Sophie Dunston, und die ersten Experimente, die Gorshank durchgeführt hat, waren erfolgreich. Aber dann ist er einfach nicht weitergekommen.«

»Und er hat versucht, uns reinzulegen.«

»Dafür hat er bezahlt. Ich erwarte jeden Augenblick eine Rückmeldung von Devlin.« Sanborne hatte es reichlich satt, Boch immer wieder zu besänftigen. »Ich muss jetzt Schluss machen. Ich habe noch jede Menge zu erledigen, bevor ich morgen auf die Insel fliege. Wann werden Sie dort eintreffen?«

»In zwei Tagen. Warum fliegen Sie jetzt schon?«

»Ich muss vor Ort sein, wenn wir die Frau schnappen. Ich melde mich wieder, sobald Franks den Jungen hat.« Er legte auf.

Und sie würden Sophie Dunston kriegen. Wenn er erst mal den Jungen in seiner Gewalt hatte, würde sie garantiert zu ihm gekrochen kommen. Sobald es um ihre Kinder ging, wurden Frauen schwach, darüber konnte Sanborne sich nur immer wieder wundern. Selbst seine eigene Mutter war so gewesen – bis er ins Teenageralter gekommen war und sie angefangen hatte, vor ihm zurückzuscheuen. Nicht lange nach ihrer Fahnenflucht hatte er gelernt, die menschliche Wärme vorzutäuschen, nach der sich alle um ihn herum so sehnten. Aber da war es schon zu spät gewesen, um sie wieder in seinen Machtbereich zurückzuholen. Bis zu ihrem Tod war sie ihm aus dem Weg gegangen.

Nicht, dass das eine Rolle spielte. Sie hatte ihm eine Lektion über die menschliche Natur und über Frauen im Besonderen erteilt.

Und die würde ihm im Umgang mit Sophie Dunston sehr hilfreich sein.

 

Kurz bevor Royd und Sophie Joe Quinns Haus am See außerhalb von Atlanta erreichten, klingelte Royds Handy. Es war MacDuff.

»Campbell hat gerade angerufen«, sagte er mit vor Zorn bebender Stimme. »Charlie Kedrick, einer seiner Männer, wurde tot im Dorf gefunden. Wahrscheinlich ermordet von Franks oder einem seiner Leute.«

»Verflucht.«

»Und man hat ihn gefoltert. Was auch immer Franks aus ihm rausquetschen wollte, der hat es ihm wahrscheinlich verraten. Es kann nicht allzu viel gewesen sein, aber er kannte Jane MacGuires Namen und wusste, wer sie ist. Sie ist ja als Jugendliche schon mal auf dem Schloss gewesen. Das bedeutet, dass sie Jane und dem Jungen schon auf der Spur sind.«

»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Kommt drauf an, wie schnell Franks vorankommt.«

»Er wird das Gefühl haben, dass er bei Sanborne was gutzumachen hat.«

»Dann können Sie von Glück reden, wenn Sie mehr als ein paar Stunden Zeit haben. Wo sind Sie gerade?«

»Auf dem Weg zu Quinns Haus. Sie haben gesagt, Michael müsste dort jeden Moment eintreffen.«

»Aber Franks wird ebenfalls dort eintreffen. Bleiben Sie, wo Sie sind. Jock und ich stoßen in etwa vierzig Minuten zu Ihnen.«

»Nein, wenn Franks und seine Männer in der Nähe sind, schaffe ich Sophie von hier fort. Kommt überhaupt nicht in Frage, dass ich sie dieser Gefahr aussetze. Wir müssen mit einem Blutbad rechnen.« Er wendete mit quietschenden Reifen. »Ich fahre zum Flughafen.«

»Nein!« Sophie packte ihn am Arm. »Was ist los?«

Er beantwortete ihre Frage nicht. »Fahren Sie zu Quinns Haus, MacDuff. Sagen Sie Jock, ich melde mich so bald wie möglich bei ihm.« Nachdem er das Gespräch beendet hatte, sagte er zu Sophie: »Franks hat rausgefunden, dass Michael sich in Janes Obhut befindet, und er weiß, wer sie ist. Das bedeutet wahrscheinlich, dass er jeden Augenblick hier aufkreuzen wird.«

»Was redest du dann davon, dass du mich der Gefahr nicht aussetzen willst? Ich werde mich doch jetzt nicht aus dem Staub machen und Michael im Stich lassen. Dreh sofort um und fahr zurück.«

»Hör mich zuerst an.« Er hielt am Straßenrand. »Wenn du dann immer noch zu Quinns Haus willst, bringe ich dich hin. Einverstanden?«

»Ich will sofort –« Sie brach ab. »Also gut, ich höre. Aber fass dich kurz.«

»Es wäre eine günstige Gelegenheit«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Wir müssen irgendwie auf diese Insel gelangen und eine Möglichkeit finden, die Wasseraufbereitungsanlage und das REM-4 zu zerstören. Boch ist nicht dumm. Er wird die Insel streng bewachen lassen.«

»Und?«

»Wir brauchen einen Kontaktmann auf der Insel.« Seine Mundwinkel zuckten. »Oder sollte ich besser sagen ›eine Kontaktfrau‹?«

Sie schluckte. »Was willst du damit sagen?«

»Sanborne will unbedingt erreichen, dass du dich ihm zur Verfügung stellst. Nur aus diesem Grund ist er hinter Michael her. Was ich sagen will: Ich möchte dich diesen Dreckskerlen auf einem Silbertablett servieren.« Er schloss die Augen. »Möge Gott mir vergeben.«

Sophie war schockiert. »Ich will nicht –« Sie starrte ihn entgeistert an.

Er öffnete die Augen. »Was hast du denn von mir erwartet? Ich habe dir oft genug gesagt, dass ich weder liebenswürdig bin noch zivilisiert. Du hast dich ja praktisch selbst auf den Opferstand gelegt.« Er umklammerte das Steuerrad so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. »Warum sollte ich das Angebot nicht annehmen?«

In seinen Worten lag so viel Qual, dass es Sophie schmerzte. »Wenn man dich reden hört, könnte man mich für eine Psychopathin halten. Also hör auf, dich selbst zu foltern, und erzähl mir, was du vorhast.«

Er schwieg eine ganze Weile, dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Wahrscheinlich wirst du mich dann foltern wollen.«

»Darauf kann ich dir erst eine Antwort geben, wenn du Klartext mit mir redest.«

»Also gut«, sagte er entschlossen. »Es läuft darauf hinaus, dass du auf die Insel musst. MacDuff und ich können die Wasseraufbereitungsanlage zerstören, aber wir müssen wissen, wo die CDs mit den REM-4-Formeln aufbewahrt werden. Die Fässer mit dem Zeug zu sprengen wird nichts nützen, wenn Sanborne immer noch in der Lage ist, einfach neues REM-4 herzustellen.«

»Damit habe ich von Anfang an gerechnet.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich soll also Nate Kellys Platz übernehmen.«

»Kelly kann das nicht machen, und ich auch nicht.«

»Ich soll also so tun, als würde ich Sanborne meine Mitarbeit anbieten? Das wird er mir sowieso nicht abkaufen, dafür habe ich ihm schon zu oft eine Abfuhr erteilt. Und selbst wenn er mich auf die Insel lässt, wird er mir nicht trauen.«

»Der traut niemandem. Aber unter gewissen Bedingungen würde er dir ein bisschen mehr Freiheit einräumen.«

»Und unter welchen?«

»Wenn er davon überzeugt ist, Macht über dich zu besitzen.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »Wenn er glaubt, er könnte deinen Sohn töten, wenn du nicht tust, was er von dir verlangt.«

Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ich soll ihm Michael ausliefern?«

»Himmel, nein«, entgegnete er. »Ich mag vielleicht ein Scheißkerl sein, aber ich würde niemals von dir – Ich hab gesagt, wenn er glaubt, er könnte Michael töten.«

»Und warum sollte er das glauben?«

»Weil ich mir was überlegt habe, wie wir ihn dazu bringen können.«

»Und zwar?«

»Die Einzelheiten erkläre ich dir später. Aber ich verspreche dir, dafür zu sorgen, dass Michael nichts geschieht. Ich gebe dir mein Wort.«

Ihr wurde vor Angst beinahe übel. »Das hast du schon mal gesagt.«

»Er lebt immer noch, Sophie.«

»Ich weiß. Erklär mir die Einzelheiten.«

»Ich werde Jock sagen, er soll Franks und seine Leute in eine Falle locken. Jock schnappt sich Franks, und dann werden wir Sanborne weismachen, Franks hätte Michael in seiner Gewalt.«

»Das klingt … sehr einfach. Ist es aber bestimmt nicht.«

»Es ist nicht einfach, aber es ist möglich.«

Sie musste klar denken. Klar? Sophie gingen tausend Möglichkeiten durch den Kopf, und keine davon stimmte sie optimistisch. Wie benommen starrte sie hinaus in die Dunkelheit. »Damit könnten wir diesem Alptraum ein Ende setzen, nicht wahr? Dann wäre es endlich vorbei. Es wäre die schnellste Möglichkeit, den beiden das Handwerk zu legen. Es wäre unsere größte Chance.«

»Ja«, sagte er heiser. »Die schnellste und die beste Möglichkeit.«

»Und du bist dir ganz sicher, dass du das hinkriegst, Royd?«

»Ja, ich kriege das hin.«

Nach einer Weile sagte Sophie entschlossen: »Dann tun wir es.«

Royd fluchte vor sich hin.

Sie sah ihn verwundert an. »Ist es nicht das, was du wolltest?«

»Nein.« Er fuhr wieder los. »Ich wollte, dass du mir sagst, ich soll mich zum Teufel scheren. Ich wollte, dass du mir vorwirfst, dich in Lebensgefahr zu bringen, und mir befiehlst, nie wieder ein Wort davon zu erwähnen.«

Sein gequälter Gesichtsausdruck verblüffte sie. »Damit du aus dem Schneider bist? Das ist deine Idee. Du kannst nicht alles haben, Royd.«

»Ich versuche nicht, mich um die Verantwortung zu drücken, und ich weiß genau, was ich tue. Trotzdem bringt es mich um.« Er trat das Gaspedal durch und nahm sein Handy. »Ich muss Jock anrufen.«

 

Was zum Teufel sollte das?

Stirnrunzelnd riss Sanborne den Umschlag des Eilbriefs auf, der Sol Devlins Absender trug.

 

Sir, Sie werden bemerkt haben, wie gut ich meinen Auftrag ausgeführt habe. Anbei sende ich Ihnen die Unterlagen über San Torrano aus Gorshanks Schreibtisch, da ich weiß, wie wichtig sie für Sie sind.

Ich gehe davon aus, dass ich als Nächstes Royd ausschalten soll. Er stellt eine Gefahr für Sie dar, und Sie müssen beschützt werden. Ich melde mich, sobald der Auftrag erledigt ist.

 

Devlin

 

Fluchend ließ Sanborne den Brief auf seinen Schreibtisch fallen. Typisch Devlin, auf sein Einverständnis zu pfeifen und eigenmächtig Royds Verfolgung aufzunehmen. Ein weiteres Anzeichen für mangelnden Gehorsam. Was wäre denn gewesen, wenn er sich inzwischen entschlossen hätte, Royd nicht liquidieren zu lassen? Was, wenn er vorgehabt hätte, Devlin nach Atlanta zu schicken, um Franks dort zu unterstützen? Franks beobachtete seit dem gestrigen Vormittag Quinns Haus am See und wartete auf eine günstige Gelegenheit zuzuschlagen.

Nein, Devlin war viel zu unzuverlässig, um mit jemandem zusammenzuarbeiten. Sollte er sich ruhig an Royds Fersen heften. Wenn Sophie Dunstons Beschützer ausgeschaltet wurde, konnte ihm das nur nützen.

Trotzdem machte Devlins Eigenmächtigkeit ihn wütend, und er würde ihn ordentlich zusammenstauchen, wenn er nach erfolgreich ausgeführtem Auftrag angekrochen kam, um sich von ihm loben zu lassen.

Barbados

»Und?«, fragte Sophie. »Ist Michael in Sicherheit?«

»Noch nicht ganz«, erwiderte Royd. »Aber er wird es bald sein. Alles läuft wie am Schnürchen. Sanborne ist heute Morgen mit unbekanntem Ziel aufgebrochen.«

»Sanborne interessiert mich im Moment einen Scheißdreck. Ich will mich nur darauf verlassen können, dass Michael in Sicherheit ist.«

Royds Handy klingelte. »Das ist MacDuff.« Er nahm das Gespräch entgegen. »Gut.« Er schaltete das Handy aus und stand auf. »Alles klar. Packen wir’s an.«

San Torrano

»Ich habe den Jungen«, sagte Franks, als Sanborne den Hörer abnahm. »Was soll ich mit ihm machen?«

»Ist er verletzt?«

»Er hat ein paar blaue Flecken.«

»Gut. Wo sind Sie jetzt?«

»Immer noch in Quinns Haus.« Er zögerte. »Ich musste die Frau und ihren Vater und zwei weitere Männer töten. Ist das in Ordnung?«

»Wenn es unumgänglich war. Sind Sie in dem Haus einigermaßen in Sicherheit?«

»Es ist sehr abgelegen. Ich kann jeden von weitem sehen, der sich dem Haus nähert.«

»Dann bleiben Sie vorerst dort. Sollte sich irgendetwas ändern, melden Sie sich.«

»Wie soll ich mit dem Jungen umgehen?«

»Fassen Sie ihn mit Samthandschuhen an. Machen Sie eine Videoaufnahme von ihm, und sorgen Sie dafür, dass der Junge gesund und munter aussieht.« Sanborne legte auf, ging hinaus auf den Pier und betrachtete die Constanza, die in der Nähe der Küste vor Anker lag. Alles lief nach Plan. Ein paar Tage lang war er ziemlich nervös gewesen, aber eigentlich hätte er wissen müssen, dass Franks ihn nicht enttäuschen würde. Jetzt musste er nur noch eine Sache erledigen, und dann würde es ihm ein Vergnügen sein, Sophie Dunston zu kontaktieren.

Sanborne winkte Kapitän Sonanz zu, der auf der Brücke der Constanza stand. »Willkommen in San Torrano«, rief er. »Ich hoffe, Sie hatten eine ruhige Fahrt. Am besten fangen Sie gleich an, die Ladung zu löschen, dann ist das vor der Dunkelheit erledigt. Anschließend spendiere ich Ihnen ein gepflegtes Abendessen und ein paar ordentliche Drinks.« Er lächelte. »Geben Sie Ihren Männern Landgang, und bringen Sie Ihre Offiziere mit.«

Barbados

Als der Anruf von Sanborne kam, war Sophie auf dem Boot, das Kelly gechartert hatte.

»Sie haben länger überlebt, als ich es für möglich gehalten hätte«, bemerkte Sanborne. »Was für ein Glück, dass Sie sich mit Royd zusammengetan haben. Er ist Ihnen bestimmt eine große Hilfe.« Er kostete den Augenblick noch ein bisschen aus. »Aber es wird allmählich Zeit, dass sich Ihre Wege wieder trennen. Von jetzt an sind Sie ohne Royd viel besser aufgehoben. Devlin ist ihm nämlich auf den Fersen, und der nimmt keine Rücksicht auf unschuldige Begleitpersonen.«

»Scheren Sie sich zum Teufel.«

»Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf. So geht eine Angestellte nicht mit ihrem Chef um.«

»Sie sind ja nicht ganz bei Trost.«

»Im Gegenteil, ich habe mich entschlossen, Sie wieder an Bord zu holen. Ihre Arroganz erbost mich allmählich. Ich war so entgegenkommend, Ihnen ein großzügiges Angebot zu machen, das Sie eiskalt ausgeschlagen haben. Dafür werde ich Sie bestrafen müssen.«

»Wovon reden Sie überhaupt, Sanborne?«

»Von Ihrem Sohn natürlich. Ich glaube, er heißt Michael.«

Ihre Hand umklammerte das Handy. »Alles leere Drohungen. Mein Sohn ist in Sicherheit.«

»Ihr Sohn ist nur so lange in Sicherheit, wie ich es will. Nehmen Sie das nächste Flugzeug nach Caracas. Ich erwarte Sie dort.«

»Ich werde mich hüten, mich in Ihre Nähe zu begeben.«

»Sie haben genau einen Tag Zeit, ich hab’s nämlich eilig. Ich werde Ihnen postlagernd eine DVD nach Caracas schicken. Erschrecken Sie nicht über die blauen Flecken, die Ihr Sohn hat.« Er legte auf.

»Er will, dass ich nach Caracas fliege«, sagte Sophie. »Er sagt, er schickt mir eine DVD von Michael, und ich soll nicht über seine blauen Flecken erschrecken.« Sie erschauderte. »Dieses Schwein.«

»Wieso regst du dich auf? Du weißt doch, dass das alles nicht wahr ist.«

»Er wirkte so selbstgefällig.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »So überzeugt. Fast hätte ich ihm geglaubt.« Sie stand auf und trat an die Reling. »Es geht los, Royd.«

»Ja.« Er legte ihr einen Arm um die Schultern. »Du kannst immer noch einen Rückzieher machen.«

»Nein.« Sie blickte aufs Meer hinaus. »Erzähl mir ein bisschen mehr über San Torrano. Was hat Kelly dort vorgefunden?«

»Es ist eine winzige Insel vor der venezolanischen Küste. Früher gehörte sie zu Venezuela, aber heute ist sie im Besitz einer kanadischen Firma. Ich wette, wenn wir der Sache auf den Grund gingen, würden wir ganz unten Sanbornes Namen finden. Die Insel hat nicht mal fünftausend Einwohner, hauptsächlich Nachkommen von Indios, die von der Fischerei leben. Die meisten Kinder gehen nur ein paar Jahre in die Grundschule und müssen dann arbeiten.«

»Und was wissen wir über die Trinkwasseraufbereitungsanlage?«

»Die ist sechzig Jahre alt und wurde von der venezolanischen Regierung errichtet, nachdem eine Cholera-Epidemie ausgebrochen war, die fast die gesamte Inselbevölkerung ausgerottet hatte. Die Anlage bedient die ganze Insel, und die Einwohner sind sehr darauf bedacht, kein anderes Wasser zu trinken.«

»Das heißt, wenn Sanborne und Boch das REM-4 in dieses Wasser geben, haben sie auf der Stelle fünftausend Testpersonen. Männer, Frauen, Kinder …« Sie schüttelte den Kopf. »Entzückend.«

»So weit wird es nicht kommen.«

»Mein Gott, das hoffe ich inständig. Wo liegt diese Anlage?«

»Nach dem, was ich Gorshanks Aufzeichnungen entnehmen konnte, liegt sie ungefähr drei Kilometer von der Westküste der Insel entfernt. Ich kann bis zur Küste tauchen, um von dort aus zu der Anlage zu gelangen, und die Sprengladungen anbringen. Aber vorher müssen wir uns vergewissern, dass sich sämtliche Fässer dort befinden, damit bei der Aktion auch wirklich alle vernichtet werden.« Er schürzte die Lippen. »Das musst du für uns in Erfahrung bringen. Und du musst rausfinden, wo Sanborne die CDs mit den Formeln aufbewahrt. Sobald das erledigt ist, hole ich dich da raus.«

»Aber wenn wir die Anlage in die Luft sprengen, besteht die Gefahr, dass demnächst wieder eine Cholera-Epidemie ausbricht.«

»Und wenn wir es nicht tun, werden alle Inselbewohner mit REM-4 verseuchtes Wasser trinken, dessen Wirkung wir gar nicht einschätzen können. Das Zeug ist noch völlig unerprobt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gorshank der Sicherheit den Vorrang vor der Wirkung gegeben hat.«

»Nein, bestimmt nicht. Gorshanks Formel war sehr auf Wirkung bedacht.« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Es ist eine echte Zwickmühle.«

»Welches Risiko würdest du denn lieber eingehen?«

»Cholera«, antwortete sie spontan. »Wir wissen nicht, welche mentalen Schäden dieses hochwirksame REM-4 anrichten kann. Aber vielleicht finde ich eine Möglichkeit, die Fässer zu vernichten, ohne dass wir die Anlage in die Luft jagen müssen.«

»Riskier das lieber nicht. Die werden dich nicht aus den Augen lassen. Solange sie glauben, sie hätten etwas gegen dich in der Hand, werden sie dir gewisse Freiheiten lassen, aber sobald du auch nur den geringsten Verdacht erregst, werden sie dich umbringen.«

Sie holte tief Luft. »Ich muss rausfinden, ob es eine andere Möglichkeit gibt. Keine Sorge, ich werde weder dich noch sonst jemanden in Gefahr bringen.«

»Das klingt fast albern. Schließlich bist du diejenige auf dem Hochseil.«

»Dann lass es mich auch auf meine Weise tun. Und ich bin nicht diejenige, die sie töten, wenn sie dich an der Küste oder auf dem Weg zur Aufbereitungsanlage erwischen. Du setzt dich einer viel größeren Gefahr aus als ich.« Sie zuckte mit den Schultern. »Egal. Wir werden das durchziehen, so oder so. Hauptsache, ich weiß, dass Michael in Sicherheit ist.« Sie sah Royd eindringlich an. »Er ist doch in Sicherheit, oder?«

Er wandte sich ab. »Das habe ich dir doch schon mehrmals versichert.«

»Und warum kann ich dann nicht mit ihm sprechen?«, fragte sie ungehalten. »Okay, du hast mir gesagt, es wäre gefährlich, weil man den Anruf zurückverfolgen könnte, aber warum kann ich nicht wenigstens mal ganz kurz seine Stimme hören?«

Er schüttelte den Kopf. »Es geht jetzt einfach nicht, Sophie.«

Sie schwieg eine Weile. »Mich macht das vollkommen verrückt, Royd.«

»Das sehe ich.« Er wich ihrem Blick noch immer aus. »Vertraust du mir nicht?«

»Ich wäre nicht hier, wenn ich dir nicht vertrauen würde.«

»Das ist das reinste Wunder. Ich habe dir mal gesagt, ich würde alles tun, um Sanborne und Boch zu kriegen. Seit dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, habe ich nicht nur dein Leben, sondern auch das deines Sohnes wiederholt in Gefahr gebracht.«

»Trotzdem habe ich immer noch einen freien Willen. Ich entscheide selbst, welche Risiken ich eingehe.« Sie schluckte. »Ich vertraue dir. Sag mir noch mal, dass Michael in Sicherheit ist.«

»Deinem Sohn wird nichts geschehen.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich gehe auf die Brücke und sage Kelly, er soll Kurs auf Caracas nehmen.«

Sophie schaute ihm mit einem unguten Gefühl nach. Seit sie die USA verlassen hatten, war er still und kurz angebunden. Vielleicht war das normal unter den gegebenen Umständen. Sie selbst war auch ziemlich angespannt, und es fiel ihr nicht leicht, die Panik zu unterdrücken, die sie jedes Mal zu überkommen drohte, wenn sie an das dachte, was vor ihr lag. Aber was sie an Royd wahrnahm, war keine Panik. Immer wieder spürte sie, wie er sie aus dem Augenwinkel ansah, wie er sie beobachtete.

Boch und Sanborne zu vernichten bedeutete ihm alles. Er war regelrecht besessen von seinem Vorhaben. Fürchtete er etwa, sie könnte im letzten Augenblick einen Rückzieher machen?

Sie wusste es nicht. Neuerdings war er ihr ein komplettes Rätsel, und sie hatte einfach nicht die Energie, das Rätsel zu lösen. Das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um jede seiner Stimmungen zu analysieren. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihm vertraute, und das war die Wahrheit. Ihre Nervosität hatte nichts mit Royd zu tun, sondern mit dem, was sie in den nächsten Tagen erwartete. Sie musste ihm einfach vertrauen.

Caracas

Sophie nahm den tragbaren DVD-Player aus dem Umschlag und schob die DVD ein.

»Mom?«

Noch ehe das Bild erschien, hörte sie Michaels Stimme.

Himmelherrgott.

Er hatte einen blauen Fleck an der linken Wange, und seine Oberlippe war gerissen und geschwollen. Er wirkte völlig verängstigt.

Mit einem tapferen Lächeln sagte er: »Es geht mir gut, Mom. Mach dir keine Sorgen um mich. Und lass dich nicht von diesen Leuten überreden, irgendwas zu tun, was du nicht willst.«

Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten.

»Ich muss jetzt Schluss machen.« Michael schaute zu jemandem hinüber, der nicht auf dem Bildschirm zu sehen war. »Was ich gesagt hab, hat ihm nicht gefallen, aber ich hab es ernst gemeint. Lass dich nicht von denen –«

Die Videokamera wurde ausgeschaltet, und der Filmclip war zu Ende.

Sie musste sich auf den Tisch stützen, weil ihr vor Angst plötzlich ganz übel wurde. Wenn das gespielt war, dann hatte Michael einen Oscar verdient. Diese blauen Flecken …

Vertrau mir, hatte Royd gesagt.

Verdammt noch mal, Royd.

Vertrau mir.

Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Royd hatte sie vorgewarnt, dass der Film echt wirken würde. Er musste echt wirken, um Sanborne zu überzeugen.

Blaue Flecken …

Ihr Handy klingelte.

»Sie hatten Zeit genug, sich den kleinen Film anzusehen«, sagte Sanborne. »Wie hat er Ihnen gefallen?«

»Sie Hurensohn«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Er ist noch ein kleiner Junge.«

»Aha, offenbar hat der Film Ihnen nicht besonders gefallen. Ich fand, der Junge hat erstaunlichen Mut bewiesen. Sie sollten stolz auf ihn sein.«

»Ich bin sehr stolz auf ihn, und ich verlange, dass Sie ihn laufenlassen.«

»Zu gegebener Zeit. Sobald der erste Test mit REM-4 sich als erfolgreich erweist.«

»Nein, jetzt gleich.«

»Stellen Sie keine Forderungen, das macht mich nur wütend.« Er holte tief Luft. »Jeden Tag, an dem Sie sich weigern, mit mir zusammenzuarbeiten, werden Sie ein Video von Ihrem Sohn erhalten. Bisher hat er nur ein paar blaue Flecken, aber das kann sich schnell ändern. Haben wir uns verstanden?«

Ihr wurde erneut übel. »Ja, ich habe verstanden.«

»So ist es besser. Heute Abend um sechs wird einer meiner Männer Sie an der Plaza Bolivar abholen und auf die Insel bringen. Verspäten Sie sich nicht. Ich möchte keinen Anruf machen müssen, der Sie nur weiter ins Unglück stürzt.« Er legte auf.

Sophie war wie zu Stein erstarrt, sie konnte sich nicht rühren. Aber sie musste sich in Bewegung setzen. Royd wartete auf sie in der Gasse neben der Post. Sie war allein in die Post gegangen für den Fall, dass sie beobachtet wurde, aber sie musste ihm von der DVD und von Sanbornes Anruf berichten.

Doch sie konnte ihm erst gegenübertreten, wenn sie sich einigermaßen gefangen hatte. Im Moment war sie zu aufgewühlt. Sie würde sich eine Minute Zeit lassen, um sich wieder in den Griff zu kriegen.

Wenn sie Royd vertraute, warum versetzte die DVD sie dann in Angst und Schrecken, als wäre sie echt?

Vertrau ihm. Vertrau ihm. Vertrau ihm.