52.

Philip Quinlan, der Anwalt, den Stephen Wetherall, der alte Notar ihrer Mutter, Jules empfohlen hatte, erkannte sofort, in welch selbstzerstörerischem geistigen Zustand sich Abigail befand. Deshalb schlug er vor, dass sie ihn eine kurze, vorbereitete Erklärung verlesen lassen solle, anstatt sich einem Verhör zu stellen.

»Und was soll ich in dieser Erklärung sagen?«, fragte Abigail.

Die Polizei hatte sie noch im Haus festgenommen, sie über ihre Rechte belehrt und sie dann aufs Revier gebracht. Abigail hatte das Gefühl, als würde sie durch Nebel treiben. Alles Vertraute war mit einem Mal verschwunden. Dieser freundliche Fremde, Philip Quinlan, war ihre Rettungsleine, ihre einzige Hoffnung auf Überleben.

Nur war sie nicht mehr sicher, ob sie überleben wollte.

»Die Wahrheit«, antwortete Quinlan auf ihre Frage. »Dass Sie nicht leugnen, Ihren Mann getötet zu haben, dass es jedoch Notwehr gewesen ist.«

»Ich weiß nicht, ob ich mich verteidigt habe«, sagte Abigail. »Ich weiß nur, dass ich Angst um Olli und Jules gehabt habe.«

»Und um sich selbst«, sagte Quinlan.

»Ich weiß es nicht«, wiederholte Abigail.

»Ich glaube aber doch, dass Sie es wissen«, erwiderte der Anwalt beharrlich. »Sie und Jules haben mir bereits erzählt, dass Ihr Mann gedroht hat, seine Schwester und deren Sohn zu töten, dass er außer Kontrolle war, als …«

»Ich hatte ihn schon getroffen«, unterbrach ihn Abigail, »vor dem tödlichen Stoß.«

Sie erinnerte sich an das Geräusch des stählernen Dorns, der in Silas’ Körper drang, und ihr wurde übel. Unwillkürlich schlug sie die Hand vor den Mund.

»Fühlen Sie sich nicht gut, Abigail?«

Sie atmete tief durch und legte die Hand zitternd wieder in ihren Schoß.

»Doch, doch«, sagte sie.

»Sie haben Ihren Mann geschlagen«, erinnerte Quinlan sie, »weil er gerade seine Schwester zu Boden gestreckt und die Tür eingetreten hatte, um Sie zu packen.«

»Ja«, flüsterte Abigail.

»Dann sollten wir das in die Erklärung schreiben.« Er hielt kurz inne. »Ich weiß, das alles ist im Augenblick sehr hart für Sie, Abigail, aber wir haben eine gute Chance, erfolgreich auf Notwehr zu plädieren, solange …«

»Ich kann im Moment nicht schreiben«, bemerkte sie unvermittelt.

»Ja«, sagte Quinlan. »Weil Ihr Mann Ihnen im September eine Chemikalie ins Gesicht geschüttet hat.«

Sie nickte.

»Ich kann alles für Sie aufschreiben, Abigail.«

»Danke«, erwiderte sie. »Aber ich glaube, ich will lieber mit den Leuten reden und ihre Fragen beantworten. Ich will ihnen die Wahrheit sagen.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Quinlan.

Abigail nickte erneut.

»Ich werde bei Ihnen sein und neben Ihnen sitzen«, sagte er.

»Gut«, sagte sie. »Danke.«

Ein Arzt – der Gerichtsmediziner – hatte Abigail auf Verhörfähigkeit untersucht. Das Gefühl, durch Nebel zu treiben, fiel während der Untersuchung und beim anschließenden Verhör nicht von Abigail ab. Das Verhör wurde von einem Detective Inspector namens Fletcher und einem weiblichen Constable geführt, deren Name Abigail wieder entfallen war, kaum dass sie ihn gehört hatte.

»Hat Ihr Mann versucht, Sie umzubringen?«, fragte Detective Inspector Fletcher.

»Nein«, antwortete Abigail. »Aber er hatte Jules geschlagen und hat versucht, mich davon abzuhalten, Olli aus dem Schlafzimmer zu holen.«

»Und Sie hatten ihn bereits mit dem Cello geschlagen«, sagte Fletcher und bezog sich auf die Notizen, die er im Haus gemacht hatte. »Sie glauben, ihn zu Boden geschlagen zu haben, bevor er Sie gepackt hat.«

»Ja.«

Sie hatte ihnen erzählt, dass Silas sie gefangen gehalten hatte.

»Aber genau zu diesem Zeitpunkt«, sagte Fletcher, »hatten Sie sich selbst im Musikzimmer eingeschlossen, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Abigail.

So ging es weiter und weiter. Der Nebel glich nun einem Schleier. Abigail war kalt, und sie fühlte sich trotz Philip Quinlan allein, und sie war sehr, sehr müde.

Die Beamten fragten sie nach dem Cello.

Nach dem Dorn.

»Haben solche Dorne normalerweise nicht einen Gummischützer auf der Spitze?«, wollte die Frau wissen.

»Da war mal einer«, sagte Abigail. »Aber den habe ich schon vor langer Zeit verloren.«

»Und Sie haben sich nie die Mühe gemacht, ihn zu ersetzen?«, fragte die Frau.

Abigail schüttelte den Kopf.

»Für das Tonbandprotokoll«, sagte sie, »Mrs. Graves hat soeben den Kopf geschüttelt.«

»Dann haben Sie also gewusst«, übernahm Fletcher wieder, »wie spitz der Dorn war, als sie das Cello auf Ihren Mann hinabgestoßen haben.«

Abigail wurde wieder übel.

»Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken«, sagte sie. »Erst nachher.«

Weiter und weiter.

Sie beendeten das Verhör und brachten sie in den Zellentrakt zurück, wo ein Sergeant sie übernahm.

»Sind Sie Abigail Graves?«, fragte er.

»Die bin ich«, antwortete sie.

»Sie stehen unter dem dringenden Verdacht …«

Die Stimme des Sergeants klang monoton, während er das Datum nannte, und Philip Quinlan hielt Abigails linken Arm gepackt. Er hatte sie geschickt aus dem Verhörzimmer geführt, und auch die Polizei schien sich nicht an ihrer Blindheit zu stören. Vermutlich waren sie es gewöhnt, die unterschiedlichsten Menschen wegen der unterschiedlichsten Verbrechen zu verhaften.

»… Silas Graves ermordet«, sagte der Sergeant, »und damit ein Gewaltverbrechen begangen zu haben. Sie haben das Recht …«

Mord.

Mutter, Vater, Freund, Ehemann.

»Abigail?« Philip Quinlans Stimme holte sie wieder in die Gegenwart zurück.

Weiter und weiter durch den Nebel.

Sie sprachen nun miteinander, nicht mit ihr, und diskutierten das Thema Kaution. Quinlan führte an, dass Abigail einen festen Wohnsitz habe und nicht vorbestraft sei, und Detective Inspector Fletcher, der sie begleitet hatte, sagte irgendetwas von wegen ihrer Blindheit und ihrer Schwangerschaft und dass sie gestanden habe, Silas getötet zu haben.

Weiter und weiter.

»Es ist nur für die eine Nacht«, sagte Quinlan, »und man wird sich um Sie kümmern.«

Abigail fühlte, dass er darauf wartete, dass sie in Panik geriet oder in Tränen ausbrach, denn der Arzt hatte sie für haftfähig erklärt; deshalb würde man sie hier behalten, um sie morgen dem Haftrichter vorzuführen.

»Ist schon gut«, erwiderte sie.

»Versuchen Sie, sich ein wenig auszuruhen, wenn Sie können«, riet er. »Ich kümmere mich um die Kaution. Darüber müssen Sie sich also keine Sorgen machen. Und ich rufe an, um nachzuhören, dass es Ihnen gut geht.«

»Sind Sie sicher, dass mit Jules alles in Ordnung ist?«, fragte Abigail.

Quinlan hatte ihr bereits gesagt, dass man Jules nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt wieder als gesund nach Hause entlassen hatte.

»Ganz sicher«, sagte Quinlan. »Auch Olli geht es gut. Es gibt keinen Grund, sich um die zu sorgen.«

Abigail fühlte sein Unbehagen, und beinahe schien es ihr, als wäre es plötzlich Quinlan, der getröstet werden musste.

»Ich komme schon zurecht«, sagte sie, tastete nach seiner Hand und drückte sie.

»Tapferes Mädchen«, sagte er.

Sie hatte gewollt, dass es schlimm war, erkannte sie später, nachdem sie wieder halbwegs zu Verstand gekommen war.

Und es war schlimm gewesen.

Der Gestank und die Geräusche von menschlicher Verzweiflung, Wut und Krankheit, und dann die Desorientierung, die durch den Nebel nur noch schlimmer wurde – obwohl es ihr vermutlich weniger ausmachte, als das Licht ausgeschaltet wurde. Für sie wurde bloß Grau zu Schwarz.

Es waren aber nicht nur die beiden Anrufe von Quinlan, die sie retteten, überlegte sie hinterher, sondern auch die arme, gequälte Seele in der Zelle nebenan. Der Mann fluchte, schrie und tobte, und sie hörte das wiederholte, Übelkeit erregende Geräusch, als er immer wieder den Kopf gegen die Wand hämmerte. Abigail rollte sich auf der Pritsche zusammen und presste die Hände auf die Ohren.

Aber es hatte sie gerettet, zumindest für einen Teil der Nacht, bis die Beamten den Mann zum Schweigen gebracht hatten. Es hatte Abigail vor etwas weit Schlimmerem bewahrt: ihren eigenen Gedanken.

Gedanken über das, was sie getan hatte.

Ich habe ihn getötet.

Über die Art und Weise, wie sie es getan hatte.

Sie hatte ihren Mann getötet.

Den Vater ihres Kindes.

Ich habe den Phönix erschlagen.

Teuflische List
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