24.
Als sie nach Hause kam und das Haus leer vorfand, rief Abigail im Studio an und hörte, wie der Anrufbeantworter ansprang.
Sie wartete auf den Pfeifton.
»Silas?« Sie hielt kurz inne. »Silas, bist du da?«
Nichts.
»Silas, ich bin wieder zu Hause. Ich hoffe, auch du bist auf dem Heimweg …«
Sie wartete noch einen Augenblick; dann seufzte sie und legte auf.
Sie fragte sich, ob sie es bei Jules versuchen sollte für den Fall, dass sie von ihrem Bruder gehört hatte, doch das war eher unwahrscheinlich. Jules schlief vermutlich schon längst tief und fest; außerdem war das nicht gerade die Art von Anruf, mit der man Jules in der Nacht nach der Taufe ihres Sohnes belästigen sollte. Dann fiel Abigail ein, dass sie ihr Cello in Jules’ Wohnung vergessen hatte. Morgen würde sie deswegen anrufen müssen.
Es war schon seltsam: Nach all diesen Jahren hatte sie noch immer das Gefühl, Francesca irgendwie zu verraten, wenn sie das Cello nicht bei sich hatte.
Es dauerte noch weitere zwei Stunden, bis Silas endlich nach Hause kam.
Abigail hörte, wie er die Vordertür abschloss und dann die Treppe hinaufstieg. Kurz erwog sie, so zu tun, als würde sie schlafen, doch wenn er sie nicht weckte, bedeutete das nur, die Unannehmlichkeiten auf den Morgen zu verschieben, und Abigail hatte noch immer genug von der praktisch veranlagten Farmerstochter, um zu wissen, wie sinnlos das war.
Also setzte sie sich im Bett auf und knipste die Nachttischlampe ein.
Silas trug noch immer den Anzug, mit dem er in die Kirche gekommen war, auch wenn er nun zerknittert war, das Hemd schmuddelig und die Krawatte verschwunden. Er wirkte erschöpft.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Abigail.
»Kümmert dich das denn?« Er blieb an der Tür stehen.
»Das ist eine dumme Frage.«
»Um ehrlich zu sein«, sagte Silas, »bin ich alles andere als in Ordnung.«
Schuld übermannte Abigail, trieb sie aus dem Bett und quer durchs Zimmer an die Seite ihres Mannes. Sie streckte die Hand aus. Halb fürchtete sie, zurückgestoßen zu werden, doch sie musste ihn berühren, seine Wange. Seine Haut war kalt, doch Hitzewellen strahlten von seinem Körper aus, und er – vielleicht auch nur seine Kleidung – roch nach etwas, das Abigail nicht einordnen konnte: irgendwie säuerlich.
»Silas?« Sie zog die Hand wieder zurück. Irgendetwas in seinen Augen jagte ihr einen Schauder über den Rücken. »Was ist passiert? Wo warst du?«
Er antwortete nicht, sondern ahmte bloß ihre Geste nach, indem er die rechte Hand ausstreckte und ihre Wange mit den Fingerspitzen berührte.
»Silas?«, sagte sie verunsichert.
Er atmete tief durch und ließ die Hand wieder sinken. »Ein Drink«, sagte er. »Ein Drink, bevor wir reden. Ein Brandy würde mir jetzt gut tun, oder Cognac.«
»Ich hole dir einen«, sagte Abigail. »Mach du dich fürs Bett fertig.«
»Das ist gut gemeint«, erwiderte er, »aber ich komme mit dir runter.« Sein Lächeln war flüchtig und wirkte angespannt. »Keine Schlafzimmergespräche, fürchte ich.«
Die Kälte in Abigail nahm noch zu, während sie beobachtete, wie er sich in den Sessel setzte. Sie holte eine Flasche Cognac und schenkte ihm seinen Drink ein – für sich selbst nichts. Sie hatte heute schon genug gehabt.
»Du solltest dich lieber auch setzen«, sagte er.
»Mach ich«, erwiderte sie, »in einer Minute.«
»Ja«, sagte Silas. »Ich nehme an, das wirst du.«
Er trank einen Schluck Cognac, schloss kurz die Augen und öffnete sie dann wieder.
»Wie es scheint, Abigail, meine Geliebte«, sagte er, »verfügst du über das Talent, Männer ins Unglück zu locken.« Er hielt kurz inne. »Zuerst Eddie Gibson.«
Abigail starrte ihn an, und Entsetzen breitete sich in ihr aus.
»Und jetzt …«, Silas trank noch einen Schluck, »… der arme Charlie Nagy.«
Abigail spürte, wie ihr die Knie weich wurden, und sie setzte sich.
»Ich habe es dir gesagt«, bemerkte Silas.
»Ich verstehe nicht.«
»Abigail-Abeguile«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass ich je wirklich erkannt habe, wie passend dieser Name für dich ist.«
»Was hast du getan?«, fragte Abigail.
»Du könntest genauso gut fragen, was du getan hast.«
»Silas …« Ihre Stimme wurde rauer. »Was ist mit Charlie passiert?«
»Weg«, antwortete er.
»Was meinst du damit?«
»Er hat sich den Reihen jener angeschlossen, die Abigail Allen geliebt haben.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Ich sollte mich wohl auch vorsehen.«
»Silas, was hast du getan?«
»Immer mit der Ruhe, meine Süße.«
Meine Süße.
Abigail starrte ihn an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihre Hände wurden schwitzig.
»Ich habe euch zusammen gesehen«, sagte Silas. »Ich habe gesehen, wie Nagy die Arme um dich gelegt hat, meine Frau, und wie sein Mund überall auf dir war.«
»So etwas hat es nie gegeben!«, erregte sich Abigail. »Wir haben nur …«
»Also habe ich gewartet, bis das Taxi abgefahren war«, unterbrach er sie. »Dann habe ich Nagy den Tritt verpasst, den er verdient hat.«
Sprachlos starrte Abigail ihn an.
»Ich habe ihn in der Gasse zu seiner Wohnung liegen lassen«, sagte Silas. »›Garden Walk‹ nennt man sie, aber das ist nur ein protziger Name für eine jämmerliche Gasse. Vermutlich fällt einem das erst auf, wenn man Jasper Gardens wirklich gut kennt. Kennst du dich dort gut aus?«
Abigail hatte das Gefühl, als würde jeden Moment ihr Herz platzen.
»Nein?« Silas zuckte mit den Schultern. »Na, ist auch egal. Jetzt zählt nur, dass Charlie Nagy tot ist und dass es exakt wie ein Raubüberfall aussieht. Und sollte jemand fragen – nicht dass sie’s tun werden, nur für den Fall –, wirst du sagen, dass ich zu Hause gewesen sei und dass du kurz vor dem Überfall, kurz bevor du ins Taxi gestiegen bist, noch mit mir daheim telefoniert hast, wo ich auf dich gewartet habe.«
Abigail fiel das Atmen schwer, und dieses Wort – das Wort – dröhnte in ihren Ohren wie ein verrückter Tinnitus: Tot … tot …
Sie schloss die Augen, und die Dunkelheit drehte sich um sie herum.
Sie erinnerte sich an Charlie, der ihr so freundlich und sanft Wasser ins Wohnzimmer gebracht hatte, nachdem sie sich übergeben hatte.
»Er ist mit seiner Börse in der Hosentasche rausgekommen, also hab ich sie mir genommen«, fuhr Silas fort. »Das Bargeld habe ich rausgeholt … keine Kreditkarten, nur gut dreißig Pfund Bares … und den Rest weggeworfen, wie Straßenräuber es häufig tun.«
Abigail öffnete die Augen wieder. »Das hast du dir doch alles nur ausgedacht.«
Ein winziger Hoffnungsfunke keimte in ihr auf.
»Und jetzt …«, fuhr Silas fort wie ein gut gedrillter Soldat, der seinen Vorgesetzten Bericht erstattete, »… jetzt werden wir beide meine Kleidung und die Schuhe verbrennen, weil ich glaube, dass ein wenig Blut oder vielleicht noch Schlimmeres darauf gespritzt ist, und wir wollen ja keine unnötigen Risiken eingehen.«
»Nein.« Ihre Stimme klang schwer und fremd in ihren eigenen Ohren, und die Hoffnung war bereits wieder gestorben.
Er hat das nicht erfunden.
»Doch«, sagte er. »Denn wie du sehr wohl weißt, bist du daran schuld.«
»Nein«, widersprach sie. »Nein, Silas.«
»Doch«, sagte er erneut. »Denn du, Abigail, bist hinter deiner ach so verletzlichen Fassade eine gefährliche Frau.«
»Ich will dorthin gehen«, sagte sie einige Zeit später.
Sie war aus dem Wohnzimmer verschwunden, hatte Silas zurückgelassen und war nach oben gegangen, um allein zu sein. Dort aber hatte sie erkennen müssen, dass sie nicht allein sein konnte. Sie war auf und ab gelaufen, zuerst in ihrem Schlafzimmer, dann im Flur oben. Auf und ab, auf und ab, als könnte die ständige Bewegung sie vom Denken abhalten und dem Albtraum, dem Entsetzen ein Ende bereiten.
Doch nichts machte dem ein Ende.
»Ich will dorthin gehen, wo du ihn hast liegen lassen«, sagte sie, als sie ins Wohnzimmer zurückgekehrt war, wo Silas noch immer so still im Sessel saß, als hätte er keinen Muskel gerührt. »Vielleicht ist Charlie ja nicht tot. Vielleicht können wir ihm noch helfen, wenn wir schnell sind.«
»Sei nicht dumm«, sagte Silas. »Ich habe dir doch gesagt, dass er tot ist. Er liegt nicht im Sterben, ist nicht verletzt. Er ist tot. Du weißt doch, was tot bedeutet, Abigail.«
»Aber wir können ihn doch nicht einfach so liegen lassen!« Vor ihrem geistigen Auge sah sie Charlie in der Gasse liegen, allein, und sie drückte sich die Knöchel in die Augen, um dieses Bild aus ihrem Kopf zu löschen. »Er ist mein Freund.«
»Er war dein Freund«, sagte Silas hart. »Er war dein ehemaliger Manager, und nun ist er tot, von uns gegangen, und niemand kann ihm mehr helfen. Solltest du auch nur in seine Nähe gehen, wirst du mich – deinen Ehemann, erinnerst du dich? – tief in die Scheiße reiten.« Er starrte sie mit seinen steinharten, kalten Augen an. »Oder willst du das? Mich ins Gefängnis schicken? Mich loswerden?«
Abigail starrte ihn an. Sie sah ihn nicht wirklich; sie wusste eigentlich nicht, was sie sah. Zu viele Dinge blitzten schmerzhaft vor ihrem geistigen Auge auf: Silas, der Charlie schlug, Francesca im Krankenwagen, ihr Vater, der gegen die Wand geschleudert wurde, Eddie, der durch die Luft flog …
Sie schrie – ein langes, schreckliches, gequältes Heulen – und rannte wieder aus dem Zimmer, doch im Haus konnte sie nirgendwohin. Es gab keinen Ort, an den sie fliehen konnte, also lief sie nach oben, zog Jeans, Sweatshirt und Schuhe an und ging zur Tür. Ihre Hände zitterten so heftig, dass es ihr schwer fiel, den Schlüssel im Schloss zu drehen und die Kette abzunehmen. Aber sie schaffte es, und Silas kam nicht, um sie aufzuhalten. Und dann war sie draußen in der kühlen Nachtluft, umgeben von den Bäumen, die das Haus vom Hügel trennten, und einen Augenblick lang bescherte die frische Luft ihr so etwas wie Erleichterung, doch dann war auch dieses Gefühl verschwunden.
Geh, sagte sie sich. Geh weg von hier.
Wie gelähmt stand sie auf dem Weg vor dem Haus.
Einen Fuß vor den anderen, Abigail.
Sie setzte sich in Bewegung.
Erschöpfung brachte sie wieder zurück, zusammen mit dem Wissen, dass sie nirgends Zuflucht finden würde, obwohl sie sich davor fürchtete, klingeln und Silas wieder gegenübertreten zu müssen, denn in ihrer Aufregung hatte sie die Hausschlüssel vergessen.
Die Tür war bereits offen. Silas stand dort und wartete auf sie.
»Ich dachte, du wärst weg«, sagte er mit leiser, ängstlicher Stimme.
Abigail kam näher, sah, dass seine Augen rot waren und seine Wangen nass, doch sie empfand nicht den Hauch von Mitgefühl für ihn.
»Ich kann nirgends hin«, sagte sie.
Rasch ging sie an ihm vorbei und versuchte, ihn dabei nicht zu berühren. Silas folgte ihr dichtauf, aber nicht zu nahe, wie ein misstrauischer Hund.
»Ich habe es nicht so gemeint«, sagte er und folgte ihr in die Küche.
»Was hast du nicht so gemeint?«, fragte Abigail. »Einen guten, freundlichen Mann dafür zu töten, dass er deine Frau tröstend umarmt hat?«
»Du hättest dich nicht von ihm trösten lassen dürfen.« Der demütige Hund verschwand bereits; die Tränen waren trocken. »Du hättest bei mir sein sollen.«
»Du hättest in der Kirche sein sollen, um dort die Taufe deines Neffen und Patensohnes zu feiern.« Das schien eine Ewigkeit her zu sein und wirkte nun schrecklich trivial, und doch strömten die Worte aus Abigails Mund, als wären sie von einem eigenen Willen beseelt. »Aber da du ja nicht geblieben bist, nehme ich an, bist du jetzt nicht sein Pate, und wenigstens dafür will ich Gott danken.«
Wie schon zuvor nach dem Konzert in der Jerome Hall dachte sie, er würde sie schlagen, und sie wusste, dass er dazu fähig war – und noch zu viel mehr.
»Es ist dein Werk, Abigail.« Worte anstelle von Schlägen.
Sie drehte sich zum Teekessel um und suchte Zuflucht im Teekochen, wie ihre Tante Betty es immer getan hatte und vor ihr Francesca …
»Das alles«, sagte Silas. »Du hast mich dazu getrieben.«
Sie packte den Henkel.
»Es war deine Schuld, dass Charlie eingeladen worden ist«, preschte Silas weiter vor. »Jules mag ihn ja gefragt haben, aber sie hat es für dich getan.«
Meine Schuld.
Zitternd stellte sie den Kessel ab.
Meine Schuld.
»Es ist deine Schuld, dass du mit ihm zu seiner Wohnung gegangen bist«, sagte er. »Zumindest das musst du zugeben.« Er hielt kurz inne. »Nicht wahr, Abigail?«
»Ja«, sagte sie.
»Dann siehst du es also ein?«, hakte Silas nach.
»Ja.« Die schreckliche Müdigkeit kehrte wieder zurück. »Ja, ich nehme es an.«
»Mit ›annehmen‹ hat das nichts zu tun.«
Alles meine Schuld.
»Was immer du sagst, Silas.«
»Dann wirst du mir also helfen, wie ich dich gebeten habe?«
Sie hatte vergessen, worum er sie gebeten hatte.
»Meine Kleider verbrennen«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Jetzt war sie der Hund, geprügelt und in die Ecke getrieben.
Nein, sagte sie in Gedanken.
»Ja«, sagte sie laut.
»Willst du das Bargeld aus Nagys Börse?«
Silas stellte Abigail diese Frage, als sie Seite an Seite ein Stück neben dem Teich im hinteren Teil des Gartens standen und seinen Anzug, das Hemd und die Schuhe in einer alten Tonne verbrannten, die von den Gärtnern normalerweise zur Entsorgung von Gartenabfällen benutzt wurde – heutzutage waren es immer neue Gesichter, die von einer Agentur in Fortis Green vermittelt wurden.
»Du könntest Blumen dafür kaufen«, sagte Silas.
Abigail verzog angewidert das Gesicht.
»War nur so ein Gedanke«, sagte er.
Er warf die Zehn- und Fünfpfundnoten ins Feuer und schob sie mit einem Stock in die Glut, damit sie nicht wieder herausgeweht wurden. Dann schaute er mit einer Mischung aus Distanziertheit und Mitgefühl zu, wie seine Frau sich zum zweiten Mal in dieser Nacht übergab.
»Arme Abigail«, sagte er.
»Weißt du«, sagte sie, als sie wieder in der Küche waren und das Teewasser aufgesetzt hatten, »dass nichts zwischen mir und Charlie gewesen ist?«
»Du hast ihn mir vorgezogen«, sagte Silas. »Bei der Taufe.«
»Ich habe Jules und Olli vorgezogen«, erwiderte Abigail. »Deine Schwester und deinen Neffen, erinnerst du dich an sie?«
»Du bist mit Nagy nach Hause gefahren«, sagte Silas.
Das Wasser kochte, doch keiner von beiden machte Anstalten, den Kessel vom Herd zu nehmen.
»Wo er mir Pasta gekocht hat, die ich nicht essen konnte, weil ich mich so über dich geärgert habe«, erzählte ihm Abigail. »Und er hat eine Flasche Wein aufgemacht, von der ich zu viel getrunken habe – wegen dir. Und er hat mir ein Taxi gerufen, hat mich zu ihm gebracht und mich freundschaftlich gedrückt.« Sie zitterte, und ihr wurde erneut übel. »Und wegen dieser schrecklichen Verbrechen hast du …«
»Mein Temperament ist mit mir durchgegangen«, unterbrach Silas sie in bitterem Tonfall. »Ich habe die Kontrolle verloren.« Er zitterte ebenfalls. »So wie du auf dem Motorrad, Abigail.«
»Ich war ein Kind«, sagte sie. »Ein junges Mädchen.«
»Du warst du, Abigail.«
»Und es war ein Unfall. Verdreh das nicht, Silas.«
»Deine Mutter hat es aber im Krankenwagen verdreht, erinnerst du dich? Sie hat dir gesagt, du solltest lügen.«
»Ich hasse dich«, sagte Abigail und stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass es die Wahrheit war.
»Wie sehr?«, fragte Silas. »Genug, um mich zu verletzen? Mich zu töten?«
»Rede keinen Blödsinn«, erwiderte sie.
»Du hasst mich nicht, Abigail«, sagte er. »Du liebst mich.« Plötzlich traten ihm die Tränen in die Augen. »Das ist auch der Grund, warum du mein Geheimnis bewahren wirst. Der gleiche Grund, warum ich deines bewahre. Weil wir einander noch immer lieben.« Er wischte sich über die Augen. »Wir brauchen einander.«
Später in dieser endlosen Nacht war Abigail allein im Schlafzimmer, konnte sich aber nicht ausruhen, geschweige denn schlafen. So ging sie ins Musikzimmer und fand dort Silas, der aufrecht auf ihrem kleinen Lehnstuhl saß und nicht auf der Chaiselongue, wo er für gewöhnlich hockte.
»Oh.« Sie drehte sich um und wollte gehen.
»Du hast dein Cello bei Jules gelassen«, bemerkte er gedankenverloren.
»Ja.« Sie stählte sich und drehte sich wieder zu ihm um. »Ich glaube nicht, dass ich tun kann, was du willst, Silas.«
»Es gibt nichts, was du tun sollst, wenn niemand Fragen stellt.«
»Du hast gerade meinen Freund ermordet.« Die Worte klangen noch immer unwirklich für sie. Sie ballte die Fäuste so fest, dass die Fingernägel sich in ihre Handflächen gruben. »Und jetzt willst du, dass ich dich decke, und das nennst du nichts?«
»Du bist meine Frau. Ich würde für dich das Gleiche tun … habe es schon getan, wie ich dich immer erinnern muss. Ich habe niemandem die Wahrheit über dich erzählt, oder doch?«
»Du hast es Jules erzählt«, erinnerte sie ihn. »Nicht dass es mir etwas ausmachen würde.«
»Ach, Jules.« Silas stand auf. »Du vertraust ihr doch, nicht wahr, Abigail?«
»Natürlich.«
»Du magst sie wirklich sehr gern.« Sein Tonfall wurde deutlich schärfer.
»Das weißt du doch.« Abigail löste die Fäuste; ihre Handflächen brannten. »Du lieber Himmel, was hat das denn mit alledem zu tun?«
»Vielleicht ein gutes Geschäft …« Silas ging zu einer der schallisolierten Wände und strich über das Dämmmaterial. »Wenn du einen besseren Grund als unsere Ehe brauchst, um dich auf meine Seite zu stellen …«
Abigail fühlte sich plötzlich wieder wie leer gepumpt, ging zum Stuhl und ließ sich darauf fallen.
»Würdest du sagen«, fragte Silas, »dass Jules’ Sicherheit wichtig für dich ist?«
»Natürlich«, antwortete Abigail müde.
»Gut«, sagte Silas. »Das ist gut.«
»Ich verstehe noch immer nicht …« Sie war zu müde, um weiterzusprechen.
»Das wirst du«, sagte er, »wenn ich es dir erzählt habe.«
»Wenn du mir was erzählt hast?« Neuerliche Angst vertrieb die Müdigkeit. »Silas, was denn jetzt, um Gottes willen?«
Er betrachtete sie nüchtern, ging dann zur Chaiselongue und setzte sich.
»Ich mache es mir lieber bequem«, sagte er. »Das ist eine ziemlich lange Geschichte.«
Nachdem er geendet hatte, holte er eine Taschenlampe und nahm sie mit in den Garten hinaus, um es ihr zu zeigen.
»Hier haben wir ihn begraben.« Er stand auf der gepflasterten Terrasse, ließ das Licht die moosbewachsenen Steinkanten entlangwandern bis hin zu der steinernen Bank. »Fast genau da drunter.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte Abigail.
»Ich war zwanzig«, fuhr Silas fort. »Jules war fünfzehn. Frag sie, wenn du willst.«
Abigail spürte, wie sich Druck in ihrem Kopf aufbaute.
Zu viel, dachte sie und wandte sich zum Gehen.
»Wenn du Jules oder jemandem von Nagy erzählst«, Silas’ Stimme ließ sie verharren, »oder wenn du auch nur daran denkst, mich zu verlassen, platzt die Bombe. Und wenn sie kommen, unseren Vater ausgraben und Fragen zu seinem Tod stellen, werde ich ihnen erzählen, dass Jules zum Schluss bei ihm gewesen ist.«
Albträume folgen auf Albträume.
»Hast du nicht gesagt, er sei eines natürlichen Todes gestorben?«, fragte Abigail.
»Er hat aufgehört zu atmen«, antwortete Silas. »Ich nehme an, das ist ›natürlich‹ genug.«
Er ging zu Bett, und sie kehrte wieder ins Musikzimmer zurück. Verzweifelt sehnte sie sich nach ihrem Cello, um einen Teil ihrer Qualen in die Musik einfließen zu lassen. Charlies schelmisches, rundes Gesicht tauchte immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf wie das eines Ertrinkenden, abwechselnd mit dem von Jules und dem kleinen Olli.
Abigail fand keinen Trost in dem Raum. Selbst die goldenen Fuchsaugen, die sie aus dem aufgemalten Wald anblickten, schienen sie nun zu verspotten. Also ging sie wieder, streifte durchs Haus und wollte schließlich in den Garten hinaus, doch plötzlich blieb sie abrupt stehen. Sie wusste nicht, wie sie je wieder dort hinausgehen sollte.
Ein Mann war dort draußen begraben – zumindest behauptete das Silas.
Vielleicht erfand er das alles ja nur. Vielleicht verhöhnte er sie nur. Vielleicht war in seinem Kopf einfach nur etwas verdreht – »verdrehtes Hirn« klingt besser als »Killerhirn«. Vielleicht dachte er sich diese Horrorgeschichten ja nur aus, um ihr Angst einzujagen, sie zu bestrafen.
Abigail ging zum Telefon und wählte Charlies Nummer. Sie hörte es klingeln und klingeln. Ihre Hoffnung starb, und sie spürte, wie wieder Wut in ihr aufstieg. Schließlich rannte sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.
Silas schlief. Sein Gesicht wirkte friedlich im fahlen Mondlicht, das zwischen den Vorhängen hindurchfiel. Abigail starrte einen Augenblick auf ihn hinunter, bückte sich dann, packte seinen linken Arm und schüttelte ihn wach.
»Was …?« Verschlafen und verwirrt schaute er sie an. Unschuldig.
»Du willst, dass ich jedem sage, du wärst hier gewesen, und dass ich mit dir gesprochen hätte. Aber wenn das überprüft wird, wird man feststellen, dass ich dich nicht von Charlie aus angerufen habe.«
Silas zuckte mit den Schultern. »Dann wirst du es ihnen eben nicht sagen. Sie werden ohnehin nicht fragen.«
»Aber als ich zurückgekommen bin und du nicht da warst, habe ich im Studio angerufen und eine Nachricht hinterlassen.«
»Ich weiß. Ich habe sie gelöscht.« Silas setzte sich auf.
»Wann? Auf dem Nachhauseweg, nachdem du Charlie ermordet hast?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht.«
»Ich habe den Anrufbeantworter mit der Fernsteuerung abgerufen«, erklärte er. »Und so habe ich die Nachricht auch gelöscht.«
»Sie werden feststellen können, dass ich das Studio von hier aus angerufen habe«, sagte Abigail.
»Sie werden aber nicht wissen, wer den Anruf getätigt hat, oder?« Er blickte zu ihr hinauf. »Gott, manchmal bist du wirklich dumm. Ich werde einfach sagen, dass ich meinen Anrufbeantworter abgehört hätte. Nicht dass irgendjemand das überprüfen würde, schließlich ist Charlie Opfer eines Raubmords geworden. Mitten in der Nacht allein durch Notting Hill zu wandern, mit der Börse in der Tasche … Was hat er denn erwartet?«
Abigail starrte ihn hasserfüllt an.
»Ich hasse dich wirklich, weißt du?«, sagte sie.
»Wie kannst du mich denn dafür hassen«, entgegnete Silas, »dass ich dich so sehr liebe?«