40.

Zwei Tage später kam Jules mit Olli frühmorgens und unangekündigt.

Silas öffnete die Tür.

»Was machst du denn hier?«

»Wir sind gekommen, um dich abzulösen«, sagte Jules. »Wenn du uns reinlässt, heißt das.«

Silas trat zurück, und Jules schob den Buggy über die Schwelle und in den Flur.

»Ich brauche keine Ablösung«, sagte Silas. »Abigail und ich kommen auch so gut zurecht.«

»Abigail hat mir gesagt, du könntest eine Pause vertragen«, erwiderte Jules, »und ich stimme ihr zu.«

Silas runzelte die Stirn. »Wann hat sie dir das gesagt?«

»Gestern Abend.« Jules sah seinen Gesichtsausdruck und lächelte. »Und sie hat mir auch gesagt, kein Nein als Antwort zu akzeptieren. Du würdest ohne Zweifel darüber diskutieren wollen.«

»Baba«, sagte Olli.

»Ja, mein Liebling«, sagte seine Mutter. »Dein Neffe ist wirklich schon weit entwickelt, Onkel Silas.«

»Ich brauche keine Pause, Jules«, erklärte Silas.

»Aber vielleicht Abigail«, entgegnete Jules in sanftem Tonfall.

»Hat sie das gesagt?«

Olli wand sich in seinem Buggy; er wollte Freiheit.

»Gleich, Olli«, sagte seine Mutter und blickte wieder zu ihrem Bruder. »Abigail hat es nicht mit so vielen Worten gesagt, aber nur, weil sie deine Gefühle nicht verletzen wollte.«

Silas rührte sich nicht und schwieg.

Jules erkannte diese besondere Art von Schweigen; sie hatte viele Jahre damit leben müssen, bevor Ralph in ihr Leben getreten war und sie fortgeholt hatte.

»Lass es, Silas«, sagte sie. »Bitte, für Abigail.«

Er betrachtete sie voller Abscheu. »Dann solltest du wohl besser zu ihr gehen«, sagte er. »Sie ist oben im Musikzimmer.«

»Würdest du Olli gerne für eine Weile haben?«, fragte Jules.

»Aber sicher doch«, antwortete Silas kalt.

Nun, da sie wieder Cello spielte, erkannte Abigail, wie wundervoll es für sie war.

Wie früher schon, wenn es ihr schlecht gegangen war, umgab sie sich mit Musik und ließ ihre Ängste und ihren Schmerz darin untergehen.

Sie hörte weder ein Klopfen noch vernahm sie, wie die Tür sich öffnete.

Ihre Musik erfüllte ihre Ohren, ihre ganze Welt.

Jules wartete noch einen Augenblick auf der Schwelle; dann hob sie die Hand und klopfte noch einmal kräftig von innen gegen die Tür.

»Ich bin es. Jules«, sagte sie.

Abigail senkte den Bogen. Ihr Herz schlug schneller vor Anstrengung und innerer Bewegung.

»Jules«, sagte sie atemlos. »Gott sei Dank.«

»Ich will dich nicht stören«, sagte Jules. »Soll ich warten, bis du fertig bist?«

»Mit dem Krachmachen, meinst du?«

»Der Krach war wunderschön«, erwiderte Jules.

»Wie auch immer«, sagte Abigail. »Du störst mich nicht.« Sie hielt noch immer das Cello. »Ist Olli hier?« Sie neigte den Kopf und lauschte.

»Er ist unten«, antwortete Jules, »mit Silas.«

»Okay«, sagte Abigail.

»Und ich werde jetzt die Tür schließen«, verkündete Jules und tat es auch. »Was machen deine Augen?«

»Die Welt um mich herum nimmt allmählich wieder Gestalt an«, antwortete Abigail. »Allerdings ist noch immer alles verschleiert.«

»Und du?«, fragte Jules. »Wie fühlst du dich?«

»Mir geht es gut.« Abigail hielt kurz inne und lauschte. »Hast du es?«

»In meiner Tasche«, antwortete Jules. »Aber ich finde, wir sollten noch warten, bis ich Silas überredet habe, das Haus zu verlassen. Meinst du nicht?«

»Ja«, stimmte Abigail ihr zu. »Wenn du glaubst, du kannst das.«

»Ich werde es schon irgendwie schaffen.«

Sie gingen gemeinsam nach unten und fanden Silas im Wohnzimmer mit Olli in dem großen Laufstall, den Abigail vor ein paar Monaten bei Mothercare gekauft hatte.

»Wir sind beide der Meinung«, erklärte Jules rundheraus, »dass du ins Studio fahren solltest.«

»Wozu?«, fragte Silas.

»Du musst«, antwortete Jules. »Du weißt, dass du musst. Du musst die Post durchsehen und deine Mails abrufen.«

»Die Mails kann ich auch hier abrufen«, sagte Silas.

»Du musst doch Kunden haben, die dich dann und wann auch mal in deinem Studio sehen wollen«, bemerkte Jules.

»Und was ist mit den Rechnungen?«, fragte Abigail. »Die müssen doch bezahlt werden.«

Er zuckte mit den Schultern. »Das kümmert mich im Augenblick nicht.«

»Das ist wohl kaum eine gute Idee«, sagte Jules. »Sich die Kunden zu entfremden.«

»Gaga«, sagte Olli. »Baba.«

»Jules hat Recht«, erklärte Abigail. »Schließlich willst du doch sicherlich, dass dein Geschäft noch funktioniert, wenn es mir wieder besser geht, oder?«

»Du auch?«, fragte Silas.

»Natürlich«, antwortete Abigail ruhig.

»Gaga«, sagte Olli wieder und diesmal mit Nachdruck.

»Offensichtlich bin ich hier nicht länger erwünscht«, sagte Silas und stand auf.

»Jetzt sei nicht so empfindlich, Bruderherz«, sagte Jules.

»Ich bin überhaupt nicht empfindlich.« Silas klopfte sich die Jeans ab. »Dann überlasse ich euch mal euren Frauengesprächen.« Er blickte zu seiner Schwester. »Du solltest vorsichtig sein. Jetzt hast du zwei Hand voll, um die du dich kümmern musst.«

»Hand voll? Welch charmante Beschreibung«, bemerkte Abigail.

»Du weißt, was ich meine, Süße.« Silas hielt kurz inne. »Bist du sicher, dass du damit zurechtkommst, Schwesterlein?«

»Silas, um Himmels willen«, sagte Jules, »geh.«

Es dauerte noch weitere zehn Minuten, bis Silas seiner Schwester jeden möglichen Fallstrick erklärt hatte, über den Abigail möglicherweise stolpern könnte; erst dann verließ er das Haus.

»Gut«, sagte Jules, die am Wohnzimmerfenster stand. »Er ist weg.«

»Sicher?« Abigail saß auf der Couch, Olli auf den Knien.

»Vollkommen.« Jules kam zu ihr. »Lass mich den kleinen Kerl nehmen.« Sie hob ihn hoch. »Ist das Klo hier unten okay für dich?«

»Jaja.« Abigail stand auf, richtete sich aus und ging zur Tür. »Alles klar?«, fragte sie.

»Perfekt«, antwortete Jules.

An der Tür blieb Abigail kurz stehen. »Danke.«

»Wofür?«

»Dass du mich selbst gehen lässt. Dass du dich daran erinnerst, dass ich erwachsen bin.«

»Ich sehe ja, dass du es kannst«, sagte Jules.

»Mit einem Stock käme ich natürlich besser voran, aber Silas sagt, ich bräuchte keinen, weil ich ja ihn habe.« Abigail hielt kurz inne. »Ich fürchte, ich werde dich jetzt bitten müssen, dich um mich zu kümmern.«

»Kein Problem«, sagte Jules. »So schwer ist das ja nicht.«

Sie ging hinter Abigail bis zur Gästetoilette neben der Küche. Olli wand sich protestierend auf ihrem Arm.

»Warte. Ich setze ihn eben ab.« Das tat sie auch. »Und hier …« Sie holte etwas aus ihrer Tasche. »Hier ist, was du benötigst. Sofort gebrauchsfertig.« Sie griff nach Abigails Hand. »Das ist das richtige Ende, okay?«

»Okay«, sagte Abigail angespannt.

Dann ging sie in die Toilette und schloss die Tür.

»Sag es mir«, forderte sie ihre Schwägerin anschließend auf.

Jules nahm ihr den Streifen ab und schaute ihn sich an.

»Positiv«, verkündete sie leise.

»Oh«, sagte Abigail.

»Willst du dich setzen?«, fragte Jules.

»Ich glaube«, antwortete Abigail, »ich will einen Drink.«

»Das ist jetzt aber nicht vorschriftsmäßig«, sagte Jules.

»Nein«, sagte Abigail.

Sie hatte sich auf dem Klo Zeit gelassen und sich gestählt. Im Laufe der letzten paar Tage und Nächte war sie bereits zu dem Schluss gekommen, dass es alles verändern würde, sollte sie Recht behalten – und die Chancen dafür standen gut. Nachdem Silas ihr den Entwickler in die Augen geschüttet hatte, hatte sie die Pille nicht mehr genommen; dennoch hatte sie zunächst das Ausbleiben ihrer Tage und die Übelkeit dem Stress zugeschrieben.

Babys verändern immer alles.

In meinem Fall sogar mehr als üblich, dachte sie ironisch. Logischerweise veränderte sich nun ihr Blick auf alles – einschließlich Silas.

Besonders auf Silas.

»Jules«, sagte sie jetzt. »Könntest du bitte im Studio anrufen?«

Sie waren wieder im Wohnzimmer und tranken Tee, während Olli im Laufstall saß und am linken Ohr eines blauen Plüschhasen kaute.

»Willst du es ihm sagen?«, fragte Jules.

»Nein«, antwortete Abigail in scharfem Tonfall. »Ich will nur sichergehen, dass er noch immer dort ist.«

Jules fragte nicht nach einer Erklärung, sondern ging zum Telefon.

»Ich wollte dich nur beruhigen«, sagte sie ihrem Bruder. »Uns beiden geht es gut, und du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich kann uns etwas zu essen kochen, und dann …«

»Was macht ihr beiden überhaupt?«, unterbrach Silas sie in lockerem Tonfall.

»Nichts Besonderes«, antwortete Jules. »›Frauengespräche‹, wie du es genannt hast.«

»Sag ihm …«, Abigail hob die Stimme, sodass er sie hören konnte, »… dass er aufhören soll, sich um mich Sorgen zu machen, und dass er sich Zeit lassen soll.«

»Abigail sagt …«

»Ich hab’s gehört«, unterbrach Silas sie erneut. »Musst du nicht zurück in den Laden?«

»Noch lange nicht«, antwortete Jules. »Erledige du erst mal deine Arbeit, und genieß deine Zeit.«

»Das werde ich«, sagte Silas. »Danke, Schwesterherz. Bis später.«

Jules beendete das Gespräch. »Er schien keine Probleme damit zu haben«, sagte sie.

»Wirklich?«, erwiderte Abigail skeptisch. »Vielleicht will er uns auch nur auf die Probe stellen.«

Jules runzelte die Stirn und blickte zu Olli, der seinen Hasen weggeworfen hatte und nun mit seinen Bauklötzen spielte; dann schaute sie wieder zu Abigail. »Was meinst du damit?«

»Mich«, antwortete Abigail. »Er stellt mich auf die Probe.«

»Ich verstehe nicht …«, sagte Jules.

»Ja«, erwiderte Abigail. »Wahrscheinlich nicht.«

Zwar waren Abigails Augen hinter der dunklen Brille so gut wie unsichtbar, doch Jules entging nicht, wie blass ihre Schwägerin mit einem Mal geworden war. »Was ist, Liebes?«

Abigail atmete zitternd ein und aus.

»Sag es mir.« Jules kam zum Sofa und setzte sich neben sie. »Bitte.«

»Ich bin schwanger, nicht wahr?«

»Sieht so aus«, antwortete Jules.

»Ich habe mir gesagt«, fuhr Abigail fort, »sollte das so sein, dann hieße das …«

Jules wartete ein paar Sekunden. »Was?«

»Dann hieße das, dass mir keine andere Wahl mehr bliebe, als es dir zu erzählen.«

Jules schwieg.

Sie hatte ein unglaublich schlechtes Gefühl.

Sie blickte zur Frau ihres Bruders und wartete.

Teuflische List
titlepage.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000017.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000049.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000120.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000138.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000150.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000202.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000308.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000592.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000741.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000824.xhtml
b978-3-8387-1744-9_000893.xhtml
b978-3-8387-1744-9_001086.xhtml
b978-3-8387-1744-9_001298.xhtml
b978-3-8387-1744-9_001482.xhtml
b978-3-8387-1744-9_002161.xhtml
b978-3-8387-1744-9_002446.xhtml
b978-3-8387-1744-9_002873.xhtml
b978-3-8387-1744-9_003324.xhtml
b978-3-8387-1744-9_003414.xhtml
b978-3-8387-1744-9_003652.xhtml
b978-3-8387-1744-9_003994.xhtml
b978-3-8387-1744-9_004374.xhtml
b978-3-8387-1744-9_004666.xhtml
b978-3-8387-1744-9_005198.xhtml
b978-3-8387-1744-9_005533.xhtml
b978-3-8387-1744-9_005677.xhtml
b978-3-8387-1744-9_005853.xhtml
b978-3-8387-1744-9_006372.xhtml
b978-3-8387-1744-9_007029.xhtml
b978-3-8387-1744-9_007578.xhtml
b978-3-8387-1744-9_007837.xhtml
b978-3-8387-1744-9_008002.xhtml
b978-3-8387-1744-9_008266.xhtml
b978-3-8387-1744-9_008712.xhtml
b978-3-8387-1744-9_009002.xhtml
b978-3-8387-1744-9_009038.xhtml
b978-3-8387-1744-9_009226.xhtml
b978-3-8387-1744-9_009308.xhtml
b978-3-8387-1744-9_009561.xhtml
b978-3-8387-1744-9_009689.xhtml
b978-3-8387-1744-9_010259.xhtml
b978-3-8387-1744-9_010549.xhtml
b978-3-8387-1744-9_010790.xhtml
b978-3-8387-1744-9_010985.xhtml
b978-3-8387-1744-9_011382.xhtml
b978-3-8387-1744-9_012155.xhtml
b978-3-8387-1744-9_012385.xhtml
b978-3-8387-1744-9_012467.xhtml
b978-3-8387-1744-9_012501.xhtml
b978-3-8387-1744-9_012585.xhtml
b978-3-8387-1744-9_012639.xhtml
b978-3-8387-1744-9_012708.xhtml
b978-3-8387-1744-9_012749.xhtml
b978-3-8387-1744-9_012910.xhtml
b978-3-8387-1744-9_013003.xhtml
b978-3-8387-1744-9_013596.xhtml
b978-3-8387-1744-9_013862.xhtml
b978-3-8387-1744-9_014141.xhtml
b978-3-8387-1744-9_014315.xhtml
b978-3-8387-1744-9_014535.xhtml
b978-3-8387-1744-9_014659.xhtml
b978-3-8387-1744-9_014728.xhtml
b978-3-8387-1744-9_014886.xhtml
b978-3-8387-1744-9_015006.xhtml
b978-3-8387-1744-9_015122.xhtml
b978-3-8387-1744-9_015289.xhtml
b978-3-8387-1744-9_015372.xhtml
b978-3-8387-1744-9_015568.xhtml
b978-3-8387-1744-9_015752.xhtml
b978-3-8387-1744-9_015961.xhtml
b978-3-8387-1744-9_016074.xhtml
b978-3-8387-1744-9_016202.xhtml
b978-3-8387-1744-9_016244.xhtml
b978-3-8387-1744-9_016374.xhtml
b978-3-8387-1744-9_016561.xhtml
b978-3-8387-1744-9_016701.xhtml
b978-3-8387-1744-9_016865.xhtml