32.

Jules kam am folgenden Sonntag mit Olli zum Lunch. Sie freute sich über die Einladung und war keineswegs nachtragend, was die Distanziertheit ihres Bruders und ihrer Schwägerin in den vergangenen Wochen betraf.

»Du siehst besser aus«, sagte sie mitten beim Roastbeef zu Abigail. Sie saßen zu dritt an dem alten Küchentisch, Olli im Buggy zwischen seiner Mutter und seinem Onkel.

»Findest du?« Abigail lächelte sie an, spießte eine Röstkartoffel auf und blickte zu Silas.

»Für mich sieht Abigail immer wunderschön aus«, erklärte er ein wenig steif.

»Ich rede nicht von Schönheit«, stellte Jules klar und drehte sich dann wieder zu Abigail um. »Du wirkst ruhiger als letztes Mal, da ich dich gesehen oder längere Zeit mit dir verbracht habe.« Sie schaute zu Olli hinunter, streichelte ihm über die Wange und erhielt ein Gurgeln zur Antwort; dann fügte sie ohne Verbitterung hinzu: »Das war allerdings auch kurz nach Charlies Tod.«

»Damals stand ich unter Schock«, sagte Abigail.

»Natürlich«, sagte Jules.

»Aber du hast Recht«, pflichtete Abigail ihr bei. »Ich fühle mich im Augenblick tatsächlich so gut wie lange nicht mehr.«

Silas stand auf und verließ die Küche.

»Habe ich irgendwas Falsches gesagt?«, fragte Jules.

Abigail errötete, schüttelte den Kopf und legte Messer und Gabel beiseite. »Seit unserem gemeinsamen Wochenende ist er ein wenig angespannt«, sagte sie.

Jules blickte auf die geschlossene Tür. »Ich war ein wenig besorgt«, sagte sie leise, »als er mir erzählt hat, dass …«

»Du wusstest davon?« Abigail war überrascht.

Jules nickte. »Er ist wirklich voller Enthusiasmus an die Planung herangegangen, um für dich alles richtig zu machen.« Sie hielt kurz inne. »Ich habe ihm gesagt, dass ich mir Sorgen mache, was für eine Wirkung die Rückkehr nach Schottland auf dich haben würde, wo du wieder in der Nähe der Farm sein würdest.«

Abigail schwieg kurz. »Dann hat er es dir also doch nicht erzählt.«

»Mir was erzählt?«

»Er hat mich nicht nur in die Nähe der Farm gebracht. Er ist mit mir durchs Tor gefahren, den Weg hinauf bis hin zum Haus.« Sie sah Jules’ Verzweiflung. »Ist schon gut«, versicherte sie. »Zuerst war ich außer mir, wie nicht anders zu erwarten. Ich hatte nur den Gedanken, was für ein grausamer Mensch er doch sei. Dann aber habe ich gesehen, dass er wirklich glaubte, mir zu helfen.«

»Helfen?« Jules blickte misstrauisch drein.

Abigail zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch, was man über Selbstverleugnung sagt.«

»Das ist ein dummes Wort«, sagte Jules mit Nachdruck. »Du hast ja keine Ahnung, wie viele Leute mir das nach Ralphs Tod zum Vorwurf gemacht haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Selbstverleugnung. So etwas gibt es gar nicht.«

»Er hat eine Holzbank machen lassen«, berichtete Abigail. »Für den Friedhof, auf dem meine Eltern bestattet sind. Und er hat ihre Namen darin einmeißeln lassen. ›In liebendem Gedenken …‹«

»Das ist nett von ihm«, räumte Jules ein.

Abigail dachte an die Steinbank draußen im Garten.

Noch ein Grab … ein Grab für einen Mann, bei dessen Tod Jules laut Silas’ Worten eine Rolle gespielt hatte.

Rasch lenkte Abigail ihre Gedanken in eine andere Richtung.

»Jedenfalls fühle ich mich besser.«

»Sicher?« Jules musterte sie von Kopf bis Fuß. »Ehrlich?«

Abigail, die fast vergessen hatte, was es bedeutete, ehrlich zu sein, fiel es schwer, Jules’ Blick zu begegnen. »Nicht im Hinblick auf jenen Tag … in Hinblick auf das, was ich meinen Eltern und Eddie angetan habe. Nichts könnte je dafür sorgen, dass ich mich in dieser Hinsicht besser fühle.«

»Falls es ein Trost für dich ist«, sagte Jules langsam und nachdenklich, »ich kann mir nicht vorstellen, dass Silas jemals absichtlich grausam zu dir sein würde.«

Abigail dachte an Charlie und biss die Zähne zusammen.

»Ich weiß, dass er manchmal unmöglich ist«, fuhr Jules fort, »aber …« Sie hielt inne, als sie Abigails Gesichtsausdruck sah. »Was ist?«

Abigail schüttelte den Kopf und sagte: »Er ist …«

Jules wartete eine Sekunde. »Er ist was?«

»Nichts.« Wieder schüttelte Abigail den Kopf und erhob sich vom Stuhl.

»Was ist, Abigail? Stimmt etwas nicht?«

»Es ist nichts, Jules«, antwortete Abigail. »Wirklich nicht.« Sie glaubte, die Lüge stünde ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich mache mir nur Sorgen um Silas.« Sie ging zur Tür, suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. »Ich sollte wohl mal nach ihm sehen.«

Jules seufzte. »Nimm dir Zeit«, sagte sie.

Abigail fand Silas im Bett.

»Was ist mit dir?«

»Kopfschmerzen«, sagte er. »Tut mir Leid.«

»Hast du etwas eingenommen?«

»Ja«, antwortete er. »Sag Jules, dass ich nur ein Nickerchen mache und dann wieder runterkomme.«

»Natürlich.« Sie sah, wie blass er war. »Willst du noch etwas?«

»Nein«, sagte er. »Danke. Sag Jules, dass es mir Leid tut.«

»Für Kopfschmerzen muss man sich doch nicht entschuldigen«, erwiderte Abigail.

Es war verwirrend, dachte sie, als sie die Tür hinter sich schloss: seine seltsame, kühle, nicht wirklich kalte Höflichkeit. Er hatte damit kurz vor dem Ende ihrer Schottlandreise angefangen; seitdem war es mal so, mal so. Es war schwer zu verstehen …

Aber es war nicht so schwer wie das Leben in einer Welt voller Lügen. Nicht so grotesk, wie weiterhin an seiner Seite zu schlafen und manchmal – selten, aber nichtsdestotrotz – Liebe mit ihm zu machen. Es war nicht so seltsam, wie ihm besorgte Fragen über seine Kopfschmerzen zu stellen. Als hätte sie das gekümmert.

Und doch tat sie es, tat es noch immer, und das verwirrte sie mehr als alles andere.

Abigail schob die Gedanken beiseite – wie immer.

Sie kehrte in die Küche zurück und sah, dass Jules schon mit dem Spülen angefangen hatte.

»Er hat Kopfschmerzen, und er sagt, das es ihm Leid tut.«

»Er kommt also nicht wieder herunter?« Jules träufelte Spülmittel auf einen Schwamm.

»Später vielleicht.« Abigail brachte ein weiteres Lächeln zustande. »Lass das, Jules. Wir haben noch Pudding. Und anschließend will ich erst einmal mein Patenkind knuddeln.«

Wenigstens blieb Jules diesmal.

Teuflische List
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