22.

Gut vierzehn Tage nach Ollis Geburt, drei Wochen und zwei Tage nach dem Konzert, drehte Silas sich zu Abigail um, kaum dass er den Wecker ausgeschaltet hatte.

»Ich möchte«, sagte er, »dass du Charlie Nagy als deinem Agenten kündigst.«

»Was?« Sie hatte das Gefühl, als hätte er sie brutal wachgerüttelt. »Warum sollte ich?«

»Weil ich der Meinung bin«, Silas schlug ihre Decke beiseite, »dass er bis jetzt kein guter Manager war.«

»Er war ein sehr guter Manager und ein Freund.« Abigail setzte sich auf, rieb sich die Augen, wischte sich das Haar aus dem Gesicht und zwang sich aufzuwachen.

»Das mag sein, wie es will«, Silas stieg aus dem Bett, »aber wie es aussieht, wirtschaftet er eine Menge in die eigene Tasche.« Er griff nach dem Wasserglas auf seinem Nachttisch, trank es leer und sah die Verwirrung auf dem Gesicht seiner Frau. »Um genau zu sein, er hat einen Teil der Gelder für die Wohltätigkeitsorganisationen in die eigene Tasche fließen lassen.«

»Mach dich nicht lächerlich.« Abigail war wie vor den Kopf geschlagen. »So etwas würde Charlie niemals tun.«

»Glaubst du, ich hätte mir das ausgedacht?«

»Nein, natürlich nicht, aber …« Sie schüttelte den Kopf und starrte zu ihm hinauf. »Das ist ein Fehler, Silas. Wer hat dir das erzählt?«

»Die Buchhalter.«

»Dann lass mich mit ihnen reden«, sagte Abigail. »Ich werde ihnen sagen, dass sie sich geirrt haben.«

»Irgendwie bezweifle ich, dass sie dir glauben werden.«

»Ich kenne Charlie seit Jahren!«

»Aber sicher nicht so gut, oder?«

»Gut genug«, erwiderte sie beherzt.

»Deine Loyalität ist lobenswert.«

»Das hat nichts mit Loyalität zu tun«, sagte Abigail. »Ich glaube ihm einfach.«

Silas lächelte, beugte sich vor und küsste sie auf den Kopf.

»Du musst ihn feuern«, sagte er.

Voller schmerzhafter Anspannung wartete Abigail drei Tage lang, bis Silas eines Morgens voll und ganz mit einem Shooting beschäftigt war, und fuhr dann nach Bayswater.

»Ich nehme an, er hat dir erzählt, was er mir vorwirft«, sagte Charlie.

»Er hat gesagt, es seien die Buchhalter, nicht er«, erwiderte Abigail.

»Ich habe mit den Buchhaltern gesprochen.« Charlies Gesicht war abgehärmt, und seine Hände zitterten leicht, als er sich eines seiner Zigarillos anzündete. »Sie scheinen sich gar nicht sicher zu sein. Sie haben gesagt, ich soll mit deinem Mann reden, wenn ich mehr Informationen haben will.«

»Das alles ist ein schrecklicher, dummer Fehler.« Abigail ließ sich auf die Couch sinken und fragte sich, ob sie überhaupt noch willkommen war. »Macht es dir etwas aus, dass ich hier bin, Charlie?«

»Warum sollte es mir etwas ausmachen?«

»Wie du gesagt hast, er ist mein Mann.«

»Aber ihr scheint in dieser Sache nicht einer Meinung zu sein.«

»Natürlich nicht.« Abigail war zu nervös, um sitzen zu bleiben, und stand wieder auf. »Ich weiß, dass du niemals Geld unterschlagen würdest. Das muss schlicht ein Missverständnis sein.«

»Als ›schlicht‹ würde ich es nicht bezeichnen«, erwiderte Charlie trocken.

»Stimmt«, gab sie zu.

Sie nahm den angebotenen Kaffee und erklärte sich einverstanden, noch ein wenig zu bleiben. Sie tat ihr Bestes, Charlie zu versichern, dass sie felsenfest an ihn glaubte, und hatte das Gefühl, auch Erfolg damit zu haben. Doch während sie noch mit ihm plauderte und ihm ihre Freundschaft demonstrierte, erkannte Abigail zu ihrer Verzweiflung ihre Zwangslage: Wenn sie Charlie glaubte, würde das bedeuten, dass sie Silas keinen Glauben schenkte.

Über dieses Problem wollte sie nicht einmal nachdenken. Die Vorstellung, er könnte etwas derart Übles über jemanden erfunden haben, war ihr unerträglich.

Doch als sie schließlich die Agentur verließ, wusste sie, dass zumindest die Möglichkeit untersucht werden musste.

Warum sollte Silas so etwas tun?

Eifersucht vielleicht, dachte sie, während sie auf die Bahn der Central Line wartete.

Der Zug rumpelte in den Bahnhof. Abigail stieg ein und setzte sich einem Mann gegenüber, der einen Cheeseburger aß. Sie schloss die Augen, um den Anblick zu verdrängen, und wünschte sich, sie wäre mit dem Mini in die Stadt gefahren. Ihre Gedanken kehrten zum Abend des Konzerts zurück, zu der Szene in der Garderobe der Jerome Hall, und wie Silas aus dem Zimmer gestürmt war. Könnte es sein, dass er erwartet hatte, sie würde ihm hinterherlaufen? Hatte er gesehen, wie Charlie in die Garderobe gekommen war, oder hatte es ihn vielleicht geärgert, dass Charlie sie nach Hause gefahren hatte?

Quatsch.

Allerdings wusste Abigail, dass Silas schlecht verzeihen konnte. Schließlich hatte sie seine Reaktion miterlebt, als Jules ihm nicht sofort gesagt hatte, dass sie schwanger war.

Trotzdem. Wenn man eine Freundin, eine Klientin nach Hause fuhr, gab es wohl kaum etwas zu verzeihen. Und Silas konnte unmöglich wissen, dass sie an jenem Abend mit Charlie essen gegangen wäre, hätte er nicht darauf bestanden, sie sofort nach Hause zu fahren.

Diese Gedanken machten ihr zu schaffen, während sie in der Tottenham Court Road zum Bahnsteig der Northern Line ging und dort auf den Zug nach Highgate wartete. Dabei fiel ihr das andere, frühere Gespräch wieder ein, als Silas hatte wissen wollen, ob Charlie schwul sei, worauf sie leichthin gesagt hatte, wie eifersüchtig er doch sei, und Silas hatte geantwortet: »Versuch nie, das herauszufinden.«

Also steckte vielleicht Eifersucht hinter alledem. Als sie sich nach dem Konzert so schrecklich aufgeführt hatte, war Silas’ Stimmung vielleicht düsterer gewesen, als sie geglaubt hatte. Schließlich war angesichts der Demütigung das Temperament mit ihr durchgegangen, und sie hatte Silas beschimpft, anstatt ihm zu danken, und dann war da noch Charlie gewesen, dem sie einen Kuss gegeben hatte, aber nur auf die Wange, um Himmels willen …

Vielleicht war es gar keine sexuelle Eifersucht, überlegte Abigail und stieg in den Zug nach High Barnet. Vielleicht war es mehr eine Frage der Loyalität. Vielleicht konnte Silas den Gedanken nicht ertragen, dass sie mit Charlie über ihn geredet hatte – und das hatte sie ja. Falls Silas glaubte, dass sie ihn dem anderen Mann gegenüber kritisiert hatte, lief diese Anklage, die Forderung, Charlie zu feuern, vielleicht auf diesen einen unverzeihlichen Akt hinaus.

Falls es tatsächlich Eifersucht war, überlegte Abigail, sollte sie sich eigentlich geschmeichelt fühlen. Immerhin war es ein Symptom seiner beständigen Liebe zu ihr. Und Liebe ging in Abigails begrenzter Erfahrung oft mit Kontrolle einher. Ihre Mutter hatte sie ja auch kontrollieren wollen.

Aber nicht so.

Nichtsdestotrotz, dachte sie, als der Zug in Euston einfuhr, war es Liebe, und Silas hatte sie vor einem Leben in Einsamkeit gerettet. Und sie liebte ihn auch, über alle Maßen – und es gab gewisse Dinge, die man für die Menschen tun musste, die man liebte.

Cello spielen.

Den Agenten und Manager feuern.

Sich vor dem eigenen Zorn hüten.

Besonders wenn man wusste – besser und schmerzhafter als alle anderen –, dass man ein Talent zur Zerstörung hatte.

Teuflische List
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