Sechsundzwanzig
Er wachte auf, weil er fror.
Seine Kleider waren klamm und klebten kalt am Bauch und zwischen den Schulterblättern.
Er hatte nicht daran gedacht, das Fenster offen zu lassen, bevor er einschlief. Jetzt waren die Scheiben von seinem Atem dick beschlagen, satte Tropfen bahnten sich ihren Weg und zeichneten ein wirres Streifenmuster.
Als er mit der Zunge an den Zähnen entlangfuhr, spürte er einen stumpfen, pelzigen Belag. Es schmeckte nach Jauche.
Ächzend richtete er sich halb auf und ließ sich über die Lehne nach vorn auf den Fahrersitz rutschen. Sein Darm machte eine langsame Drehung.
Im Rückspiegel konnte er sein Gesicht sehen. An seinen Lippen klebte angetrockneter, bräunlicher Speichel, der zähe Fäden zog. Der Ärmelknopf seines Parkas hatte auf seiner Backe einen tiefen, flammroten Abdruck hinterlassen.
Er hatte Hunger. Das Stück Weißbrot auf der Ablage, das er heute früh hatte essen wollen, war durch die Feuchtigkeit pappig aufgedunsen und ungenießbar.
Das nächste öffentliche Klo war am Minnoritenplatz. Was für eine Scheißstadt.
Andy und Gerd und die drei Weiber – wieso hatten sie ihn vor die Tür setzen müssen? Wohngemeinschaft nannten die sich – der blanke Hohn. Hätten die ihm nicht wenigstens Zeit geben können, bis er etwas anderes gefunden hatte? Vier, fünf Tage nur, dann hätte er nicht in diesem Scheißauto pennen müssen.
Erbärmliche Spießer – alle, wie sie da waren.
Grimmig kratzte er sich den Belag von den Zähnen und lutschte den Finger ab.
Sprit hatte er auch keinen mehr. Höchstens noch für dreißig, vierzig Kilometer.
Mit klammen Fingern klaubte er die letzten Münzen aus seiner Parkatasche: 9,86 DM. Nicht einmal zehn Mark für die nächsten zwei Wochen. Und selbst das nützte ihm heute nichts. Die Läden hatten alle dicht – Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen!
Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen durch die Seitenscheibe. Halb neun.
Er beugte sich vor und sah an der alten Befestigungsmauer hinauf, an deren Fuß er den Wagen letzte Nacht abgestellt hatte. Hoch oben zwischen den Ulmengipfeln konnte man den Schwanenturm erkennen.
Sein Darm wand sich wieder, diesmal so energisch, dass er die Fahrertür aufstieß und hinausstürzte.
Scheiße, er hatte nicht einmal ein Stück Papier.
Hastig ließ er die Hose runter und hockte sich zwischen Mauer und Stoßstange. Er hatte gerade noch Zeit, den Brennnesseln auszuweichen, die dort in Unmengen wuchsen.
Die Glocken der nahen Unterstadtkirche begannen zu läuten.
«Papa, da kackt einer.» Er konnte das Kind nur hören.
Schnell zog er die Hose hoch und ging um den Wagen herum. Als er sich auf den Sitzen fallen ließ, glitschte es zwischen seinen Arschbacken.
Da gingen sie an seinem Auto vorbei, zwei Kinder, ein Mann und eine Frau. Recht fein ordentlich nebeneinander. Auf dem Weg zur Kirche, in ihren Sonntagskleidern, sauber gewaschen, glatt rasiert und mit Duftwässerchen ihre menschlichen Ausdünstungen kaschierend.
Ja, geht ihr nur, ihr erbärmlichen Spießer. Was habt ihr schon erreicht! Alles immer schön ordentlich: Taufe, Kommunion, Hochzeit, und samstags zur Beichte. Ein kleines Häuschen, den polierten Mazda vor der Tür, in der Schrankwand den Videorecorder. Die Kinderlein hübsch brav aufs Gymnasium, ein Häppchen für Papi, ein Küsschen für Mama. Alles, wie’s sich gehört: der Kegelausflug, das Kaffeekränzchen, der Samstagsabendroutinefick und sonntags in die Kirche. Kleine Spende an ‹Misereor›, und schon war das Gewissen beruhigt. Da kommt ihr alle aus euren warmen Betten gekrochen und wisst ganz genau, wo’s langgeht: dick und satt.
Wut stieg in ihm auf. Er rülpste laut und lange.
Diese Wichser in Moers gestern. Free-Jazz-Festival, dass ich nicht lache! Die reine kommerzielle Scheiße. Aasgeier, wie alle anderen auch. Bei diesen Menschenmassen dort hatten die doch ihren Gewinn längst gemacht. Es hätte sie nicht umgebracht, wenn sie mich ohne Karte reingelassen hätten. Profitgeil, alle, wie sie da waren. Alles drehte sich um den Mammon, der Tanz ums goldene Kalb. Und geizig bis in den Tod, geizig auch mit Gefühlen für alle, die ihre Regeln nicht akzeptieren, für alle, die sich Umwege erlauben, die menschlich bleiben. Über solche rümpft ihr die Nase, solche existieren eigentlich gar nicht.
Aber bevor die mich auslöschen, muss noch einiges passieren. Ich lasse mich von keinem mehr runtermachen wie ein Stück Dreck, von keinem mehr fallenlassen, von keinem mehr ignorieren. Ihre Wahrheit habe ich mir lange genug angehört. Jetzt hören die mal zu!
Auch die Martini hatte noch was an ihm gutzumachen.
Jede Menge hat die an mir gutzumachen!
Die Wohnung, die sie hat, ist verdammt groß, und reichlich zu fressen hat sie auch. Wohlstand, dick und fett und satt – die auch –, aber eingetrocknet im Hirn und im Herzen.
Die hat mich nicht reingelassen gestern! Diese frigide Zicke. Der Laden lief ihr damals nicht gut genug – ha! –, dass ich nicht lache! Bloß nicht teilen, bloß nichts abgeben vom großen Kuchen, den fetten Reibach alleine einstecken. Das war’s doch. Und jetzt sitzt sie auf ihren Geldsäcken und hat es nicht einmal nötig, mir die Tür zu öffnen. Aber so einfach geht das nicht. Sie wird teilen, so kommt sie mir nicht davon.
Als er entschlossen zum Zündschlüssel griff, klopfte es hart gegen die Seitenscheibe.
Polizeiobermeister Flintrop öffnete die Autotür von außen. «Morgen. Na, dann zeigen Sie uns mal Ihre Papiere.»
Küsters zog ironisch die Mundwinkel hoch, fingerte langsam seinen zerfledderten Führerschein aus der Parkatasche und hielt ihn dem Polizisten hin.
Flintrop stand breitbeinig vor der offenen Tür und rümpfte die Nase. «Hier stinkt’s ja wie im Scheißhaus.»
Dann faltete er mit spitzen Fingern den Führerschein auseinander. Er schaute Küsters abfällig an und grinste dann so breit es ihm möglich war.
«Hein!», rief er seinem Kollegen im Polizeiauto zu, ohne den Blick von Küsters abzuwenden. «Sieht so aus, als hätten wir einen ganz großen Fang gemacht.»