Zwölf
Das Klappern des Briefkastens weckte ihn. Er richtete sich halb auf und sah auf die Leuchtziffern des Weckers: zwanzig vor fünf. Das musste die Zeitungsfrau gewesen sein. Er drehte sich auf die linke Seite und versuchte, wieder einzuschlafen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Er spürte, wie er zu schwitzen begann, und legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte ins Dunkel. Gabi atmete flach und ruhig neben ihm. Kühle Morgenluft kam durchs Fenster herein, alles war still, nur die Lämmer auf der Schafwiese seines Schwiegervaters gleich hinter der Terrasse blökten verschlafen.
Schließlich stand er auf und tastete mit den Füßen nach seinen Pantoffeln. Er schlurfte zur Haustür, öffnete sie einen Spalt weit, nahm die Zeitung aus dem Briefkasten, ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Gabi hatte sie wie immer vor dem Zubettgehen mit Wasser und Kaffee gefüllt.
Aus dem Küchenfenster blickte ihm sein Spiegelbild entgegen, nackt, hellhäutig und spärlich behaart, ein deutlich zu dicker Bauch. An den Füßen die blau-rot gewürfelten Filzpantoffeln, die ihm seine Schwiegermutter zu Weihnachten geschenkt hatte: eine lächerliche Gestalt. Er fröstelte. Auf dem Weg zum Bad schlug er den Lokalteil der Zeitung auf. Wie er erwartet oder vielleicht befürchtet hatte, gleich auf der ersten Seite als Leitartikel:
DOPPELMORD IN BIGBAND DER KREISMUSIKSCHULE: Pressekonferenz der Polizei ließ viele Fragen offen.
Nicht zufriedenstellen konnte die gestrige Pressekonferenz der Kripo Kleve, in der es um die rätselhaften Morde an zwei Mitgliedern der Bigband der Kreismusikschule ging. Staatsanwalt Dr. Stein war ernsthaft bemüht, die Fragen der anwesenden Journalisten nach Tatumständen und möglichen Tatverdächtigen ausführlich zu beantworten. Dennoch blieb der Eindruck bestehen, dass der Kripo ein griffiges Konzept für die weiteren Ermittlungen noch fehlt.
«Griffiges Konzept», murmelte er, «schön formuliert», und ließ sich ein Bad ein. Zeit genug hatte er noch, und in der Wanne ließ sich gut nachdenken.
Berns hastete ein paar Meter vor ihm die Treppe zum Büro hoch. Er hatte Toppe augenscheinlich nicht bemerkt.
«Herr Berns», rief Toppe ihm nach und gab sich einen Ruck. Irgendwann musste es ja sein.
Berns blieb auf der obersten Stufe stehen und drehte sich langsam um.
«Ach, Herr Toppe. Morgen. Ich hatte Sie gar nicht gesehen.»
Er war ein schlechter Schauspieler.
«Morgen. Ich möchte kurz mit Ihnen allein sprechen.»
Berns runzelte die Stirn. «Bitte», antwortete er und wartete.
«Gehen wir ins Vernehmungszimmer», sagte Toppe und machte sich auf den Weg. Berns folgte ihm mit zwei Schritten Abstand.
Im Vernehmungszimmer herrschte Dämmerlicht. Die schmutzig grünen Vorhänge waren zugezogen, die Luft war staubig und verbraucht. Toppe öffnete die Gardinen und beide Fensterflügel.
«Setzen Sie sich doch», sagte er, als er sich wieder umdrehte.
«Danke», antwortete Berns spitz, «ich stehe lieber.»
«Gut.» Toppe lehnte sich gegen die Fensterbank. «Machen wir’s kurz und geradeaus: Ich bin mit Ihrer Art zu arbeiten nicht zufrieden.»
«Wie bitte?» Berns lief so plötzlich dunkelrot an, als habe man eine Lampe angeknipst. «Wollen Sie mir unterstellen, ich hätte gestern blau gemacht, oder was?»
«Ich unterstelle Ihnen nichts, Herr Berns. Und über Ihre Erkrankung rede ich gar nicht», entgegnete Toppe so sachlich, wie es ihm möglich war. «Es geht mir darum, dass Sie es in einer Zeit, in der es hier, weiß Gott, Arbeit für zehn gibt, vorziehen, in einem Vergnügungsausschuss zu sitzen.»
«Was wollen Sie damit sagen?» Berns brüllte.
«Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt.» Im gleichen Maß, in dem Berns’ Wut stieg, wurde Toppe ruhiger. «Die ganze ED-Arbeit gestern und vorgestern musste van Gemmern so gut wie alleine machen, und das in unserer augenblicklichen Situation.»
«Moment, Moment, jetzt aber mal langsam.» Berns war wieder leiser geworden und trat näher. «Werfen Sie mir etwa vor, dass ich nicht wie ein Irrer Überstunden kloppe?»
«Um Überstunden geht es hier gar nicht.»
«Doch, mir geht es aber darum. Jetzt passen Sie mal auf. Wissen Sie eigentlich, wie alt ich bin, he? Wissen Sie eigentlich, wie viel Jahre ich in diesem Scheißjob schon auf dem Buckel hab’, ja, wissen Sie das? Glauben Sie, ich könnte mir noch die Nächte so um die Ohren schlagen wie dieser junge Spund van Gemmern? Und wenn ich’s noch könnte», er grinste ölig, «wem wäre damit gedient? Sie kennen die Personalsituation genauso gut wie ich. Wenn wir hier alle so dämlich sind und Stunden runterreißen wie die Geisteskranken, wie sollen denn dann jemals neue Stellen genehmigt werden? Da geben Sie mir mal eine Antwort drauf, Herr Hauptkommissar.»
«Darum geht es doch gar nicht.»
«Doch, darum geht es ganz genau.» Berns wurde wieder lauter. «Und davon mal abgesehen: Wer hat denn das Labor so aufgebaut, dass Ihr Hätschelkind van Gemmern all die erstklassigen Auswertungen selber machen kann, he? Wer denn? Das war ich, Mann! Jahrelang hab ich mir die Finger wund geschrieben und bin von Pontius zu Pilatus gelaufen. Und wo wir gerade bei van Gemmern sind: Phantasie hat der Junge wahrhaftig genug, aber haben Sie den mal bei der Arbeit vor Ort gesehen, am Tatort, ja? Und wenn, können Sie das beurteilen?»
Toppe antwortete nicht, er wartete ergeben.
«Nee, können Sie nämlich nicht. Und ich will Ihnen was sagen: Erfahrung zählt. Erfahrung. Und wo wir gerade dabei sind: Wer ist denn draufgekommen, bei der Bruikelaer im Zimmer Fingerspuren zu nehmen? Van Gemmern? Nee, das war ich! Fingerspuren bei ’nem Selbstmord! Ist Ihnen gar nicht aufgefallen, dass das nicht normal ist, was? Kein Wort hab ich darüber von Ihnen gehört, Toppe. Foto machen, messen, abkleben wegen Mikrospuren, das ist die Routine bei Suizid. Das wissen Sie genau wie ich. Aber ich hab die Fingerspuren trotzdem genommen. Erfahrung eben, und der richtige Riecher, wie ich immer sage, darauf kommt es an.»
Er bekam kaum noch Luft.
«Stimmt», antwortete Toppe.
«Stimmt, stimmt», schnaubte Berns. «Eins sag ich Ihnen. Ich mache meine Arbeit, aber ich mach mich nicht mehr kaputt für diesen Verein. Ich nicht mehr! Da lass mal die jungen Quexe ran, die so nassforsch Karriere machen wollen.»
«Nun mal halblang», unterbrach Toppe seinen Wortschwall, aber Berns wischte alles mit einer einzigen Handbewegung weg. Er war in Rage.
«Und wo wir gerade dabei sind, Herr Toppe: Wo waren Sie denn bei der Obduktion, was? Von wegen Anerkennungszeuge! Nee, da musste wieder die arme Sau von Polizeifotograf ran. Arbeitsmoral, damit wollen Sie mir kommen? Dass ich nicht lache!»
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür.
Toppe griff sich in den Bart.
«Stopp», rief er, und Berns blieb stehen. «Das Letzte war unnötig, Herr Berns.»
Berns atmete tief durch, seine Energie war verpufft.
«So», sagte Toppe, ging zu dem einzigen Tisch im Raum und setzte sich auf einen der beiden Stühle, «und jetzt setzen Sie sich, und wir reden in Ruhe darüber.»
Widerwillig kam Berns zurück und setzte sich. Das anschließende Gespräch war gar nicht so übel.
Ackermann war eingetroffen, was man an der Atmosphäre im Büro deutlich ablesen konnte. Amüsierte Gereiztheit, dachte Toppe, so lässt es sich wohl am treffendsten beschreiben.
Sie kamen ohne langen Anlauf zur Sache.
Van Appeldorn und Heinrichs hatten es tatsächlich noch geschafft, eine vollständige Liste der Leute, die auf Reuters Fete gewesen waren, zusammenzustellen. Ausführliche Einzelbefragungen hatten sie allerdings nicht mehr durchführen können.
«Und ich habe gestern noch die beiden Kinder von diesem Dr. Baumgarten befragt», sagte Breitenegger, «die beiden Saxophone.» Er wedelte vorwurfsvoll mit seinem Bericht.
«Ja, schon gut, Günther», winkte Heinrichs ab, «heute Abend hast du alle Berichte auf deinem Tisch.»
«Und was ist nun mit den Kindern?», fragte Toppe ungeduldig.
«Ja, nix», brummte Breitenegger. «Sind wirklich noch Kinder. Die haben den Reuter bewundert, weil er halt Profimusiker war und schon so alt, und weil er so richtige Musiker kannte. Aber mehr ist da nicht zu holen gewesen.»
Toppe war unzufrieden. «Mensch, da muss doch irgendwo was begraben sein in dieser Bigband», sagte er mehr zu sich selbst.
«Also bei denen jedenfalls nicht», entgegnete Breitenegger.
«Ich hab auch noch was», mischte sich Astrid ein. «Sie hatten mir doch den Karton mit den Konzertzetteln gegeben und den Zeitungsausschnitten und so.»
«Ja», nickte Toppe, «und?»
«Viel konnte ich nicht damit anfangen, aber ein Freund von mir ist auch Jazzer. Also, kein Profi, aber er hat ziemlich Ahnung. Und mit dem bin ich das alles mal so durchgegangen.»
Toppe runzelte die Stirn, und sie verstand sofort. «Nein, ich hab dem nicht die Ausschnitte gezeigt, oder so. Ich hatte mir vorher alles aufgeschrieben. Ich habe dem nicht erzählt, worum es ging.» Sie wirkte ein bisschen sauer, schluckte es aber schnell herunter. «Also, die ganzen Gruppen, in denen Reuther so gespielt hat, sind eigentlich Secondhand-Profi-Bands. Nicht schlecht, nicht ganz unbekannt, aber sicher auch nicht die erste Sahne. Über Deutschland raus kennt die kein Mensch.» Sie pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Aus dem ganzen Wust habe ich eine Liste mit 112 Namen erstellt. Die Leute wohnen im ganzen Bundesgebiet.»
«Oh, mein Gott», stöhnte Heinrichs.
«Wieso? Sind doch schöne Dienstreisen», bemerkte van Appeldorn.
«War einer von denen auf der Fete?», fragte Toppe.
«Geben Sie mir mal die Liste rüber, Astrid.» Van Appeldorn streckte die Hand aus. «Das lässt sich gleich feststellen.»
Das Telefon klingelte. «Ja, Toppe.»
«Guten Tag. Ist dort die Mordkommission?»
«Ja, Hauptkommissar Toppe am Apparat.»
«Bearbeiten Sie die Morde an der Bigband?»
«Ja. Mit wem spreche ich?»
«Püplichhuisen. Heinrich Püplichhuisen, meine Kinder spielen in der Band.»
«Ja?»
«Ich wollte mal hören, was eigentlich los ist. Ich habe ja erst heute Morgen aus der Zeitung … mein Gott … furchtbar … und meine Kinder.»
«Ja, Herr Püplichhuisen?»
«Ich meine, haben Sie den Mörder schon?»
«Nein, bisher noch nicht.»
«Dann stimmt das also, was in der Zeitung steht. Da läuft ein Bekloppter rum und murkst die Leute aus der Bigband ab?»
«Wir können Ihnen leider noch nichts Genaues sagen.»
«Und was sollen wir jetzt tun? Das wollte ich Sie nämlich fragen. Was ist mit meinen Kindern? Die sind doch in Gefahr. Was soll ich denn machen? Soll ich sie zu Hause halten, oder kann ich sie zur Schule schicken?»
Toppe überlegte. «Das Beste wird sein, Sie entschuldigen Ihre Kinder für heute und lassen sie heute Morgen zu uns ins Präsidium kommen, damit wir mit ihnen reden können.»
«Ist gut, Herr Kommissar. Jetzt gleich?»
«Nein.» Toppe sah auf die Uhr. «Passt es Ihnen gegen zehn?»
«Ja, natürlich. Natürlich, Herr Kommissar, wir kommen dann.»
Toppe legte auf und kramte auf seinem Schreibtisch nach der Liste der Bigband-Leute.
«Der Zeitungsartikel tut seine Wirkung. Das war ein Herr Püplichhuisen, der Vater von, wartet mal, ach ja, hier, Nr. 3 und 6 auf unserer Liste, Trompete: Bernhardine Püplichhuisen, 15 Jahre, und Posaune: Dietrich Püplichhuisen, 16 Jahre. Der Mann ist ziemlich in Sorge um seine Kinder, verständlich. Ich habe sie für zehn Uhr einbestellt.»
«Gut», nickte Breitenegger, «und jetzt?»
«Wir überlegen uns, wer welche Aufgaben übernimmt.»
«Unsereins is’ jedenfalls zu alle Schandtaten bereit.» Ackermann rieb sich vergnügt die Hände und handelte sich damit einen vernichtenden Blick von van Appeldorn ein.
«Wir haben eine Reihe von Ansatzpunkten», meinte Heinrichs. «Ich habe mir die mal notiert. Da wären die Einzelbefragungen der Gäste von Reuters Fete. Dann die Mutter und der Bruder, die Musiker aus der Bigband und vielleicht auch noch einmal die Nachbarn.»
Toppe ging zum Fenster hinüber. «Und die Musiker aus den anderen Gruppen, in denen Reuter gespielt hat.» Er sah fragend zu van Appeldorn hinüber, der immer noch die Listen verglich. Der fuhr mit dem Kuli an den Namenskolonnen entlang und schüttelte langsam den Kopf. «Nein, ich finde keine Übereinstimmung.»
«Sollen wir denn diese Musiker nicht zunächst einmal hintenan stellen? Wir haben doch hier vor Ort einstweilen genug zu tun», gab Breitenegger zu bedenken.
«Ja.» Toppe war offensichtlich mit seinen Gedanken woanders.
Berns räusperte sich vernehmlich. Er hatte die ganze Zeit neben van Gemmern im Hintergrund gesessen und zugehört.
«Brauchen Sie uns noch?»
Toppe sah ihn irritiert an. «Im Moment eigentlich nicht», antwortete er dann.
«Das ist gut. Wir haben nämlich noch ein paar dringende Sachen für das 4. K. zu erledigen. Komm, Klaus. Sie melden sich, wenn Sie uns brauchen, Herr Toppe?»
Toppe nickte nur und begann: «Ich weiß nicht, wir müssen einfach mehr über diese Bigband rauskriegen. Die ist doch recht bekannt hier in der Gegend, oder?»
«Ja, klar», bestätigte Astrid.
«Dann muss doch eigentlich öfter mal was in der Zeitung gestanden haben. Wir sollten uns aus den Archiven alle Veröffentlichungen der letzten Zeit raussuchen. Vielleicht stoßen wir da auf etwas.»
Van Appeldorn knurrte, aber Toppe beachtete ihn nicht.
«Astrid, würden Sie das übernehmen? Aus den letzten zwölf Monaten alle erschienenen Artikel kopieren, und wenn Fotos dabei sind, Abzüge besorgen?»
«Ja, ist gut, mach ich.»
Es klopfte kurz, und ohne ein ‹Herein› abzuwarten, betrat der Chef das Büro. Er trug ein Exemplar der Tageszeitung unter dem linken Arm, so gefaltet, dass die Schlagzeile ‹DOPPELMORD IN BIGBAND› einem sofort ins Auge fiel.
«Guten Morgen, meine Herren», grüßte er mit jovialem Lächeln. «Ich wollte nur kurz einmal hereinschauen.»
Toppe verdrehte innerlich die Augen. Dr. Bouwmans war eine ‹überaus gepflegte Erscheinung›, wie seine Schwiegermutter es formuliert hätte, dabei wortgewandt, höflich, glatt.
«Wie kommen Sie voran?»
«Nicht schlecht», antwortete Toppe. «Wir erstellen gerade ein Arbeitskonzept.»
«Arbeitskonzept, ausgezeichnet. Sie wissen ja, Sie haben mein vollstes Vertrauen. Mit Ihren Ergebnissen in den letzten Jahren konnten wir durchaus zufrieden sein, Herr Toppe.»
Er nahm seine Goldrandbrille ab und ließ sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin- und herpendeln.
Toppe fragte sich, wen Bouwmans wohl mit ‹wir› meinte. ‹Ich und der Innenminister› vielleicht?
«Nun, dieser Doppelmord ist wirklich eine außerordentlich unangenehme Geschichte», fügte Bouwmans bedauernd hinzu. «Aber, wie gesagt, ich habe volles Vertrauen, dass Sie Ihre Ermittlungen zügig zu einem positiven Ergebnis bringen.»
Er setzte die Brille wieder auf und legte seine manikürte Hand auf die Türklinke.
«Man möchte seinem Nachfolger ja gern einen sauberen Schreibtisch hinterlassen, nicht wahr?»
Er lächelte noch einmal freundlich und ging: «Guten Tag, die Herren.»
«… und Damen», knurrte Breitenegger.