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Sieben

Dieter Seghers war äußerst zugeknöpft, fast überheblich, und Toppe hatte einige Mühe, mehr als zwei zusammenhängende Sätze aus ihm herauszubekommen. Der Mann versuchte erst gar nicht zu verheimlichen, dass er eine Abneigung gegen ‹Bullen› hatte. Er war der Dritte der Leute aus dem Krankenhaus, den sie jetzt vernahmen, Breitenegger, Astrid und er. Fünf weitere warteten noch draußen auf dem Flur, und Toppe merkte, wie er langsam immer gereizter wurde.

«Sie hatten also ein Verhältnis mit Frau Bruikelaer?»

«Verhältnis?» Seghers lachte. «Ja, wenn Sie das so nennen wollen.»

Das Telefon klingelte, und Toppe nahm ärgerlich den Hörer ab.

«Toppe.»

Wagner von der Zentrale war am Apparat.

«Es gibt mal wieder Arbeit, Herr Toppe. Eine männliche Leiche in der Schwanenstraße. Die Kollegen von der Schutzpolizei warten auf Sie.»

«Danke.» Toppe stöhnte.

«Ich muss weg», wandte er sich an Breitenegger. «Machst du mit Astrid hier weiter?»

Dieter Seghers saß breitbeinig auf dem Stuhl und sah gelangweilt zum Fenster hinaus.

Breitenegger richtete sich aus seiner bequemen Sitzhaltung auf und nickte Toppe beruhigend zu.

«Und wie komme ich jetzt an den ED?», fragte Toppe. «Berns und van Gemmern sind doch beide in Emmerich.»

«Nein, das kann nicht sein», antwortete Breitenegger. «Van Gemmern ist vorhin allein weggefahren. Das hab ich gesehen.»

«Wie, allein? Berns war nicht dabei?» Toppe schnappte hörbar nach Luft. «Wo tagt dieser Festausschuss?»

«Festausschuss? Welcher Festausschuss?»

Aber Toppe winkte ab und hatte den Telefonhörer schon in der Hand.

Es dauerte fast zehn Minuten, bis er Berns endlich am Apparat hatte.

«Männliche Leiche in der Schwanenstraße», sagte er knapp. «Bitte kommen Sie sofort hin.»

«Nee, also, Toppe, das geht jetzt auf gar keinen Fall. Wir sind mitten in der Planung. Da kann doch mal van Gemmern …»

«In spätestens fünfzehn Minuten sind Sie in der Schwanenstraße», sagte Toppe sehr langsam und deutlich und legte den Hörer auf.


Wo, zum Teufel, war die Schwanenstraße? Jetzt wohnte er schon jahrelang in dieser Stadt, und noch immer schien es Dutzende von Straßen zu geben, von denen er noch nie etwas gehört hatte.

Toppe angelte seinen Stadtplan aus dem Handschuhfach und fand die Straße schließlich mitten in der Innenstadt.

Und wieder wollte sein Auto nicht anspringen. «Komm, sei brav, spring an», bettelte er, und dann: «Gottverdammte Kiste!»

Jemand klopfte gegen die Scheibe. Es war Ackermann, der ihn freundlich angrinste.

«Na, will dat alte Möhrken ma’ wieder nich’?»

Toppe machte einen erneuten Startversuch. Ackermann hatte seinen rechten Arm aufs Dach gelegt und schaute interessiert zu: «Ja, ja, wenn so Kisten ers’ ma’ in die Jahre kommen … wie bei unsereinem, wa?» Er lachte herzhaft. «Kann ich Sie ir’ndwohin mitnehmen, Chef?»

Toppe zögerte. «Ich habe einen Einsatz in der Schwanenstraße, männliche Leiche.»

«Klasse!» Ackermann freute sich. «Dann steigen Se ma’ um. Ich fahr Sie hin.»

«Sind Sie denn nicht im Dienst?»

«Nö, ich war grad am Feierabendmachen. Ich komm gern mit.» Er sah Toppe treuherzig an. «Mord ist ja sozusagen mein Hobby, dat wissen Se doch.»

«Wenn Sie unbedingt wollen», stimmte Toppe zu. Er hatte vor langer Zeit aufgehört, sich über Ackermann zu wundern.


Die Schwanenstraße war eine enge, kopfsteingepflasterte Gasse; auf der einen Seite eine hohe Häuserzeile aus dem neunzehnten Jahrhundert, auf der anderen Seite die Reste einer mittelalterlichen Befestigungsmauer. Toppe hätte vermutlich lange nach dieser Straße gesucht. Sie lag wohlversteckt im Gewirr der winkligen Gassen am Heideberg.

Der Einsatzwagen blockierte die ganze Straße. Es war inzwischen fast völlig dunkel, und das eingeschaltete Blaulicht gab der Szene einen dramatischen Anstrich. Überall auf der Straße und an den Fenstern standen Leute.

Die beiden Kollegen von der Schutzpolizei warteten schon. Schultz stand in der Eingangstür, Flintrop lehnte am Kotflügel des Peterwagens. «Die Wohnung ist gleich hier unten», rief Schultz eifrig und ging voraus in einen schummrig beleuchteten, schmalen Flur.

Es roch nach ungemachten Betten.

Toppe stieß eine Tür auf und trat in eine große, quadratische Küche. Sie war dürftig möbliert mit einem Herd, einer Spüle, einem Kühlschrank und einem offenen Kiefernregal. In der Mitte ein großer Tisch mit mehreren Stühlen, die alle nicht zueinander passten. Überall standen Gläser und Weinflaschen herum, stapelten sich schmutzige Teller und Besteck.

An der linken Wand war ein Durchgang zu einem Zimmer, einer Art Wohn-Schlaf-Raum mit einem großen alten Bauernschrank, zwei abgeschabten Ohrensesseln, einem niedrigen Tisch und einem breiten Matratzenlager auf dem Fußboden. An der Wand über diesem Bett hing ein bunter Kelimteppich. Auch hier standen überall schmutzige Gläser und überquellende Aschenbecher. Die Luft – eine Mischung aus kaltem Rauch und abgestandenem Alkohol – war zum Schneiden dick.

Der Tote lag auf der Matratze. Er trug eine schwarze Lederhose und einen grauen Wollpullover, dessen Ärmel hochgeschoben waren. In der Vene der linken Armbeuge steckte eine Spritze. Der Mann hatte den Kopf zur Seite gedreht, die Augen geschlossen. Er hatte einen vollkommen entspannten Gesichtsausdruck, beinahe als schlafe er. Sein schwarzes Haar war über der Stirn dünn, hinten hatte er es mit einem roten Gummiband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trug handgenähte, indianische Mokassins aus weichem Leder.

Toppe drehte sich langsam zu Schultz um, der im Durchgang stehen geblieben war. «Wer ist der Mann?», fragte er.

«Jochen Reuter, geboren 17. 7. 1950, Musiker.»

«Wer hat ihn gefunden?»

«Seine Freundin. Die ist drüben auf der Toilette, ziemlich geschockt. Soll ich sie holen?»

«Nein, lassen Sie nur, ich sehe selbst nach.»

Die Toilette war auf der anderen Seite des Flurs. Eine schmale, ehemals weiße Holztür, die irgendwer schlampig mit lila Lack überpinselt hatte.

«Wie heißt die Frau?», flüsterte Toppe.

«Susanne Schmitz», gab Schultz ebenso leise zurück.

«Frau Schmitz?» Toppe klopfte an die Tür, aber nichts rührte sich.

«Frau Schmitz?» Vorsichtig drückte er die Klinke herunter.

Die Tür war nicht verschlossen.

Die Frau lehnte an der Wand zwischen Klo und Waschbecken, gleich unter dem Werbeplakat einer irischen Bierfirma mit dem Slogan ‹Guinness is good for you›.

Sie war grau im Gesicht und starrte ihn blicklos an.

«Frau Schmitz?»

«Ja», antwortete sie, aber er hatte nicht den Eindruck, dass sie ihn wahrnahm.

Sie war ungefähr vierzig Jahre alt, extrem dünn, hatte stoppelig kurzes, hennarotes Haar mit einer einzelnen langen Strähne im Nacken. Sie trug hautenge, schwarze Röhrenhosen, die knapp bis zur Wadenmitte reichten und ihre Knie rachitisch wirken ließen. Dazu eine kurze, schwarze Samtjacke über einem verwaschenen T-Shirt.

Toppe bekam einen Schlag in den Rücken und stolperte auf die Frau zu. Ackermann hatte die Tür aufgestoßen.

«Kann ich wat helfen?», fragte er beflissen.

«Ja», antwortete Toppe, «rufen Sie einen Krankenwagen. Die Frau hat einen Schock.»

«Klar, mach ich, klar.» Ackermann flitzte hinaus.

«Kommen Sie, Frau Schmitz.» Toppe fasste sie fest am Arm.

«Ja.» Sie bewegte sich mechanisch.

Er führte sie zum Einsatzwagen und ließ sie auf dem Beifahrersitz Platz nehmen.

«Herr Flintrop wird sich um Sie kümmern, bis der Arzt da ist.»

«Ja.»

Flintrop lehnte noch immer am Kotflügel und rauchte.

Toppe kehrte ins Haus zurück.

«Gibt’s hier ein Telefon?», fragte er Schultz.

Der zeigte auf einen Wandapparat in der Küche. Toppe nahm den Hörer vorsichtig mit seinem Taschentuch und wählte Arend Bonhoeffers Privatnummer.

«Sofia? Hier ist Helmut. Ist Arend da? Gib ihn mir mal.»

Er wartete.

«Helmut? Schön, dass du anrufst.»

«Leider nur dienstlich. Ich habe hier einen Toten in Kleve. Könntest du jetzt gleich kommen und ihn dir ansehen?»

«Du meine Güte! Jetzt soll ich kommen? Mensch, ich habe gerade eine wunderbare Flasche Burgunder getrunken.»

«Ich kann dir einen Wagen schicken.»

Bonhoeffer seufzte tief. «Ist gut. Schick einen. Bis gleich.»

«Einen Wagen?», fragte Schultz, der die ganze Zeit in der Küchentür gestanden hatte.

«Ja, einen Wagen nach Warbeyen, Dr. Bonhoeffer.»

«Okay.»

Ackermann kam zurück. «Krankenwagen ist unterwegs.»

Gleich hinter ihm tauchte mit hochrotem Gesicht Berns auf. Er würdigte Toppe keines Blickes, sondern stürmte gleich durch zum Nebenzimmer.

Toppe zündete sich eine Zigarette an.

«Haben Sie keine Augen im Kopf?» Berns war zurückgekehrt und fasste ihn an der Schulter. «Das hier ist doch wohl eindeutig was für Stachorski aus dem 2. K., Rauschisch und Sitte.»

Toppe sah ihn nur stumm an, und so schlurfte er schließlich ins Zimmer zurück und öffnete seine Tasche.

Ackermann hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schnupperte an den Weinflaschen.

Schultz kam in die Küche zurück. «Wagen ist unterwegs.»

«Gut», erwiderte Toppe und trat in den Durchgang. «Herr Berns, ich möchte hier alles supergenau haben, jedes Glas, jeden Teller, eben alles.»

Berns drehte sich nicht zu ihm um, aber man konnte sehen, wie sich seine Schultern strafften. «Na, dann sehen Sie mal zu, dass ich hier ein bisschen Hilfe kriege, Herr Toppe.»

Toppe wandte sich wieder um zu Schultz.

«Wer wohnt sonst noch im Haus?»

«Keiner. Die obere Wohnung ist leer.»

«Ist der Mann bei euch bekannt? Drogenszene vielleicht?»

«Nein, mit dem hatte ich bis jetzt noch nichts zu tun. Aber ein paar von seinen Nachbarn hier kennen wir recht gut.»


Arend Bonhoeffer kam um zwanzig nach zehn. Er mochte es gar nicht, wenn man ihn beim Weintrinken störte, und seine Laune war entsprechend gedämpft.

Toppe hatte sich inzwischen umgesehen.

Der Tote war Bassist gewesen. Es gab einen Kontrabass und einen E-Bass, beides sorgsam gepflegt und poliert, und stapelweise Noten, Programmhefte, Plakate, Zeitungsausschnitte, die bewiesen, dass er zumindest zeitweise in nicht ganz unbekannten Jazzformationen mitgespielt hatte.

Ein paar Briefe und Fotos gab es, alles wenig aufschlussreich. Die gesamte Bibliothek bestand aus zwei verschiedenen ‹Real Books› sowie Jazz-Noten, einigen sozialpädagogischen und psychologischen Fachbüchern, Patrick Süskinds ‹Parfum› und einer Anzahl amerikanischer Kriminalromane, wobei Mickey Spillane über Gebühr vertreten war.

«Viel kann ich dir noch nicht sagen, Helmut.» Bonhoeffer streifte die Latexhandschuhe ab. «Die ungefähre Todeszeit dürfte zwischen 15 und 20 Uhr liegen.»

«Und die Todesursache?», fragte Toppe.

«Da möchte ich mich noch nicht festlegen.»

«Keine Überdosis?»

«Ich bin nicht sicher. Da passt so einiges nicht zusammen. Ich möchte eigentlich am liebsten sofort eine Obduktion machen. Könnte sein, dass es eilt. Kannst du den Staatsanwalt anrufen und zusehen, dass das klargeht?»

«Ja, okay, mach ich. Du meldest dich?»

«Ich melde mich, sobald ich was habe.»

«Danke», antwortete Toppe müde und griff noch einmal zum Telefon, um Dr. Stein anzurufen.


Auf dem Parkplatz am Präsidium kamen Toppe Dieter Seghers und die anderen Leute aus dem Krankenhaus entgegen.

Breitenegger war also wohl erst gerade mit den Vernehmungen fertig geworden.

Auch Heinrichs und van Appeldorn waren inzwischen aus Emmerich zurück.

Toppe schlurfte ins Büro und ließ sich schlaff auf seinen Stuhl fallen.

«Na, was ist?», fragte van Appeldorn. «Doch wohl nicht schon wieder ein neuer Fall?»

Toppe rieb sich die Augen.

«Ein Toter in seinem Bett in seiner Wohnung mit einer Spritze im Arm.»

«Überdosis», sagte van Appeldorn.

«Möglich», murmelte Toppe. «Und was ist bei euch gelaufen?»

Grenzgaenger
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