[zur Inhaltsübersicht]

Neun

Heinrichs, der morgens vor dem Dienst immer noch zwei seiner Kinder in den Kindergarten bringen musste, kam wie immer auf die letzte Minute. Als er und Toppe endlich im Büro eintrafen, waren alle anderen schon da, nur Berns fehlte.

«Nun lass den Knaller schon los», forderte Heinrichs Toppe auf, noch bevor er ‹guten Morgen› gesagt hatte. Er hatte sich bereits im Auto alles erzählen lassen.

«Ja, gleich», antwortete Toppe und hängte erst einmal seine Jacke an den Garderobenständer. «Wo ist Berns?»

Breitenegger nahm seine Pfeife aus dem Mund und lächelte verschmitzt. «Herr Berns hat sich krankgemeldet. Er hat, wie er sagt, so Last mit dem Magen.»

Toppe kniff die Lippen zusammen und setzte sich. Ruhig berichtete er dann, was Bonhoeffer herausgefunden hatte. Heinrichs war der Einzige, den die Geschichte faszinierte, bei allen anderen war die Stimmung ausgesprochen gedämpft.

«Wir werden wohl in zwei Gruppen arbeiten müssen», überlegte van Appeldorn.

Van Gemmern räusperte sich. «Ich habe ein paar wichtige Details beizutragen.» Er machte eine kleine Pause und rieb sich die Augen hinter der Brille. «Zunächst zu dem Fall Bruikelaer: Ich habe in der Wohnheimküche alles auf mögliche Fingerabdrücke untersucht. Das war ein bisschen zeitaufwendig, aber es hat sich gelohnt. Auf dem Pulverkaffeeglas war ein deutlicher Abdruck, der sich mit den Abdrücken auf dem Stuhl deckt. Dann habe ich den Siphon aufgeschraubt, das Restwasser mitgenommen und überprüft, und ich habe Spuren von Atropin gefunden.»

Toppe nickte zufrieden. «Dann hat er wohl wirklich die Tasse dort abgespült.»

«Sieht ganz so aus», bestätigte van Gemmern. «Zum zweiten Fall, dem Toten aus der Schwanenstraße: Auf der Spritze gibt es einen sehr schönen, klaren Fingerabdruck, und dieser deckt sich mit den Fingerabdrücken auf dem Kaffeeglas und auf dem Stuhl im Fall Bruikelaer.»

Heinrichs schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte: «Donnerwetter!»

«Wie sind Sie nur darauf gekommen, die Fingerabdrücke zu vergleichen?», fragte Toppe.

«Zufallstreffer», antwortete van Gemmern. «Gestern Abend bin ich von Emmerich aus in die Schwanenstraße gefahren. Als wir dort fürs Erste fertig waren, wollte ich im Labor eigentlich nur noch die Proben aus Emmerich auswerten. Aber dann war ich noch so fit, dass ich mit der zweiten Geschichte wenigstens noch anfangen wollte. Wir hatten siebzehn Gläser sichergestellt, und in fünf davon waren noch Weinreste. Es war einfach Glück. Gleich bei der ersten Probe stieß ich auf Atropin und Scopolamin, und zwar in erheblicher Menge. Auf dem dazugehörigen Glas befanden sich die Fingerabdrücke des Toten.»

«Mensch, und da hast du nicht gleich angerufen?», rief Astrid entrüstet.

«Es war drei Uhr morgens. Was sollte das bringen? Ich bin dann nach Hause gefahren, aber es ließ mir keine Ruhe. Ich wollte Gewissheit haben. Deshalb bin ich schließlich wieder ins Labor und habe mir die Spritze näher angesehen.»

«Haben Sie die Sachen zum LKA geschickt?», fragte Breitenegger.

«Selbstverständlich. So gegen Mittag dürften die Ergebnisse vorliegen.»

Toppe zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass van Gemmern mit seinen Ergebnissen richtiglag.

Eigentlich musste der ED sich gar nicht um die Auswertung kümmern. Das war Sache des LKA-Labors in Düsseldorf. Aber die Tatsache, dass van Gemmern so arbeitete, verschaffte ihnen immer wieder einen Zeitvorteil. Man musste nicht erst viele Stunden abwarten, bis man den nächsten Schritt tun konnte. Und der Zeitfaktor war oft von großer Wichtigkeit. Van Gemmern war nicht nur zuverlässig und gründlich bei seiner Arbeit am Tatort und im Labor, er verfügte auch über Kombinationsgabe und Phantasie und über eine Qualität, die Toppe für unschätzbar hielt: Intuition. Das allerdings behielt er lieber für sich. Aber er freute sich und war zufrieden, und er sagte es auch.

«Danke», nickte van Gemmern nur, aber er lächelte dabei.

Damit brachte er Toppe für einen Augenblick aus dem Konzept, er konnte sich nicht erinnern, van Gemmern schon einmal so offen lächeln gesehen zu haben.

«Der Typ muss ja ganz schön bescheuert sein?», murmelte Heinrichs aus seinen Gedanken heraus.

«Welcher Typ?», fragte Toppe irritiert.

«Na, der Täter. Dass er überall seine Fingerabdrücke hinterlässt.»

Toppe stand auf, ging zur Fensterbank, lehnte sich dagegen und wühlte in seinem Bart. «Vielleicht ist es ihm einfach egal.»

«Wie hieß der Tote noch mal?», fragte Astrid plötzlich und kramte in ihrer Handtasche.

«Jochen Reuter», antwortete Toppe.

«Echt? Wahnsinn! Hier!» Sie kam aufgeregt zu Toppe herüber und hielt ihm einen Zettel hin. «Das sind die Leute, die in der Bigband sind, in der auch José Bruikelaer gespielt hat. Hier», sie tippte mit dem Finger auf den Zettel.

«Jochen Reuter, Schwanenstraße 27, Bass.» Toppe las es laut.

Van Appeldorn, der die ganze Zeit fast teilnahmslos dagesessen hatte, stand auf und warf einen Blick auf die Liste.

«Mann, das ist doch was», sagte er. «Geht ja schneller, als ich erwartet hatte. Da haben wir ja schon mal ein Bindeglied.»

Toppe kehrte wieder an seinen Schreibtisch zurück und überlegte.

«Also gut», meinte er schließlich, «bilden wir zwei Gruppen. Das scheint vorerst das Beste zu sein. Die eine Gruppe macht bei José Bruikelaer weiter. Gestern haben wir noch nicht besonders viel erfahren. Da müssen wohl noch Gespräche geführt werden mit den Eltern und mit diesem Henk, und ihr wart ja auch noch nicht mit allen Leuten im Krankenhaus durch. Die Befragung der Mitglieder dieser Bigband betrifft beide Fälle. Vielleicht könntest du das übernehmen, Günther. Tja, und im Fall Jochen Reuter muss das Übliche anlaufen: die Freundin, Bekannte, Familie, Nachbarn.» Er rieb sich die Nase. «Wir werden mindestens noch einen weiteren Mann brauchen», sagte er und warf van Appeldorn einen vorsichtigen Blick zu.

Der riss die Augen auf. «Oh, nein, Helmut, bitte nicht!»

«Doch», antwortete Toppe, «ich denke, wir sollten sehen, dass wir Ackermann bekommen. Er hat schon zweimal mit uns gearbeitet und wenigstens ein bisschen Durchblick.»

Van Appeldorn stöhnte gequält, aber Toppe beschwichtigte ihn schnell.

«Ich schlage vor, du und Walter macht weiter im Fall Bruikelaer. Und um den zweiten Fall könnte ich mich zusammen mit Ackermann und Astrid kümmern.»

Im Gegensatz zu van Appeldorn hatte Toppe keine Probleme mit Josef Ackermann. Gut, Ackermann war eine Nervensäge, laut und immer zu gut gelaunt. Er kam aus Kranenburg, war klein und ein bisschen ungepflegt, verheiratet mit einer imposanten Holländerin, mit der er drei Töchter hatte. Er hüpfte, wenn er aufgeregt war, sprach, wenn irgend möglich, Platt, hatte ständig einen schlüpfrigen Witz auf den Lippen und die peinliche Eigenschaft, sämtliche Details aus seinem Privatleben jedem auf die Nase zu binden. Toppe allerdings wusste auch um Ackermanns Qualitäten: Er konnte unermüdlich und gewissenhaft arbeiten, wenn er detaillierte Anweisungen hatte, und er beklagte sich nie.

«Also gut», lenkte van Appeldorn ein. «Versuchen wir’s.»

Breitenegger würde es übernehmen, die Presse zu informieren, den Chef und den Staatsanwalt unterrichten und für Ackermanns Überstellung sorgen.

Van Appeldorn und Heinrichs wollten zunächst mit José Bruikelaers Eltern sprechen, und Toppe machte sich mit Astrid auf den Weg zum Krankenhaus zu Reuters Freundin. Sie verließen zusammen mit van Gemmern, der in sein Labor zurückkehrte, das Büro.

«Bis heut’ Abend», rief Astrid ihm nach.

Er drehte sich noch einmal um. «Ja, hoffentlich», antwortete er, und Toppe kam sich auf einmal ziemlich alt vor.

Grenzgaenger
titlepage.xhtml
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_000.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_001.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_002.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_003.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_004.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_005.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_006.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_007.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_008.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_009.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_010.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_011.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_012.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_013.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_014.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_015.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_016.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_017.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_018.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_019.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_020.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_021.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_022.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_023.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_024.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_025.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_026.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_027.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_028.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_029.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_030.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_031.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_032.html