[zur Inhaltsübersicht]

Zweiundzwanzig

Im Büro war alles dunkel. Toppe wusste selbst nicht, warum er sich noch hierher hatte fahren lassen.

Auf seinem Schreibtisch fand er einen Zettel von Breitenegger:

‹Zwei Anrufe für dich: a) deine Frau, b) ein Herr Neumann aus Büderich – privat. Bin zu Hause zu erreichen, morgen um acht hier. Günther.›

Er ertappte sich dabei, dass er einfach dasaß und einzelne Barthaare ausrupfte. Er hatte an gar nichts gedacht. Müde rappelte er sich hoch und bestellte ein Taxi.

Gabi saß im Wohnzimmer und sah fern. Durch das offene Fenster konnte er hören, wie sie das Gerät abschaltete, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Sie kam ihm entgegen und küsste ihn leicht.

«Na, was macht der Fuß?»

«Nicht gut.»

Er humpelte ins Wohnzimmer, ließ sich aufs Sofa fallen und streckte sich lang aus. Mit geschlossenen Augen lag er still.

Sie ließ ihn, bewegte sich leise im Zimmer, trug Sachen hinaus, schüttelte Kissen auf.

«Willst du ein Bier?»

Er öffnete die Augen. «Lieber ’n Schnaps.»

Sie nickte und verschwand in der Küche.

Er setzte sich langsam auf und rieb sich den Nacken.

«Morgen ist die Vernissage», sagte sie leichthin, als sie mit zwei gut gefüllten Cognac-Gläsern zurückkam.

«Morgen schon?»

«Ja, und wir werden hingehen. Du hast’s versprochen.» Ihre Stimme war nur ein klein wenig höher als sonst, aber er bemerkte es doch.

«Ach komm, du weißt doch, dass es nicht geht.»

«Warum nicht?»

«Das kann ich einfach nicht machen. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt.»

Sie behielt ihre Fassung, obwohl er deutlich spürte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Vermutlich hatte sie sich ihre Sätze vorher überlegt.

«Warum nicht?», fragte sie wieder. «Gibt es irgendwas von höchster Dringlichkeit, das ausgerechnet du morgen früh zwischen zehn und halb eins erledigen musst?»

«Nein, aber ich kann trotzdem nicht einfach meinem Vergnügen nachgehen.»

Jetzt blitzte es in ihren Augen, die Tränen waren aus ihrer Stimme verschwunden.

«Fängst du jetzt auch schon an, dich für unentbehrlich zu halten! Meinst du, die anderen kämen nicht auch mal zweieinhalb Stunden ohne dich klar? Dass du mit deinem Fuß überhaupt arbeitest! Vergnügen! Wenn’s nur das wäre!»

Sie hat recht, dachte er traurig.

«Ach komm», sagte er unbeholfen, «du weißt doch.»

«O ja, sicher weiß ich. Weiß ich schon lange und mach ich ja auch immer mit. Aber irgendwann reicht’s einfach. Und jetzt reicht’s. Du kriegst ja gar nichts mehr mit.» Sie stellte mit einem Knall das Glas auf den Tisch.

Er stützte den Kopf in die Hände. Stimmt, dachte er, ich kriege nichts mehr mit. Ich weiß nichts. Ich kümmere mich um nichts, nicht mal um das, was unmittelbar um mich herum vorgeht. Dabei ist das hier doch mein Leben, oder? Ich bin doch ein Teil davon. Aber eigentlich könnte ich genauso gut einfach nicht da sein, es fiele kaum auf.

«Zuschauer», murmelte er bitter.

«Was?»

«Zuschauer meines eigenen Lebens.» Er holte tief Luft – ein bisschen viel Pathos und der falsche Moment für Selbstmitleid sowieso. «Na gut, ich gehe mit.»

«Ach, Scheiße», sagte sie und kam um den Tisch herum. Sie legte beide Arme um seinen Hals und lehnte ihre Stirn gegen seine Wange. «Ist schon gut, ich geh allein. Tut mir leid, das hier.»

«Quatsch. Ich meine es ernst, ich komme mit.»

«Nein, das will ich nicht. Du musst es nicht wegen mir.»

«Sollen wir uns jetzt darüber streiten?», lächelte er.

«Nein, ich will mich überhaupt nicht mit dir streiten.» Sie hatte eine Kleinmädchenstimme.

«Wollen wir uns ein bisschen wärmen?», fragte er leise.


Gabi hatte sich schöngemacht. Sie trug irgendetwas Gemustertes, Weites, Dünnes, das er noch nie an ihr gesehen hatte, was ihm aber gefiel, und er kam sich neben ihr in seiner hellen Hose und dem einen seiner beiden Jacketts ziemlich langweilig vor.

Er zündete eine Zigarette an, kaum dass er im Auto saß, es war sicher schon die fünfte heute Morgen.

«Ich muss mich irgendwie wachhalten», entschuldigte er sich, obwohl sie ihm keinen Vorwurf gemacht hatte. «Ich hab nicht viel geschlafen letzte Nacht.»

«Der Fuß?»

«Der auch.»

Sie parkte den Wagen im Parkverbot, halb auf dem Bürgersteig gleich vor dem Eingang zur Galerie, und schenkte ihm einen trotzigen Blick, aber ihm war’s nur recht. Er hatte keine Lust, mit seinen Krücken durch die halbe Stadt zu hinken.

Schöning-Dudel, der Galerist, stand gleich an der Tür und begrüßte jeden Gast persönlich. Er war groß und breit, hatte langes, graues Haar und einen ebenso grauen gestutzten Vollbart. Sein Gesicht war dunkel und von zahllosen Falten durchzogen. Seine Augen, von einem sehr hellen Blau, blickten immer ein wenig fragend. Toppe hatte ihn ein-, zweimal vorher getroffen, und als er ihn jetzt begrüßte, fiel ihm wieder die hohe, kippelige Stimme auf, die so gar nicht zum Äußeren des Mannes passte. Schöning-Dudel war schwul, jeder in dieser Stadt wusste es, und Toppe hatte sich oft über die Art und Weise, in der man nicht darüber sprach, aufgeregt.

Sofia stand weit hinten in dem quadratischen Raum und redete mit ein paar Leuten. Als sie Gabi und Toppe entdeckte, kam sie schnell herüber.

«Schön, dass ihr’s geschafft habt. Kommt mit nach hinten, es geht gleich los.»

Rechts vom Eingang sah Toppe Botho van Beveren, den Leiter des örtlichen Museums, neben dem stellvertretenden Bürgermeister. Beide hielten Zettel in den Händen.

«Reden die alle beide?», flüsterte er Sofia zu.

«Ich fürchte, ja», kicherte sie.

Eine große Hand legte sich auf Toppes Schulter. «Also, ich habe ja mit vielem gerechnet», lachte Bonhoeffer, «aber dass du dich von deinen Mördern losreißt!»

Toppe murmelte irgendetwas, und Gabi nahm seinen Arm.

«Jetzt ärgere ihn doch nicht auch noch.»

Van Beverens Rede war lang. Er beschrieb ausführlich Sofias Werdegang und ging auf ihre künstlerische Entwicklung und detailliert auf einzelne Werke ein.

Eigentlich war es interessant, aber schon nach ein paar Minuten konnte Toppe nicht länger zuhören. Er wusste kaum, wie er stehen sollte, außerdem hatte das Interesse der anwesenden Lokalreporter, seit er eingetroffen war, mehr ihm gegolten, als Sofias Ausstellung. Sie standen ihm schräg gegenüber und machten sich Notizen. Auch Karin Hetzel war wieder unter ihnen. Sie sah ihn ernst an, und er ließ schnell seinen Blick weiterwandern.

Alles, was in dieser Stadt Rang und Namen hatte, war vertreten: Stadtdirektor und Beigeordneter samt Anhang, die ortsüblichen Sponsoren: Firmenchefs und Bankdirektoren. Mitten unter ihnen auch sein Chef. Ein paar Künstler waren auch da. Am augenfälligsten ein Paar, das so kontrastreich war, dass es selbst wie ein Kunstobjekt wirkte: Die Frau war lang und spindeldürr. Die Haare hingen ihr traurig bis auf die Schultern, ihre Augen blickten trübe. Sie sah aus, als schliefe sie im Stehen. Der Mann neben ihr war klein und fett. Wenn er den Kopf drehte, was er oft tat, geriet sein schwabbeliger Körper ungewollt in Bewegung.

Van Beveren musste seine Rede mit einem Witz beendet haben, denn plötzlich lächelten alle, einige hüstelten, und jemand lachte grunzend.

Der stellvertretende Bürgermeister sprach über Sofias Verdienste um diese Stadt, was keiner verstand, aber er machte es kurz, wofür alle dankbar waren, denn sein starker Sprachfehler machte es unmöglich, irgendetwas von dem, was er sagte, ernst zu nehmen.

Dann kam das Übliche: Kir und Orangensaft mit Sekt, ein paar Ecken Toast mit Pastete und Schwarzbrot mit Schmalz. Man bewegte sich träge im Raum, jeder sprach mit jedem, einige sogar über die ausgestellten Bilder.

Sein Chef kam locker herübergeschlendert.

«Na, Herr Toppe, suchen Sie unseren Täter jetzt in Künstlerkreisen?» Dabei zeigte er sein makelloses Gebiss in voller Breite und wieherte dezent, damit keinem entging, dass es sich um einen Scherz handelte, aber Toppe spürte den Vorwurf.

Er schwieg unhöflich, aber Gabi, die an seiner Seite geblieben war, sprang in die Bresche und sagte irgendwas.

Sofia zog ihn zur Seite. Sie lächelte mitleidig.

«Dir geht’s ziemlich mies, was?»

Er zuckte nur mit den Schultern.

«Weißt du was, wenn du den ganzen Mist hinter dir hast, dann machen wir alle zusammen mal wieder was Schönes, ja?»

«Ja.»

«Meinst du wirklich, das mit dem Fuß kommt ohne Arzt wieder in Ordnung? Gabi sagt, es würde überhaupt nicht besser.»

«Muss wohl. Tag, Frau Hetzel.»

Karin Hetzel war unsicher näher getreten. Sie hatte ihre Fotos gemacht und wollte eigentlich gehen.

«Wie geht es Ihnen?», fragte Toppe.

«Na ja, einigermaßen.» Sie stellte ihre schwere Fototasche auf den Boden.

«Kennt ihr euch?», wandte sich Toppe an Sofia.

«Ja, wir haben uns einige Male bei solchen Anlässen getroffen.»

Die Frauen vertieften sich in ein Gespräch über ein Bild, das Karin Hetzel besonders gefiel, und Toppe humpelte zu Arend Bonhoeffer hinüber, der mit ausdruckslosem Gesicht an der Wand lehnte. Die Reporter verfolgten Toppe mit ihren Blicken quer durch den Raum.

«Du solltest mit deinem Fuß wirklich zum Arzt gehen.»

«Ja, mal sehen, am Dienstag, wenn’s bis dahin nicht weg ist.»

«Bist du weitergekommen mit deinem Mörder?»

«Ich weiß nicht», antwortete Toppe unbehaglich.

«Komm, wir trinken noch was.» Arend ging, um ihnen noch zwei Gläser Kir zu holen, wurde aber von Schöning-Dudel aufgehalten.

So machte sich Toppe wieder auf den Weg zu Sofia und Karin Hetzel. Gabi hatte sich zu ihnen gesellt, und ihr angeregtes Gespräch drehte sich offensichtlich nicht mehr um Kunst.

«Sagen Sie mal, wieso zeigen Sie eigentlich überall in meiner Nachbarschaft ein Foto von Carl Küsters herum? Suchen Sie den?», fragte Karin Hetzel.

Toppe nickte vage.

«Carl Küsters?», fragte Sofia erstaunt. «Den kenn ich.»

Toppe lachte trocken auf. «Du auch? Sag bloß, du kriegst noch Geld von ihm. Oder hat der etwa mal bei dir gewohnt?»

Karin Hetzel lachte.

«Nein, wieso?», fragte Sofia verständnislos. «Den hab ich früher mal gekannt. Ist sicher schon fünfzehn Jahre her. Das war damals so ein Knäblein, wollte in der Szene Fuß fassen, schrecklich grün noch. Wo man hinging, traf man den. Besonders in TAN-Kreisen.»

«TAN?», fragte Toppe.

«Theater am Niederrhein. Wir hatten doch mal ein eigenes Theater hier. Weißt du das nicht? Kleve – das Kulturzentrum am unteren Niederrhein!»

«Nöö», erwiderte Toppe dümmlich.

«Na, jedenfalls krebste der in der Szene so am Rande rum, in der Theaterkneipe und so. Und ich glaube, der hat auch ein paarmal dem Hugo Modell gestanden.» Sie zeigte mit dem Kinn in Schöning-Dudels Richtung.

«War da was zwischen denen?», fragte Toppe.

«Kann schon sein.» Sofia warf mit einer Kopfbewegung ihre Zöpfe nach hinten. «Obwohl dieser Küsters damals höchstens fünfzehn war. Aber frag den Hugo doch selbst.»

«Vielleicht.» Toppes Gedankenkarussell hatte sich wieder in Gang gesetzt. Er stierte auf den Fußboden.

«Es war wohl eine Schnapsidee, dich hierherzubringen», sagte Gabi leise.

«Ach was, ist doch schön.»

Am Eingang wurde es unruhig, und Toppe schaute auf. Halb in der Tür stand Ackermann und bemühte sich, möglichst unauffällig Toppes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er musste furchtbar aufgeregt sein, denn er wippte auf und ab, und seine Augen hinter den dicken Brillengläsern funkelten.

Toppe verkniff sich ein Stöhnen und humpelte zur Tür.

Es war völlig still geworden, und alle starrten ihn an.

«Was gibt’s denn?»

«Mensch, Chef, ob Se’ et glauben oder nich’», flüsterte Ackermann mit lautem Zischen, und Toppe zog ihn rasch mit sich hinaus bis auf den Bürgersteig.

«Ich hab Hetzels Nachbarin endlich erwischt. Wissen Se, die mit der Schwester in Wachtendonk. Und die sagt, die hat einen gesehen, der an dem Morgen aus Hetzels Haus gekommen is’. Um kurz nach elf, sagt se. Und dann hat se mir den beschrieben, und da wurd ich aber hellhörig, kann ich Ihnen sagen. Und da hab ich ihr dat England-Foto gezeigt, und da sagt die doch: ‹Der hier war’s – den hab ich schon öfters hier gesehen›, sagt die. Küsters, Chef, Küsters war dat, der da aus’m Haus von Hetzel gekommen is’.»

«Gute Arbeit», lobte Toppe. «Nehmen Sie mich mit?»

«Wohin, Chef?»

«Ins Präsidium. Wir wollen die Fahndung rausgeben.»

Grenzgaenger
titlepage.xhtml
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_000.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_001.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_002.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_003.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_004.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_005.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_006.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_007.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_008.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_009.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_010.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_011.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_012.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_013.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_014.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_015.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_016.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_017.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_018.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_019.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_020.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_021.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_022.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_023.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_024.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_025.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_026.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_027.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_028.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_029.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_030.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_031.html
CR!GS165JF1MX68QCN58SBC1PH818PK_split_032.html