Zwei
«Na, wieder einigermaßen erholt vom Exzess am Samstag?», fragte van Appeldorn.
«Mittlerweile schon.» Toppe schaute zerknirscht. «Ich hatte wirklich ganz schön einen im Kahn.»
«Na, Sie hätten mich mal am Sonntagmorgen sehen sollen!» Astrid lachte. «Und ich musste dann auch noch so ein blödes Tennisturnier spielen. Ich kann Ihnen sagen … Aber gucken Sie mal, Herr Toppe, ich hab Ihnen was mitgebracht, als Einstandsgeschenk gewissermaßen.»
Es war Montagmorgen und Astrids erster Arbeitstag in Toppes Abteilung. Sie wickelte einen kleinen Blumentopf aus.
«Hübsch», sagte Toppe ein wenig verlegen. «Was ist das denn?»
«Na, riechen Sie doch mal.»
Toppe schnupperte und zuckte hilflos die Achseln. «Keine Ahnung.»
«Lavendel», erklärte Astrid, und Toppe und van Appeldorn mussten beide lachen.
«Ja, war Ihr erster Fall damals bei uns, nicht wahr?»
«Genau», sie nickte, «werd ich wohl nie vergessen: Lavendel gegen Ameisen.»
Sie stand ein wenig unschlüssig im Zimmer.
«Und was liegt heute an?»
Toppe und van Appeldorn saßen bequem an ihren Schreibtischen. Das Büro war klein, aber man hatte es irgendwie geschafft, vier Schreibtische hineinzuzwängen, dazu ein paar Stühle, einen Aktenschrank und einen Garderobenständer zweifelhafter Herkunft. Man konnte sich kaum rühren, geschweige denn aus dem Weg gehen.
«Nehmen Sie erst mal einen Stuhl und rücken Sie den hier auf die andere Seite von meinem Tisch», schlug Toppe vor.
«Gut. Was liegt denn nun an?»
Toppe kratzte sich den Bart.
Oben im Labor über dem Büro gab es ein lautes Gepolter, dann war es wieder still.
«Wir haben am Donnerstag einen Fall abgeschlossen», antwortete Toppe. «Und jetzt ist da die Sache, die Norbert am Wochenende in Atem gehalten hat.»
«Was war denn der letzte Fall?», wollte Astrid wissen.
«Eine üble Geschichte, liegt mir immer noch im Magen: Kindesmisshandlung mit Todesfolge.»
In diesem Augenblick ertönte von oben wieder ein lautes Poltern, gleichzeitig wurde die Tür geöffnet, und Heinrichs und Breitenegger betraten das Büro.
«Tach», ächzte Heinrichs. «Mann, die könnten endlich mal einen Lift einbauen in diesem Laden.»
«Wie wär’s stattdessen mit Abnehmen?», schlug van Appeldorn freundlich vor.
Heinrichs warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
«Seid ihr schon bei der Arbeit?»
Breitenegger zwängte sich mit einem Aktenstapel unter dem Arm an ihm vorbei zu seinem Schreibtisch. Dabei entdeckte er Astrid. «Ach, Frau Steendijk, sind Sie jetzt wieder bei uns? Gut, gut.» Er setzte sich und holte Pfeife und Tabak aus der Jackentasche. «Dann wollen wir mal die Ermittlungsakten für die Staatsanwaltschaft abschließen.»
«Die Kindesmisshandlung?» Astrid klang bedrückt. «Habt ihr öfter mit so etwas zu tun?»
«Nein», antwortete Toppe, «aber das will nichts heißen. Bei uns landen ja auch nur die allerschlimmsten Fälle, die mit schwerer Körperverletzung oder eben Todesfolge, wie in diesem Fall. Ein knapp zweijähriges Mädchen, das von dem Freund der Mutter dermaßen geschlagen wurde, dass es schließlich einen Milzriss hatte und daran starb.»
«Mein Gott, wie furchtbar», sagte Astrid leise. «Und wenn man bedenkt, dass immer nur die Sachen bekannt werden, die jemand anzeigt …»
«Ja», bestätigte Toppe, «die Dunkelziffer ist wahnsinnig hoch.»
«Ich kann so etwas nicht verstehen.» Astrids Stimme wurde lauter. «Wenn ich mitkriegen würde, dass jemand sein Kind misshandelt, würde ich das doch sofort anzeigen. Da würde ich keinen Augenblick zögern.»
Im Labor oben entlud sich ein weiteres Gewitter.
«Das sagt sich so leicht», mischte sich van Appeldorn ein. «Wie will man denn herausfinden oder gar beweisen, dass ein Kind tatsächlich misshandelt wird? Wenn’s jeden Abend schreit? Gut, dann kann ich vielleicht hingehen und die Eltern fragen, was los ist. Und die erzählen mir dann, das Kind hätte Blähungen oder so was. Wie will ich das denn überprüfen? Die lassen mich doch wohl kaum in die Wohnung und nachgucken.»
«Aber wenn das Kind Verletzungen hat, dann sieht man das doch.»
«Und? Dann ist es eben die Treppe runtergefallen.»
«Ja, aber man kann das Kind doch fragen», beharrte sie.
«Und Sie glauben, da käme was bei raus?», mischte sich jetzt auch Heinrichs ein. «Meistens sind die doch noch so klein, dass sie gar nicht sprechen können. Und die Älteren sind schon so kaputt, dass sie gar nichts mehr sagen.»
Oben zog eine Elefantenherde durchs Labor.
«Aber es muss doch Möglichkeiten geben …»
«Eigentlich nur, wenn jemand direkter Zeuge einer Misshandlung wird oder wenn jemand aus der Familie nicht mehr mitspielt. So wie in diesem Fall hier, wo die Mutter dann doch schließlich Anzeige gegen ihren Freund erstattet hat. Aber von außen, als Nachbar oder Lehrer oder was weiß ich, da hat man so gut wie gar keine Chance», sagte Toppe.
«Wie grausam.»
«Ja, verdammt grausam. Und es ist ja auch noch die Frage: Wo fängt Kindesmisshandlung überhaupt an? Bei Schlägen? Ich glaube, es gibt da sehr viel subtilere und genauso grausame Möglichkeiten», fuhr Toppe fort.
Aus dem Labor hörte man einen kurzen, trockenen Knall.
«Das kann man wohl sagen», ergriff Heinrichs das Wort. «Die Freundin meiner Frau ist Erzieherin in einem Kindergarten in Goch, und die hat eine Geschichte erzählt, bei der einem die Haare zu Berge stehen. Sie haben da im Kindergarten einen vierjährigen Jungen, der wohl schon immer durch sein merkwürdiges Verhalten aufgefallen ist. Immer, wenn der in Streitigkeiten oder Rangeleien verwickelt wurde, war er plötzlich ganz steif und fing dann an zu zittern. Aber er hat sich nie gewehrt, auch nicht, wenn die anderen ihm eins auf die Nase gegeben haben. Und wenn er sich weh tat, dann hat er nie geweint oder geschrien. Und dann stellt sich nach langen Gesprächen mit der Mutter raus, wie dieses Kind so lebt. Die Eltern – beide Pädagogen, wohlgemerkt – haben eine ganz genaue Vorstellung davon, was aus ihren Kindern einmal werden soll und wie man das erreicht. Der Junge wird jeden Morgen fünf Minuten lang eiskalt geduscht, damit er richtig abgehärtet wird. Die Eltern haben ihm versprochen, wenn er das dreihundertmal – man stelle sich das mal vor: dreihundertmal, ein vierjähriges Kind –, wenn er das durchhält, dann kriegt er ein richtiges Indianerzelt. Für 29,90 bei Woolworth. Indianer sind sein großes Vorbild, klar, genau wie bei uns damals. Die weinen nämlich nie, auch nicht, wenn sie sich weh tun. Der ältere Bruder ist im dritten Schuljahr und muss jeden Tag, nach seinen Hausaufgaben, einen Aufsatz schreiben, den die Eltern korrigieren und benoten. Und zwar wirklich jeden Tag, auch in den Ferien.»
«So was gibt’s doch gar nicht!»
«Doch, so was gibt’s sicher öfter», fuhr Heinrichs fort. «Die Erzieherin ist davon überzeugt, dass der Vater die Familie schlägt. Sie untersucht den Jungen immer wieder auf Verletzungen, aber bis auf ein paar blaue Flecken, zu denen der Junge nichts sagt – klar, ein Indianer kennt keinen Schmerz –, findet sie nichts. Und die Mutter hält den Mund.»
«Aber wie hat sie das mit der kalten Dusche denn rechtfertigen können?»
Im Labor krachte es laut.
«Ganz logisch. Das Kind sei so anfällig für Erkältungen und müsse abgehärtet werden.»
«Mein Gott, da muss man doch was machen können.»
«Was denn? Natürlich ist das Kindesmisshandlung. Aber es gibt keine rechtliche Handhabe. Schließlich liegt es im Ermessen der Eltern, wie sie ihre Kinder erziehen. Es heißt ja sogar ‹Erziehungsgewalt›, nicht wahr? Solange kein körperlicher Schaden vorliegt – wer redet schon vom seelischen! Solche Sachen sind bestimmt nicht selten.»
«Wahrhaftig nicht!» Toppe hatte schon die ganze Zeit etwas sagen wollen. «Und das erlebst du ja nicht nur in der Familie. Es geht um die Einstellung, die man überhaupt so zu Kindern hat. Wenn ich überlege, was ich voriges Wochenende bei einem Kinder-Fußballturnier erlebt habe.»
Und wieder polterte es oben.
«Mein Sohn spielt doch seit ein paar Monaten Fußball in der F-Jugend von Siegfried Materborn, und wir waren jetzt zu einem Turnier eingeladen bei diesem Klever Renommierclub. Uns ist schon immer aufgefallen, wie gedrillt die Kinder von dem Verein sind – und man muss bedenken, das sind Kinder zwischen fünf und acht. Und wie scharf die immer aufs Gewinnen waren! Jetzt weiß ich auch, warum.
Die Kleinen von dem Club hatten ihr erstes Turnierspiel 0:1 verloren und waren ganz schön niedergeschlagen, sowieso schon. Und da geht doch dieser Trainer hin, selbst höchstens neunzehn, holt die ganze Mannschaft zusammen und verschwindet mit denen im Gebüsch. Und dann höre ich auf einmal eine wahnsinnige Brüllerei und bin hin. Da saßen die Kinder auf dem Boden, und dieser Trainer hatte sich vor ihnen aufgebaut und brüllte die zusammen, aber wie! ‹Du dumme Sau! Du bist schuld, dass wir verloren haben. Du allein. Das ist doch wieder typisch für dich. Du denkst doch keine Sekunde an deine Kameraden.› Und einer von den Kleinen fing ganz zaghaft mit ‹aber› an. Da ging’s erst recht los: ‹Schnauze! Ich will keinen Ton mehr von euch hören. Schande bringt ihr über den ganzen Verein. Und keiner schämt sich dafür? Da wird mir ja ganz schlecht. Hier bleibt ihr jetzt sitzen und denkt nach, was ihr getan habt. Und wenn sich auch nur einer rührt, dann ist aber was los!›»
Astrid blieb der Mund offen stehen. «Das kann doch nicht wahr sein! Und dann?»
Von oben hörte man wieder ein lautes Donnern. Alle schauten irritiert zur Decke.
«Die Kinder saßen da und starrten auf den Boden, und keiner rührte sich mehr.»
«Und du hast nichts unternommen?», fragte van Appeldorn wütend.
«Doch, natürlich. Ich habe dem Typen mit einer Anzeige beim Fußballverband gedroht.»
«Und?»
«Das hat den nicht sonderlich gekratzt. Aber er ging dann weg. Und nach zehn Minuten kam er mit einem Karton Eis zurück. Meinte, jetzt hätten sie wohl eingesehen, was für einen Mist sie gebaut hätten, besonders der, den er ‹Daniel, du Flasche› nannte, aber das würden sie ja wohl nie wieder tun, und jetzt kriegten sie erst mal ein Eis. Und das nächste Spiel sei in zehn Minuten gegen Materborn, und das seien sowieso Pfeifen. Und dann hat er sie systematisch heißgemacht.»
«Gehirnwäsche», murmelte van Appeldorn, «auch nicht anders als bei der Mun-Sekte. Nein, aber ernsthaft, da muss man doch was unternehmen, Helmut.»
«Ja, muss man wohl.» Breitenegger nahm seine Pfeife aus dem Mund. «Aber wir sollten uns jetzt endlich an die Akten machen. Schließlich ist da ja auch noch diese Selbstmordgeschichte von Samstag.»
Heinrichs schüttelte unwillig den Kopf. «Du engagierst dich wohl mehr für den Tierschutz, was?»
Breitenegger kniff die Lippen zusammen. «Ich will dir mal was sagen, Walter, meine Frau ist Geschäftsführerin beim Kinderschutzbund in Kevelaer. Was meinst du, was ich dir alles zum Thema Kindesmisshandlung erzählen könnte.»
Oben im Labor polterte es kurz, dann war es wieder still.
«Nur», fuhr Breitenegger fort, «nur, wenn wir uns hier darüber aufregen, dann nutzt das keinem was. Das sollte man dann an geeigneter Stelle tun.»
«Hast recht», lenkte Heinrichs ein, «war ’ne blöde Bemerkung, Günther.»
Und schon wieder krachte es oben. Es hörte sich jetzt an, als ob jemand einen Stuhl umgeworfen hatte.
«Was, um Himmels willen, treiben die denn da oben?» Toppe stand auf, ging zum Fenster gleich neben seinem Schreibtisch und lehnte sich gegen die Fensterbank.
«Liegt der Abschlussbericht der Pathologie von dem Kind vor?»
«Ja, hier hab ich ihn», nickte Breitenegger.
«Und das ist ganz sicher, Günther, das mit dem Milzriss?», fragte Heinrichs.
«Ja. Warum fragst du?»
«Na ja, ich habe das noch mal nachgeschlagen. Da gab es 1963 mal diesen Fall Lecombier in Südfrankreich, in Lesparre, um genau zu sein. Fast identische Geschichte: Vater angeklagt, das Kind getötet zu haben. Todesursache: Milzruptur. Und später hat sich dann herausgestellt, dass das Kind einen Morbus Hodgkin hatte und die Milz sowieso schon im Eimer war.»
Heinrichs war in seinem Element. Er beugte sich weit über seinen Schreibtisch vor, und seine Augen blitzten.
Toppe verbiss sich ein Grinsen. Walter Heinrichs war ein 47 Jahre alter Niederrheiner aus Goch, mehr als korpulent, dabei aber außergewöhnlich agil, was wohl kaum ausblieb, wenn man eine zehn Jahre jüngere Frau hatte und vier Kinder. Das Jüngste war gerade drei Jahre alt, und man hatte sich noch nicht entschieden, ob es wirklich das letzte sein sollte. Heinrichs hatte sein Hobby zum Beruf gemacht. Schon als Junge hatte er sich ausführlich mit Kriminalistik beschäftigt. Er hatte nicht nur, so schien es Toppe immer, sämtliche Kriminalromane, die in der westlichen Welt jemals erschienen waren, gelesen, sondern auch alles, was an Fachliteratur zum Thema Gewaltverbrechen je auf dem Markt gewesen war. Es war Heinrichs’ Tick, immer anzumerken, dass es nichts gab, was nicht schon einmal da gewesen war. Und er verfügte über eine überaus lebhafte Phantasie. Manchmal konnte dies durchaus hilfreich sein – amüsant und spannend war es immer –, aber zuweilen waren seine Gedanken abwegig.
«Nein, Bonhoeffer sagt ganz klar, dass keine Vorschädigung der Milz vorliegt», entgegnete Breitenegger trocken.
Oben fiel wieder ein Stuhl um.
«Herrgott noch mal», rief Toppe und stieß sich von der Fensterbank ab, «jetzt reicht’s mir!»
Er eilte hinaus und die Treppe hinauf.
In der Tür vom Labor blieb er verblüfft stehen.
Van Gemmern stand auf einem einsamen Stuhl mitten im Labor und hielt sich mit beiden Händen an einer Lederschlinge fest, die an einem Deckenhaken hing. Er sah Toppe ungerührt ins Gesicht.
«Sind Sie verrückt geworden?», fragte Toppe, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. «Was soll denn das hier?»
Van Gemmern stieg ruhig von seinem Stuhl, ging zu einem der Labortische und zeigte wortlos auf ein Foto. Toppe sah es sich an. Es musste von dem Selbstmord am Samstag stammen. Man sah zwei baumelnde Beine und einen umgestürzten Stuhl.
«Und?»
Van Gemmern zuckte die Achseln. «Ich habe mittlerweile 44 Versuche mit dem Stuhl gemacht, und ich bin mir jetzt sicher, dass man den, wenn man draufsteht und ihn mit den Füßen wegstößt, niemals in diese Position bringen kann. Das hier», er tippte auf das Foto, «das hier kann kein Selbstmord sein.»