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Fünfundzwanzig

Das heiße Bad und das viel zu reichliche Essen hatten ihn so müde gemacht, dass er die Augen kaum noch offen halten konnte.

Hier draußen auf der windgeschützten Terrasse war es immer noch angenehm warm.

Die Jungen saßen drinnen und sahen sich «Wetten, dass ..?» an, die Geräusche vom Fernseher drangen nur gedämpft zu ihnen hinaus.

Er trank einen großen Schluck von seinem Bier, streckte sich und verschränkte die Hände im Nacken. Gabi erzählte von der Vernissage und was er so alles verpasst hatte.

«Du, die Karin Hetzel ist unheimlich nett. Ich hab sie für Montag mit ihren Kindern zum Kaffee eingeladen.»

«Prima», antwortete er.

Am jungen Kirschbaum vor dem Küchenfenster zeigten sich schon die ersten Knospen.

Es könnte richtig friedlich sein, dachte er, wenn diese elende Warterei nicht wäre.


Die Sonne schien ihr mitten ins Gesicht und weckte sie. Es war spät geworden gestern Abend, und sie fühlte sich überhaupt nicht ausgeschlafen, aber das war sie nie, wenn sie bei Klaus übernachtete.

Er war schon aufgestanden, sie hörte plätschernde Geräusche aus dem Badezimmer.

Selbst am Wochenende hielt es ihn nicht länger als bis acht Uhr im Bett. In dieser Hinsicht passten sie überhaupt nicht zusammen.

Sie kroch aus dem Bett und tapste nackt, wie sie war, ins Bad. «Morgen.»

Er lag ausgestreckt in der Wanne und betrachtete sie wohlwollend. «Morgen. Kommst du mit rein?»

«Nee, lass mal.» Sie ging zum Waschbecken und schaufelte sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht. «Ich mach schon mal Frühstück.»

Van Gemmerns Küche war winzig. An der Tischplatte, die er an die Wand geschraubt hatte, fand neben seinem Stuhl gerade noch ein kleiner Hocker Platz, auf dem sie sitzen konnte, wenn sie aßen.

Er kam nur in Shorts und mit nassem Haar.

Sie goss Kaffee ein.

«Was ist mit dir?», fragte er. «Du bist so schweigsam.»

Sie musste lachen, denn das war sonst immer ihre Textzeile. «Eigentlich ist nichts. Ich muss bloß immer an diesen Küsters denken.»

Er bestrich eine Scheibe Toast mit Butter und schwieg.

Sie sah auf ihre Uhr. «Viertel vor elf. Um zwölf muss ich Heinrichs bei der Martini ablösen.»

Er sah sie ernst an. «Also richtig ist das nicht, dass du als Praktikantin da eingesetzt wirst.»

«Ich habe selbst darum gebeten», gab sie schnippisch zurück.

Er lächelte nachsichtig und goss sich Kaffee nach.


«Also, jetzt reicht’s mir aber endgültig! Wir fahren sofort zum Krankenhaus.» Mit zornigem Gesicht stand Gabi über ihm.

Toppe war beim Duschen ausgerutscht und hatte versucht, sein nicht unbeträchtliches Gewicht mit dem verletzten Fuß abzufangen. Jetzt saß er – nackt und nass – halb in der Duschwanne, halb auf dem Kachelboden, rieb sich den Knöchel und stöhnte laut.

«Komm, ich helf dir beim Anziehen, und dann fahren wir.»

Er dachte nicht mehr an die Fahndung, nicht an Küsters.

Sein Fuß tat so höllisch weh, dass ihm die Zähne aufeinanderschlugen.


Van Appeldorn hielt Marion fest und wiegte sie hin und her. Sie schluchzte trocken. Ihre Augen waren völlig zugeschwollen.

Sie hatte die ganze Nacht geweint und nachgedacht, höchstens eine Stunde geschlafen.

Seit er um halb sieben von Anne Martinis Wohnung zurückgekommen war, hatten sie geredet, gedacht und geredet.

Seit einer Stunde saß Anna, Marions Tochter, nun schon vor dem Fernseher und sah einen evangelischen Vespergottesdienst, von dem sie nicht eine Silbe verstand. Ganz laut hatte sie den Ton gestellt und sich tief zwischen die bunten Sofakissen verkrochen. Sie hörte es trotzdem noch. Immer wenn Mama aufschluchzte, hielt sie sich die Ohren zu. Norbert hatte sie schon dreimal aus dem Schlafzimmer rausgeschmissen.

«Mama!», rief sie jetzt, so laut sie konnte.

«Ich komme gleich, Liebchen», rief Mama. «Nur noch einen Moment, Schatz.»

Anna nahm Mamas Nagelschere, die da auf dem Tischchen lag, und schnitt ein kleines Loch ins Sofakissen.


«Wann ist das passiert? Am Donnerstag? Das gibt’s doch wohl nicht. Und da kommen Sie erst heute? In meinem Sonntagsdienst! Glauben Sie, ich habe nichts anderes zu tun?»

Der diensthabende Arzt hatte sich in seiner ganzen Leibesfülle vor Toppe aufgebaut. Er musste einiges über zwei Zentner wiegen, und er war mindestens 1,90 m groß. Sein Kopf wirkte im Vergleich zu seiner mächtigen Gestalt unnatürlich klein, und er hatte die größten Ohren, die Toppe je gesehen hatte.

«Lisbeth, pack ihn in den AOK-Chopper und fahr ihn zum Röntgen», polterte er die Krankenschwester an.

Toppe fühlte sich hilflos. Obwohl er die Art des Arztes unmöglich fand, hielt er den Mund.

Das Röntgen war ziemlich unangenehm, aber nicht halb so schlimm wie die ‹fachmännische› Untersuchung.

Er musste eine halbe Stunde im Rollstuhl auf dem Gang warten. Gabi saß die ganze Zeit neben ihm, aber sie sagte nicht viel.

«So, dann kommen Sie mal wieder.» Der Arzt rollte ihn selbst ins Untersuchungszimmer. Er deutete auf die Röntgenbilder, die dort am Schirm hingen.

«Da haben wir’s: Weber C, Außenknöchelfraktur.»

«Gebrochen?»

«Sag ich doch. Und da laufen Sie drei Tage drauf rum, Mann! Muss operiert werden.»

«Das geht nicht.»

«Na, so was hab ich gerne. Ich sage Ihnen, das muss operiert werden.»

«Sofort?»

«Nein, nächstes Jahr. Jetzt mal im Ernst, Herr Toppe. Damit ist nicht zu spaßen. Und Sie haben doch auch Schmerzen.»

«Schon, es ist nur …» Toppe versuchte zu erklären, warum er noch ein paar Tage Zeit brauchte, aber der Arzt blieb stur. «Ich bin ganz und gar nicht damit einverstanden. Das müssen Sie mir unterschreiben, dass Sie gegen ärztlichen Rat und auf eigene Verantwortung gehen, Herr Toppe.»

Toppe unterschrieb, bekam einen Gips bis zum Knie, seine Gehstützen in die Hand gedrückt und war entlassen.

«Du bist ja so unvernünftig, Helmut», schimpfte Gabi leise, als sie auf den Aufzug warteten.


Toppe ließ sich in seinen Sessel fallen und legte das Gipsbein vorsichtig auf den Tisch. So war es viel besser auszuhalten. Das Telefon klingelte.

«Nein, danke», hörte er Gabi recht ungehalten sagen. «Ich koche gerade selber.»

«Es war nur Mutter. Sie wollte uns zum Essen einladen», rief sie dann aus dem Flur. «Willst du Sauce zu deinem Steak?»

«Ja», krächzte Toppe und räusperte sich, «ja, bitte, mit viel Knoblauch.»

Die Terrassentüren waren weit geöffnet. Oliver kickte einen Ball gegen die Garagenwand. Es schepperte laut, wenn er aus Versehen die Tür traf. Die Vögel zwitscherten unverschämt laut. Alles roch nach Frühling. In Toppe war es eher winterlich.

Krankenhaus, Operation. Und immer noch diese Warterei.

Jetzt war Astrid bei Anne Martini. Konnte er sie dort wirklich allein lassen?

«Papa?» Christian hatte sich auf dem Fußboden vor seinem Sessel niedergelassen. «Ich hab gelauscht gestern Abend.»

«Aha.»

«Ihr wisst jetzt, wer der Mörder ist, ne?»

«Ja.» Er strich seinem Sohn über den Kopf.

«Und jetzt sucht ihr den?»

«Ja.»

«Papa?»

«Hm?»

«Warum hat der die alle ermordet?»


Der Tag zog sich in die Länge. Nach dem Mittagessen legte er sich aufs Bett und versuchte zu schlafen.

Gabi und die Kinder spielten Federball auf der Schafwiese.

Es klingelte.

Er hörte, wie Gabi ‹Hintenrum!› rief und dann van Appeldorns Stimme. Schnell rappelte er sich auf. «Ich komme», rief er aus dem Fenster.

«Und?» Gespannt humpelte er van Appeldorn entgegen.

«Nee, nichts», winkte Norbert ab. Er sah sehr müde aus. Unter dem schwarzen Haarschopf wirkte sein Gesicht fahl und schlaff.

«Ich wollte was Privates mit dir besprechen.»

«Wollt ihr denn nicht reingehen?», fragte Gabi.

«Du kannst ruhig dabei sein», sagte van Appeldorn und setzte sich auf einen der Gartenstühle. Er stutzte. «’n Gipsbein? Wie kommst du denn plötzlich da dran?»

Aber als Toppe erzählte, hörte er kaum richtig zu.

«Ich hol uns mal Kaffee.» Gabi verschwand in der Küche.

Van Appeldorn war ganz sachlich, fast kühl in seiner Schilderung.

«Geteilter Erziehungsurlaub?», fragte Toppe.

«Ja, ich würde dann für ein halbes Jahr ausfallen.»

«Finde ich prima», sagte Gabi. «Das ist wirklich eine gerechte Lösung.»

«Ja», antwortete van Appeldorn und sah an ihr vorbei.

«Und hinterher?», wollte Toppe wissen.

«Hinterher sehen wir weiter. Vielleicht nehmen wir uns eine Kinderfrau.»

«Du siehst nicht so richtig glücklich aus dabei», bemerkte Gabi.

«Hm? Ach was, ich bin bloß müde. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.»

Sie strich ihm flüchtig über seine Hand. «Wenn das Kleine erst da ist, sieht alles ganz anders aus, glaub mir.»

«Vielleicht.» Er stand auf. «Dann will ich mal wieder. Ich leg mich erst mal aufs Ohr. Was Sinnvolles können wir ja doch nicht tun.»


«Komm endlich ins Bett», rief Gabi schon zum zweiten Mal.

«Ja, sofort», rief er zurück und schaltete weiter die Programme durch.

Sie murmelte etwas.

Jetzt musste Breitenegger bei der Martini sein.

Wo mochte dieser Küsters nur stecken? Wieso fiel keinem das Auto auf? Ob er es bei irgendwem untergestellt hatte? Vielleicht war er auch über die grüne Grenze nach Holland rüber. Dann wäre er erst mal in Sicherheit.

Als die Nationalhymne lief, schaltete Toppe den Fernseher ab und humpelte ins Bett.

Grenzgaenger
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