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Einundzwanzig

«I’m an Englishman in New York», tönte Sting aus dem Autoradio.

Van Appeldorn sang laut mit.

Im Heilpädagogischen Heim hatte er erfahren, dass Jochen Reuter dort mehr als vier Jahre, bis Anfang 1983, gearbeitet hatte. Nur mit Bedauern hatte man ihn gehen lassen, denn er wurde als guter und beliebter Mitarbeiter geschätzt.

Schwungvoll bog van Appeldorn in die Zufahrt zu den «Berufsbildenden Schulen des Kreises Kleve» ein.

Er würde mit einer anderen interessanten Information zum Präsidium zurückkehren. «Busparkplatz» las er und stutzte, ließ sich aber nicht beirren, sondern fuhr weiter geradeaus, bis ihn ein Schild nach links zum «Besucherparkplatz» wies. Der Parkplatz war voll. Er fuhr direkt bis vor den Eingang, stellte den Wagen schräg, halb auf dem Rasen, ab und betrat rasch das Gebäude.

Auf der rechten Seite der Halle war ein verglaster Raum, aus dem jetzt sofort ein Mann gestürzt kam, wohl der Hausmeister.

«Also bitte», polterte er los, «da können Sie Ihren Wagen auf gar keinen Fall stehen lassen.»

Van Appeldorn entschied sich für die Kinofassung: «Kriminalpolizei», gab er ruhig zurück und zog lässig seinen Dienstausweis aus der Hosentasche. «Ich muss in einer äußerst dringenden Angelegenheit mit Ihrem Chef sprechen.»

«Ach so», der Mann starrte auf den Ausweis, «das ist natürlich etwas anderes, Herr Kommissar. Zum Chef? Da folgen Sie bitte nur immer den gelben Handläufen. Sie können es gar nicht verfehlen.»

Van Appeldorn ging zur Treppe.

«Tach», nickte er einem kleinen Mann zu, der an der Ecke lehnte, dann sprang er – wenn schon Kino, dann auch richtig – mit einem Satz über die Absperrung.

«Mooment mal, mein Herr!» Napoleon hatte seinen Auftritt, aber van Appeldorn gelang es schließlich doch noch, zum Allerheiligsten des Chefs vorzudringen.

Der Direktor war ein kooperativer Mann und ließ sofort, nachdem er in einigen Akten geblättert hatte, Jochen Reuters früheren Klassenlehrer holen.

«Herr Tollens ist einer meiner fähigsten Kollegen. Wissen Sie, das ist noch einer vom guten alten Schlag, einer, der sich als Erzieher versteht.»

Nach dieser Äußerung sah van Appeldorn dem Gespräch mit eher gemischten Gefühlen entgegen.

Manfred Tollens war Ende fünfzig. Er hatte ein auffallend zerfurchtes Gesicht und intelligente, fragende Augen.

«Ihr Chef sagte mir, Sie seien der Klassenlehrer von Jochen Reuter gewesen.»

Tollens konnte sich sofort erinnern. Jochen Reuter sei ein recht guter Schüler gewesen. Mit ihm hatte es keine Probleme gegeben. Er bedauerte Reuters Tod, und van Appeldorn hatte den Eindruck, dass er es auch so meinte.

«Und Ihr Chef berichtete mir, dass Sie Carl Küsters ebenfalls unterrichtet haben.»

In Tollens’ Augen blitzte es kurz fragend auf. «Das stimmt, aber das war einige Jahre nach Jochen Reuter. Und die Karriere von Herrn Küsters bei uns war auch ziemlich kurz.»

«Man hat mir schon im HPH erzählt, dass Küsters dort aus seinem Praktikum rausgeflogen ist.»

«Das ist richtig. Danach hat er auch keine andere Praktikumsstelle mehr angenommen, sondern ganz das Handtuch geworfen.»

«Wie lange war Küsters Ihr Schüler?»

«Fast anderthalb Jahre.»

«Und daran können Sie sich so schnell und sicher erinnern? Oder hatten Sie später noch Kontakt zu ihm?»

«Nein, aber Küsters ist keiner, den man so leicht vergisst. Er war ein ziemlich schwieriger junger Mensch.»

«Inwiefern?»

«Nun, das ist nicht leicht in Worte zu fassen. Er war nicht unintelligent, hat sehr viel gelesen, scheute keine Diskussion. Nur … wie soll ich mich ausdrücken … er hat nicht verstanden, dass es sich bei den Dingen, die er las, sozusagen um Denkmodelle handelte. Er hat diese Denkmodelle in einer merkwürdigen Art und Weise zu seinem eigenen geistigen Eigentum gemacht. Wenn man so will, Halbwissen absolut gesetzt. Sein Verhalten war da sehr rigide. Er war meist nicht in der Lage, über vernünftige Argumente anderer nachzudenken.» Er unterbrach sich selbst mit einem leisen Lachen. «Er war zum Beispiel ein glühender Verfechter der Antipsychiatrie. Das Problem bestand nur darin, dass er sich mit dem Krankheitsmodell der bisher praktizierten Psychiatrie nicht auseinandergesetzt hatte.»

«Interessant.» Van Appeldorn fiel nichts Besseres ein.

«Ja, nicht wahr? Damals allerdings fand ich es weniger interessant als vielmehr unangenehm. Herr Küsters konnte nämlich mit jeder Form von Kritik an seinen Denkmodellen sehr schlecht umgehen. Er reagierte da sehr empfindlich, oft allergisch.»

«Ja, Ähnliches hat man mir auch im HPH berichtet.»

Tollens erwiderte nichts.

«Und zu Herrn Reuter fällt Ihnen nichts Auffälliges mehr ein?»

«Auffälliges? Ich weiß nicht, was für Sie auffällig ist. Meine Maßstäbe sind da vermutlich anders als die Ihren. Zudem stumpft man an einer solchen Schule mit den Jahren ein wenig ab, nehme ich an. Das Spektrum ist sehr breit gestreut. Jochen Reuter, langes Haar, Pferdeschwanz, enge Lederhosen, ein bisschen eitel. Die jungen Damen in der Klasse fanden ihn interessant, weil er sich kühl und gelassen gab, fast ein wenig arrogant, denke ich. Aber im Grunde war er ein netter Kerl. Ein Schüler, der sich Gedanken machte. Vielleicht hatte er hin und wieder mit Drogen zu tun, aber sicher nicht mit harten. Von seiner familiären Situation her war er es gewöhnt, Verantwortung zu übernehmen, und deshalb war er wohl auch bei uns immer sehr zuverlässig.»

«Und das wissen Sie alles noch so genau nach über zehn Jahren?»

«Ach, ich versuche immer, den Schüler in seiner Person zu erfassen. Das ist oft schwierig, weil unsere Schüler ja nur für eine relativ kurze Zeit bei uns sind, aber man sollte sich doch bemühen.»

«Otto Hetzel war ja auch …»

«O ja, das ist ein schlimmer Verlust, der mich auch persönlich schmerzt. Herr Hetzel war ein wirklicher Lehrer, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Er hat sich mit allen Mitteln, auch persönlicher Art, für seine Schüler eingesetzt. Übrigens hat er sich auch sehr intensiv um Carl Küsters gekümmert.»

«War er auch Reuters Lehrer?»

«Ja, ich bin ziemlich sicher, dass er ihn zumindest zeitweise unterrichtet hat. Doch, doch, er war Reuters Deutschlehrer.»


Toppe sah, als er schon auf dem Weg zur Tür war, dass der Redakteur vom WDR auf ihn zusteuerte, aber er brauchte sich nicht zu sorgen: Der Chef stürzte an ihm vorbei, dass es ihm fast die rechte Krücke wegriss. «Aber natürlich bin ich bereit, dem WDR ein weiterführendes Interview zu geben.»

Ackermann wartete auf dem Flur. «Soll ich wat zu futtern besorgen, Chef? Brötchen un’ Kaffee un’ so?»

«Ja, das wäre prima, Herr Ackermann.»


Im Büro saßen Breitenegger und van Appeldorn, tranken Kaffee, rauchten und warteten auf ihn.

Astrid lief zum Fenster und öffnete es, kaum dass sie den Raum betreten hatte. «Mensch, das ist ja nicht zum Aushalten!»

«Wieso? Sie rauchen doch selber auch ganz kräftig», gab van Appeldorn zurück.

«Aber ich lasse wenigstens noch Sauerstoff rein.»

«Sauerstoff in hohen Dosen ist toxisch», brummte Breitenegger. «Und, wie war’s?»

«Wie immer.» Toppe ärgerte sich, dass er sich auf seinen Stuhl setzen musste, anstatt, wie er es am liebsten tat, am Fenster zu stehen, bequem gegen die Fensterbank gelehnt. «Und du, Günther, warum machst du so ein finsteres Gesicht?»

«Ach, ich denke nur über das nach, was Norbert eben erzählt hat.»

Van Appeldorn berichtete von der Berufsschule, von seinem Besuch im HPH und von Küsters’ kurzer Praktikantenlaufbahn dort. Reuter und Küsters hatten sich damals, wie man ihm erzählt hatte, ganz gut gekannt. Küsters war mit den Patienten eigentlich gut klargekommen. Er selbst aber hatte seine Aufgabe weniger in der Betreuung der Patienten als vielmehr in der Erstellung neuer Konzeptionen gesehen. So hatte er ein Alphabetisierungskonzept entwickelt und durchgesetzt, dass er den Kurs durchführen konnte. Dabei blieb es dann aber auch. Trotz häufiger Anmahnung war der Kursus nicht angelaufen, und Küsters hatte immer neue Ausreden gefunden. Reuter hatte ihn dennoch unterstützt und sich immer wieder für ihn eingesetzt. Trotzdem hatte es schließlich irgendwann gereicht, und man hatte ihn rausgeworfen. Er hatte danach Klage gegen das HPH erhoben, aber zu einem Verfahren war es nicht gekommen.

«Ach was?», meinte Toppe.

«Wie, ach was?», fragte van Appeldorn verwirrt.

Toppe schilderte seine Gespräche mit Jupp Lievertz und Anne Martini und berichtete von Küsters’ offensichtlicher Liebe zu Prozessen.

«Ach was?», sagte auch Breitenegger. «So langsam möchte ich den Burschen doch mal kennenlernen.»

Obwohl alle für einen kurzen Augenblick den gleichen Gedanken hatten, sprach ihn keiner aus. Das war einfach zu simpel, zu trivial.

«Wenn der so klug ist und so viel redet», fuhr Breitenegger fort, «dann kann er uns vielleicht ja auch erzählen, ob in Worcester was passiert ist.»

«Ja, Worcester.» Toppe sammelte seine Gedanken ein. «Immer noch der einzige Punkt, an dem alle drei Fälle sich treffen. Ich meine, Hetzel und Reuter hatten durch die Schule mal miteinander zu tun, Reuter und Bruikelaer über die Bigband. Aber wir haben keine Berührungspunkte zwischen Hetzel und Bruikelaer.»

«Vielleicht bringt Walter was mit», hoffte Breitenegger. «Er lässt sich ja gehörig Zeit.»

Aber Toppe hörte nicht hin. «Also, noch einmal diese Worcester-Fahrt. Wir müssen versuchen, einen minutiösen Zeitplan zu erstellen: Wer mit wem wie lange wo und wie zusammen war, lückenlos.»

Keiner war begeistert.

«Wenn jeder von uns Befragungen durchführt, dürfte es einigermaßen schnell gehen.»

«Dann lass uns aber gleich telefonieren und die Termine abstimmen.» Breitenegger war etwas eingefallen. «Heute haben die Pfingstferien begonnen. Da wird manch einer von den Musikern weggefahren sein. Bei diesem Wetter!»

Er warf einen langen, resignierten Blick aus dem Fenster.


Toppe hatte den ganzen Tag keine Zeit gehabt nachzudenken. Er fühlte sich unwohl, wie immer, wenn er einen Haufen unverdauter Ereignisse und Informationen mit sich herumtrug. Und jetzt also das Gespräch mit dem Psychologen.

Übergangslos aus seinen Gesprächen mit den Bandleuten heraus. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Zettel mit Zeiten, Ergebnissen und Verbindungslinien zwischen Leuten. Wenn er Zeit hatte, konnte er daraus so etwas wie ein Soziogramm machen: Wer mit wem? Wer hatte wie viele Kontakte? Wer war ein Außenseiter? Interessante Geschichte. Aber auf den ersten Blick war nichts Aufschlussreiches dabei. Nun denn, sie waren noch nicht fertig. Der Pianist war in Moers auf dem Free-Jazz-Festival. Sonst hatten sie Glück gehabt: Die meisten hatten Dienstag wieder Schule und waren nicht weggefahren.

Reimann wartete schon an einem Zweiertisch auf ihn, gleich am Fuß der Treppe, die hinunter ins Restaurant führte.

«Was haben Sie denn mit Ihrem Bein gemacht?»

«Verstaucht, aber die Geschichte ist so dumm, dass ich sie gar nicht erzählen mag.»

Heute war er ganz froh, dass die Bänke in großem Abstand zu den Tischen festmontiert waren, sodass man zu einer eher ungemütlichen Esshaltung gezwungen war. Auf diese Weise konnte er sein Bein bequem unterbringen. Kaum hatte er die Gehstützen neben sich an die Wand gelehnt, kam schon der Kellner mit den Speisekarten. Toppe schlug die Karte auf, blickte dann aber wieder hoch und lächelte verlegen.

Auch Reimann blickte von seiner Karte auf.

«Wissen Sie, Herr Toppe», begann er, «als Sie mich gestern angerufen haben, fühlte ich mich ein bisschen in meiner Eitelkeit gekitzelt. Ich habe mich gefreut, dass Sie sich mit mir beraten wollten.» Er lächelte. «Deswegen habe ich so spontan zugesagt. Auf der anderen Seite weiß ich heute gar nicht so genau …»

Toppe nickte, auch er fühlte sich unsicher.

«Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen?»

Toppe legte die Karte beiseite. «Als wir wegen Suerick in der Klinik waren, ist mir angenehm aufgefallen, wie Sie sich für ihn eingesetzt haben. Es ist mir nicht ganz leichtgefallen, dieses Gespräch mit Ihnen zu vereinbaren. Das übliche Vorgehen ist das bei uns nicht, sich mit einem Psychologen zu beratschlagen. Ich weiß auch nicht, ob bei unserem Gespräch etwas herauskommt … Es ist einfach so, in dieser Mordserie gibt es ein Täterverhalten, das nicht nur in besonderer Weise auffallend ist, sondern auch merkwürdig widersprüchlich und ohne Sinn zu sein scheint. Es wäre wirklich schön, wenn Sie mir, als jemand von außen, der sich in der Materie auskennt, Impulse gäben. Ich möchte mir ein vernünftiges Bild machen können.»

Toppe unterbrach sich. Wieso rede ich eigentlich so gestelzt?, dachte er.

«Im Grunde genommen haben Sie recht, es ist schon ungewöhnlich, dass ich Sie um dieses Gespräch bitte.»

Reimann nickte und klappte die Karte zu. «Am besten bestellen wir erst einmal. Der gegrillte Fisch ist hier wirklich ganz ausgezeichnet.»

Toppe zündete sich eine Zigarette an. Er war schon öfter hier gewesen und fand die Atmosphäre angenehm. Sie saßen in dem erhöhten Teil des Restaurants, und er blickte hinunter auf den langen Tisch in der Mitte, der eben noch reserviert gewesen war. Jetzt saßen dort sechs Frauen unterschiedlichen Alters. Sie schienen sich hier zu Hause zu fühlen, sprachen den Kellner mit Vornamen an, bestellten ‹wie immer›, lachten und schnatterten ungeniert laut. Was für ein Club mochte das sein? Bestimmt kein Kegelclub, auch kein Handarbeitskränzchen, für Spielgruppenmütter waren die meisten zu alt. Einzelne Satzfetzen flogen zu ihm hoch: «Wenn die Anna das auf die Dauer nur leisten kann.» – «Wie ist die Aktion der IPPNW gelaufen?» Was, um Himmels willen, war das nun wieder?

Der Kellner brachte die Vorspeisen, und Toppe wandte sich Reimann zu. «Ich glaube, ich fange einfach an zu erzählen, was mir bei diesen drei Mordfällen so merkwürdig vorkommt.»

Reimann löffelte seine Schnecken, hörte dabei aber aufmerksam zu.

«Also, der erste Fall: die Krankenschwester José Bruikelaer. Zunächst sieht es wie Selbstmord aus, Tod durch Erhängen, aber dann stellt sich heraus, dass die Frau vorher vergiftet wurde. Mit einem sehr ungewöhnlichen Gift, das auch der russische Geheimdienst benutzt hat. Das heißt, José Bruikelaer schlief, als der Täter sie aufgehängt hat. Das heißt ferner, der Täter muss sehr kräftig sein, also mit großer Wahrscheinlichkeit ein Mann. Er hat das Gift mitgebracht und wohl auch den Strick. Er hat also den Mord geplant. Offensichtlich auch diese Tarnung als Selbstmord, denn er stößt einen Stuhl um, damit sieht es aus, als sei sie von dort heruntergesprungen. Dann aber verlässt er den rationalen Boden: Er hinterlässt Fingerspuren auf dem Stuhl.»

Reimann hob die Augenbrauen. «Wie? Der wischt die nicht einmal ab?»

Toppe schüttelte den Kopf. «Verrückt dabei ist, dass er andererseits das Zimmer so penibel ordentlich verlässt, wie es vorher war. Das Gift hat er in einen Kaffee gemischt. Es sieht so aus, als habe José Bruikelaer ihren Mörder gekannt und mit ihm zusammen Kaffee getrunken, den er wohl selbst in der Küche aufgebrüht hat. Nach der Tat spült er die Tassen sorgfältig in der Küche ab und räumt sie in den Schrank. Auch dort gibt es Fingerspuren.» Toppe aß ein paar Bissen. «Tja, das wäre der erste Fall.»

Reimann schien sein Essen vergessen zu haben.

Toppe zerteilte eine gebackene Auberginenscheibe und genoss den zarten Knoblauchgeschmack. Sorgfältig spülte er mit einem Schluck Valpolicella nach.

«Der zweite Fall: Das Opfer ist Jochen Reuter, ein Profi-Musiker und Ex-Sozialpädagoge. Auch da das KGB-Gift. Reuter schläft ein, der Täter sticht ihm eine mit Luft gefüllte Spritze in die Armvene, füllt mehrmals nach, ohne die Kanüle rauszuziehen. Das Opfer stirbt an einer Luftembolie. Reuter hat am Vorabend eine Fete gehabt, in der Wohnung sieht es chaotisch aus, überall Gläser und volle Aschenbecher. Diesmal ist das Gift im Wein. Der Täter lässt das halb gefüllte Weinglas mit dem Gift stehen. Anders als beim letzten Mal. Und wieder hinterlässt er Fingerspuren, diesmal auf der Spritze. Der dritte Fall liegt ein wenig anders …»

Reimann hob die Gabel. «Was ist eigentlich mit den Opfern? Wer sind die? Gibt es Gemeinsamkeiten?»

«Dazu kann ich Ihnen gleich was sagen. Lassen Sie mich erst noch schnell den dritten Fall schildern.»

Der Kellner kam und räumte die Vorspeisenteller ab.

«Sollen wir uns noch einen teilen?» Reimann tippte gegen die schon leere Weinkaraffe.

Toppe nickte. Er musste sowieso mit dem Taxi zurückfahren.

«Noch einen halben», rief Reimann dem Kellner zu. «Der dritte Fall also …» Er sah Toppe erwartungsvoll an.

«Das Opfer ist Otto Hetzel, Berufsschullehrer und zudem irgendwas Höheres bei den Grünen. Hier muss der Täter das Opfer besonders gut gekannt haben, er hat ihm nämlich offensichtlich sogar ein Gastgeschenk mitgebracht. Schokoküsse, die Hetzel besonders liebte. Jeder einzelne davon ist mit einer tödlichen Dosis Digitalis präpariert. Diesmal macht der Täter überhaupt keinen Versuch mehr, die Tat zu verwischen. Er lässt sogar die noch übrigen vergifteten Negerküsse stehen. Und das, obwohl in Hetzels Haus Kinder wohnen, was der Täter eigentlich gewusst haben muss. Er ist vermutlich gar nicht mehr da, als Hetzel stirbt, denn der Herztod tritt erst nach ein paar Stunden ein.»

Der Kellner kam mit den Fischplatten. Es duftete köstlich.

«Es ist ja auffällig», begann Reimann, unterbrach sich aber gleich wieder, denn der Kellner kam noch einmal mit Blattspinat und Dauphinoisekartoffeln. Dann mit der Weinkaraffe. Endlich hatte er seine Aufgabe erledigt.

«Ich meine, es fällt doch auf, dass die Art der Tötung in allen drei Fällen eine sehr ‹schonende› ist. Zwei der Opfer schlafen, als er sie tötet, bei dem dritten ist der Täter schon gar nicht mehr da. Spontan würde ich sagen, die Art, wie dieser Mann tötet, spricht gegen einen Affekttäter und auch gegen, wie man früher sagte, einen ‹Triebtäter›. Es geht auf keinen Fall um Aggressionsabbau oder Lustgewinn.»

Toppe nickte und kaute.

Reimann starrte blicklos auf sein Weinglas. «Der Täter scheint mir recht intelligent zu sein, denn er hat immer noch genügend intellektuelle Energie, den nächsten Mord genau und auch sehr phantasievoll zu planen, und das trotz der persönlichen Desorganisation.»

Toppe schaute ihn fragend an.

«Nun ja, wir kennen das doch von uns selbst. Wir sind doch öfter mal hin und her gerissen, weil wir verschiedene Wünsche, Gefühle und Gedanken in uns tragen, die sich völlig widersprechen können. Aber wir Normalneurotiker schaffen es, diese Widersprüche in uns unter einen Hut zu bringen und entsprechend angepasst zu handeln. Und wir können uns auch in andere Menschen hineinversetzen und auch akzeptieren, dass andere mal nicht so sind, wie wir es erwarten. Wir können darüber ärgerlich oder traurig sein, aber es führt nicht dazu, dass wir völlig ausrasten. Weil wir anerkennen, dass der Mensch, der uns enttäuscht hat, im Kern immer noch ein und derselbe Mensch ist.» Er musste lächeln. «Sie erkennen Ihre Frau doch auch wieder, wenn sie statt der blauen eine rote Bluse trägt.»

Toppe verstand.

«Sehen Sie», fuhr Reimann fort, «das alles kann Ihr Täter nicht. Für ihn gibt es entweder die ganz gute Frau in der blauen Bluse oder die ganz böse in der roten.»

Toppe grinste unwillkürlich.

Reimann nickte. «Wir können darüber schmunzeln, aber für Ihren Täter ist es innerlich eine Katastrophe, denn diese Frau in Blau garantiert ihm seine persönliche Stabilität. Wenn diese Stabilität bedroht ist, überschwemmen ihn archaische Gefühle von Hass und Rache.»

«Aber wieso ist er dann trotzdem in der Lage, so planvoll vorzugehen?», fragte Toppe.

«Weil beides nichts miteinander zu tun hat», antwortete Reimann. «Wenn ich zynisch wäre, würde ich behaupten, der Kontakt zur Realität stellt sich gerade an dieser, für uns widersprüchlichen, Stelle wieder ein.»

«Die Art, wie er tötet … das sind alles so ausgeklügelte Bilderbuchmethoden», überlegte Toppe. «Ich glaube, der Mann muss irgendwie kriminalistisch oder medizinisch vorgebildet sein.»

«Vielleicht liest er auch einfach nur gern Kriminalromane», wandte Reimann ein. «Was ist mit den Opfern?»

Toppe sammelte sich. «José Bruikelaer war, wie gesagt, Krankenschwester in Emmerich. Sie galt als freundlich, zuverlässig und positiv. Sie lebte allein im Schwesternwohnheim, hatte sich vor einiger Zeit von ihrem Freund getrennt, oder er sich von ihr. Die Kontakte, die sie hatte, selbst die sexuellen, waren locker und oberflächlich. Sie spielte in der Bigband der Kreismusikschule Saxophon. Mehr ist da nicht.

Jochen Reuter war früher einmal Sozialpädagoge und hat sich dann später für eine Karriere als Bassist entschieden. Mit eher durchschnittlichem Erfolg. Er lebte allein, hatte eine Freundin in Düsseldorf, bei der er auch zeitweise wohnte. Außerdem hat er einen drogenabhängigen jüngeren Bruder und eine alleinstehende Mutter, um die er sich wohl lange hat kümmern müssen.

Tja, und Otto Hetzel ist so ein klassischer Helfer.» Er gab Karin Hetzels Schilderung ziemlich wortgetreu wieder.

Reimann hatte aufgehört zu essen. «Finden Sie nicht, dass der Täter seine Informationen über seine Opfer optimal genutzt hat?»

«Wieso?», fragte Toppe und versuchte, eine Gräte herauszuporkeln, die zwischen seinen Schneidezähnen feststeckte.

«Na, das ist doch eigentlich augenfällig.» Reimann war in Fahrt gekommen. «Ihr Täter bringt jeden auf die Art um, die zum Opfer passt. Nehmen wir die Krankenschwester. Das klassische Klischee: allein lebende Frau ohne Freund, sexuell unbefriedigt. Was macht sie also? Sie hängt sich auf. Dann Jochen Reuter, auch eine wunderbare Inszenierung. Ihn bringt er mit einer Spritze um. Das passt doch perfekt zum freaky Musiker. Oder kennen Sie einen Jazzmusiker, der keine Drogen nimmt? Auch wieder ein Klischee. Und zuletzt Hetzel. Der muss die soziale Amme spielen. Hetzel ist einer, der die Leute nach außen hin sozial unterstützt, sich tatsächlich aber nicht von anderen Menschen abgrenzen kann. Das, was nach außen hin so wunderbar unterstützend aussieht, ist nichts anderes als Missbrauch. Warum? Weil soziale Ammen wie Hetzel genau das verhindern, was sie angeblich erreichen wollen, nämlich Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit. Sie füttern die Leute wie Säuglinge, weil sie selbst darauf angewiesen sind, dass andere Ansprüche und Forderungen an sie stellen, ihre Hilfe benötigen. Das lässt sie sich wichtig fühlen, hebt ihre Selbstachtung, steigert ihr Selbstwertgefühl. Auch wenn sie sich nach außen hin darüber beklagen.» Er überlegte kurz. «Ich glaube, zumindest die beiden Männer hat der Täter näher gekannt. Und zudem erfasst er situative Gegebenheiten blitzschnell und genau.»

Toppe schaute fragend auf.

«Sie sagten doch, das Zimmer der Krankenschwester war penibel aufgeräumt – also spült er die von ihnen beiden benutzten Tassen. Bei Reuter war Chaos nach der Fete, also lässt er das Glas einfach stehen.»

Aber Toppe war nicht zufrieden. «Sie haben den Mann so beschrieben, als sei er ganz schön durch den Wind. Wie kann er denn dann eine Situation so gut intuitiv erfassen und auch noch intelligent handeln?»

«Menschen wie Ihr Täter haben feine verstandesmäßige Sensoren, man könnte auch sagen ‹kognitive Antennen› für die Beschaffenheit von Menschen und Situationen entwickeln müssen», erklärte Reimann. «Warum mussten sie das? Weil sie nie erfahren haben, dass man in Beziehungen zu anderen Menschen Sicherheit, Geborgenheit und Wohlbehagen finden kann. Sie haben lernen müssen, dass sie für andere Menschen immer Mittel zum Zweck waren, das bedeutet, sie kennen nichts anderes und versuchen daher, ihre Mitmenschen stets unter Kontrolle zu halten. Wenn ihnen jemand zu nahe kommt, geraten sie in Panik. Sie sind dann gezwungen, das, was sie an Beziehung gerade aufgebaut haben, wieder kaputtzumachen. Wie macht man das am besten? Man nutzt andere schon fast parasitär aus, stellt die Beziehung immer wieder auf die Probe, bis die anderen aufgeben und sagen, das war’s. Und damit wird das Weltbild des Täters bestätigt. Menschen wie er ziehen ihr Selbstbewusstsein, ihr Gefühl, was oder wer sie sind, nur daraus, dass sie andere in ihrem Sinne manipulieren. Für dieses Gefühl der Größe sind sie bereit, einiges zu opfern.»

Toppe fluchte leise. Der Tintenfisch war zwar lecker, aber entweder zu zäh, oder das Messer war zu stumpf.

«Zweimal sind wir fast auf ihn reingefallen», schimpfte er unterdrückt. «Bei der Bruikelaer sah es so eindeutig nach Selbstmord aus, und beim Hetzel war der plötzliche Herztod sogar schon ärztlich bescheinigt. Wenn ich nicht vorher das Foto gesehen hätte … Na ja, beide Male war es eigentlich Zufall, dass wir schließlich auf Mord gekommen sind.»

Er schob sich die letzte Gabel mit Blattspinat in den Mund und lehnte sich dann zurück. Reimann kämpfte noch mit seinem Tintenfisch.

«Aber», fing Toppe wieder an, «warum macht der es uns so leicht, ihn zu schnappen? Fingerspuren! Das ist wirklich lächerlich. Wenn er doch andererseits so intelligent ist.»

Reimann legte das Besteck aus der Hand und grinste schief. «Ich hab schon Patienten gehabt, die haben eine Tankstelle überfallen und nahe beim Tatort eine Tasche hinterlassen, in der ihre Gehaltsabrechnung steckte, mit Namen und Adresse.»

Toppe lachte ungläubig, aber Reimann sagte: «Ich denke, es gibt tatsächlich in jedem von uns so etwas wie ein unbewusstes Strafbedürfnis. Es ist so etwas wie der unbewusste Wunsch, erwischt und endlich gestoppt zu werden.»

Toppe runzelte die Stirn.

«Ja», nickte Reimann, «auch bei Ihrem Täter haben die Morde augenscheinlich keinerlei kathartische Wirkung. Er muss doch immer weitermachen. Dieser Mensch sitzt auf einem Karussell, das sich schneller und schneller dreht.»

«Was geht in ihm vor?»

«Ich denke mir, der Mann ist einfach am Ende. Die Morde sind der Endpunkt einer langen Entwicklung.»

Toppe fragte sich im Stillen, ob diese Annahmen nicht nun doch zu weit in den Bereich der Spekulation reichten. Aber eigentlich war es egal. Es tat gut, Sachen zu Ende zu denken. Das Karussell dreht sich immer schneller, dachte er, keine kathartische Wirkung. Und er fühlte, wie sein Magen mit all dem guten Essen sich ruckartig hob, und trank schnell einen Schluck Wein, aber er fragte doch: «Bringt er noch jemanden um?»

«Entweder noch einen oder sich selbst. Das ist genauso möglich.»

«Wieso sich selbst?»

«Nun, der Selbstmord als letzte Inszenierung und Ausdruck eines Gefühls von Größe. In den Schuldgefühlen der Zurückbleibenden unsterblich werden. Ausdruck von Rache und Wut.»

«Glauben Sie, dass auch die anderen Leute aus der Bigband besonders gefährdet sind?»

Reimann schüttelte entschieden den Kopf.

«Nein, ich glaube nicht, dass es etwas mit einer Gruppenzugehörigkeit zu tun hat. Es scheint mir eher an der Art der persönlichen Beziehungen zu liegen. Ich spinne einfach noch mal so vor mich hin. Welche verbindenden Elemente gibt es direkt zwischen den Personen? Ich sehe da zunächst mal, dass alle drei, Jochen Reuter zumindest zeitweise, in sozialen Berufen tätig waren, also Helfer.»

«Ja, und Jochen Reuter und José Bruikelaer waren zusammen in der Bigband, Reuter und Hetzel waren mal Schüler und Lehrer. Zwischen Hetzel und Bruikelaer gibt es bis jetzt noch gar keine Verbindung. Aber alle drei waren zusammen in Worcester.»

«In Worcester?»

Toppe erklärte.

«Vielleicht liegt dort das …», Reimann zögerte, «… missing link. Mir scheinen die Morde etwas mit dem Grad der Bekanntschaft des Täters zu den Opfern zu tun zu haben. Irgendetwas am Verhalten der Leute, zum Beispiel auf dieser Fahrt, muss den Entschluss, sie zu töten, ausgelöst haben.»

Toppe erschauerte wieder.

«Das hieße, jeder, der diesen Täter kennt, ist gefährdet.»

«Ja, vereinfacht gesagt, jeder, der ein ähnliches Verhalten an den Tag legt wie das, das ihn dazu gebracht hat, die anderen umzubringen.»

Sie sagten beide nichts mehr.

Toppe sah auf seine Hände.

«Sollen wir noch einen Nachtisch nehmen?», fragte Reimann dann.

Sie bestellten beide eine Zabaglione.

Reimann sprach seinen Gedanken aus. «Ich habe das Gefühl, dass der Täter sich zunehmend in seiner Welt verliert.»

«Ja», bestätigte Toppe düster, «das dachte ich auch gerade. Er versucht immer weniger, seine Haut zu retten.»

«Es ist fast so, als richte er seine Opfer hin.»

Der Kellner brachte die Zabaglione.

Grenzgaenger
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