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Neunzehn

Der Druck auf seiner Blase ließ sich beim besten Willen nicht mehr ignorieren. Eine Weile lag er mit geschlossenen Augen und kämpfte sich durch die Watte in seinem Kopf.

Die Badezimmertür schlug krachend gegen die Wand, und Oliver brüllte: «Blödmann, ej!» Sieben Uhr. Er schwang sich aus dem Bett und ließ sich gleich wieder mit lautem Stöhnen in die Kissen fallen. Er hatte seinen Fuß vergessen.

Gabi klopfte gegen die Schlafzimmertür. «Frühstück», rief sie und war schon weitergeeilt.

«Ich komme schon», krächzte Toppe und hüpfte wie eine lahme Dohle zum Klo.

«Noch nicht besser?» Gabi schaute ihn mitleidig an und schob ihm den Stuhl zurecht, als er endlich zum Frühstück erschien.

«Was hat Papa denn?», krähte Oliver. «Bist du krank?»

«Ich hab mir bloß den Fuß verstaucht.»

«Zeig mal.» Oliver rutschte unter den Tisch. «Och, du hast ja Socken an. Tut es weh?», fragte er und lugte treuherzig unterm Tisch hervor.

Toppe lächelte. «Nicht so schlimm. Komm, setz dich wieder.»

«Eisspray», kommentierte Christian fachmännisch. Er war schließlich Fußballer.

«Wenn das mal reicht.» Gabi schüttete Kaffee ein. «Willst du nicht doch lieber zum Arzt gehen?»

Er schüttelte nur den Kopf. «Habt ihr heute keine Schule?», wechselte er das Thema.

«Pfingstferien!» Christian belegte sein Brot mit einer Scheibe Käse und bestrich es dann mit einer dicken Schicht Erdbeermarmelade.

«Aber du musst heute in die Praxis, oder?»

Gabi nickte. «Aber dann hab ich frei bis Donnerstag. Fünf schöne, lange Tage.»

Toppe erinnerte sich wieder. Vor ein paar Wochen hatten sie überlegt, doch wenigstens für drei Tage an die See zu fahren, nach Ameland oder Texel. Er hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht. Prüfend betrachtete er seine Frau, aber sie schien nicht böse zu sein. Er fühlte sich schuldig, was natürlich Unsinn war, denn er hatte keinen Einfluss auf seine Arbeitszeiten. Trotzdem war es nicht richtig, dass ihm für die Familie – besonders für Gabi – oft überhaupt keine Zeit blieb.

Nicht einmal Zeit, an sie zu denken. Anfangs war Gabi oft mürrisch gewesen, aber mit den Jahren hatte das immer mehr abgenommen. War das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

«Du bist gar nicht sauer», stellte er fest.

Sie lächelte mit den Augen. «Was sollte das auch bringen? Sag, soll ich dich zum Präsidium fahren?»

«Ich kann auch ein Taxi nehmen.»

«Blödsinn! Wenn du dich ein bisschen beeilst, schaffe ich das noch. Christian, lauf mal zu Oma rüber und frag, ob sie irgendeine Salbe gegen Verstauchungen hat.»

Christian sah sie empört an. «Wieso eigentlich immer ich?»

«Komm, diskutier nicht rum, zisch los.» Sie knuffte ihn freundschaftlich in die Seite. Christian sah sie wütend an und schob sich langsam den Rest seines Brotes in den Mund. Das war nicht ganz einfach, denn es war noch über die Hälfte der Schnitte. Gabi übersah es, und Christian gab schließlich auf und zischte los.

«Wird auch immer fauler, die alte Schweinebacke», meinte Oliver, «und so was will Mittelstürmer sein, pff!»

Toppe grinste. Er hätte noch Stunden hier am Tisch sitzen und seine Familie genießen können, aber jetzt betrat seine Schwiegermutter die Szene. Sie sah gewagt aus im türkisfarbenen Jogginganzug und mit güldenen Pantoletten an den nackten Füßen. Er schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel, dass er sie nicht jeden Morgen sehen musste. Sie hatte einen Hängehintern und nicht nur das.

«Ja, Junge, was machst du bloß für Sachen! Komm, zeig mal her.»

Sie rauschte auf ihn zu, griff nach seinem Bein, und in wenigen Sekunden hatte sie seinen Fuß auf einen Stuhl gepackt und den Strumpf ausgezogen. Christian legte eine Tube Salbe und eine elastische Binde auf Toppes Frühstücksbrett.

«Mensch, ist der dick!» Er gab einen anerkennenden Pfiff von sich.

«Helmut, Jung, Gott, o Gott.» Die Schwiegermutter war in ihrem Element. «Damit musst du aber sofort zum Röntgen!»

«Hab keine Zeit. Aua, lass los!»

Toppe sah sie wütend an, aber sie drehte ungerührt noch einmal fachmännisch den Fuß hin und her. «Damit ist nicht zu spaßen. Das kann mal ganz ebkes gebrochen sein, und dann hast du nachher die Maläste davon.»

Gabi kam schnell um den Tisch herum. «Ich wickle den Fuß gleich. Lass nur, Mutti.»

«Bitte, wie du willst. Man meint’s ja nur gut.»

«Weiß ich doch», lenkte Toppe ein. «Danke für die Salbe.»

«Oh, gern geschehen. So was hat man doch immer im Haus. Kommt ihr gleich rüber, Schatz?», wandte sie sich im Hinausgehen an Oliver.

Gabi wickelte die Binde stramm um sein Fußgelenk und befestigte das Ende mit zwei Metallhäkchen.

«Weißt du, wie man diese Klammern hier nennt?» Sie musste grinsen.

«Ja», stieß Toppe zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, «Schwiegermütter.»


Er schaffte es gerade noch, vom Eingang des Präsidiums bis zu Astrids Auto zu hüpfen. Humpeln war nicht mehr möglich. Er tat sich ziemlich leid.

Astrid stellte den Wagen auf dem Lehrerparkplatz des Sebus-Gymnasiums ab. Toppe kamen ungute Erinnerungen an letztes Jahr, als er hier in der Aula einen Mörder mitten aus einer Theateraufführung heraus hatte verhaften müssen.

Astrid bot ihm wortlos ihren Arm an. Er zögerte, ergriff ihn dann aber. Indem er sich fest darauf stützte, schaffte er es, langsam über den Parkplatz zu humpeln. Als sie um die Ecke bogen, standen sie unvermittelt vor einem hohen Bauzaun, der den Eingang versperrte. ‹BITTE BENUTZEN SIE DEN EINGANG AN DER BEETHOVENSTRASSE› stand auf einem kleinen Schild. Sie sahen sich schweigend an.

«Wir fahren mit dem Auto hin», entschied Astrid, und sie machten sich auf den weiten Weg zurück zum Wagen.

Der Direktor ließ Jupp Lievertz aus dem Unterricht holen. Er fand es offensichtlich aufregend, die Kripo in seiner Schule zu haben, und stellte ihnen sein «Sprechzimmer» zur Verfügung.

Jupp Lievertz entsprach Toppes Klischeebild eines Grünen so genau, dass er ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte.

Lievertz war Ende dreißig, hatte schütteres, zerzaustes Haar, einen krausen Bart, mild blickende Augen und einen müden, schlaksigen Gang. Er trug ausgebeulte Cordhosen, ein helles T-Shirt, das bis über die halben Oberschenkel reichte, und an den nackten Füßen braune Gesundheitssandalen.

«Hallo», grüßte er und schlakste zu ihnen herein. «Ach, Astrid», er erkannte sie sofort, «heute im Dienst?»

Er schüttelte beiden die Hände und ließ sich in einem der blauen Lehnstühle nieder. «Was gibt’s denn?»

«Eigentlich hätten wir gern von Ihnen ein paar Auskünfte über jemanden, den wir im Zusammenhang mit einem Mordfall suchen», erklärte Toppe.

«Wir können ihn nicht finden», versuchte Astrid, das Satzungetüm zu entschärfen.

Lievertz zwinkerte vergnügt mit den Augen. «Den Mörder?»

«Nein», entgegnete Toppe, «aber jemanden, der uns vielleicht wichtige Informationen geben kann: Carl Maria Küsters.»

«Ach, du Himmel!» Lievertz verdrehte die Augen. «Wieso könnt ihr den denn nicht finden? Ich hab ihn gestern noch im Buchladen getroffen.»

«Um welche Zeit?», fragte Toppe.

«Och, so gegen fünf muss das gewesen sein.»

«Wissen Sie, wo er wohnt?»

«Keine Ahnung. Mann, das ist eine üble Geschichte mit dem Otto Hetzel, was?» Er schüttelte bedauernd den Kopf.

«Kannten Sie Hetzel?»

«Ja, schon über die Partei. Und was wollen Sie von Carl M.?»

Toppe antwortete nicht. Lievertz hob die Hände und verbeugte sich belustigt: «Ach so, klar, können Sie mir natürlich nicht sagen. ’tschuldigung.»

«Was ist denn das für einer, dieser Küsters?», wollte Astrid wissen.

«Oh, Gott, ja.» Lievertz lachte. «Das ist einer! Ich weiß gar nicht, wie ich den eigentlich kennengelernt habe. Irgendwie war der einfach immer da.» Er bremste sich. «Ich bin zwar nicht unbedingt ein Fan von Carl M., aber irgendwie fänd ich das auch nicht so gut, wenn ich jetzt einfach so über ihn loslege.»

«Ja, das verstehe ich gut. Aber Sie würden uns wirklich helfen. Ich möchte mir gern ein Bild von ihm machen können», erwiderte Toppe ruhig.

Der Lehrer sah ihn ernst an. «Ist es wirklich so wichtig für Sie?»

«Ja.»

«Okay.»

Lievertz beschrieb Carl M. Küsters als einen linkischen, unangenehmen Menschen. Einmal gebrauchte er sogar das Wort Parasit. Küsters war seit der Gründung der Offenen Grünen Fraktion in Kleve mit dabei und hatte ständig versucht, sich in den Vordergrund zu spielen. «Dauernd reißt er wichtige Aufgaben an sich, nur erledigen tut er nichts. Aber labern kann der gut.»

Wenn man Lievertz glauben konnte, musste Küsters bei jeder Bürgerinitiative und sonstigen alternativen Gruppierung der letzten Jahre dabei gewesen sein.

«Amnesty, Greenpeace, Donsbrügger Mühle, Atomwolke, die AKW-Sache, Pro Bahn, Netzgruppe, Golfplatz Hohe Luft und was sonst noch alles. Und überall dasselbe Lied: Entweder, wenn er selbst der Initiator war, lief sich die Geschichte sowieso tot, oder aber man schmiss ihn nach einer Weile raus. Bei uns ist da auch mal ein Parteiausschlussverfahren gelaufen mit Gericht und allem Pipapo.»

Auch was seine berufliche Karriere anging, hatte Küsters keine «glänzende» Vergangenheit. Lievertz wusste nicht genau, was Küsters nun eigentlich gemacht hatte, aber auf jeden Fall hatte er mehrere Ausbildungen abgebrochen.

«Aber komischerweise fällt der immer auf die Füße», sagte Lievertz. «Die Eltern haben aber auch ganz gut Knete, und ein bisschen Vitamin B ist oft hilfreich. Der hat sogar neulich einen Job beim Bundesvorstand gehabt. Aber auch da ist er nach ein paar Wochen rausgeflogen, weil er seinen Pflichten nicht nachgekommen ist. Die kriegen auch noch Geld von ihm.»

«Wieso auch noch?», fragte Astrid.

«Ha!» Lievertz lachte wieder. «Ich glaub, es gibt in ganz Kleve kaum einen, den der Carl M. nicht angepumpt hat. Ich kriege noch an die achthundert Mark.»

«Versteh ich nicht», wunderte sich Astrid, «wenn der doch so ein …» Sie stockte.

«Schmarotzer», half Lievertz bereitwillig aus.

«Ja», fuhr Astrid fort, «warum leihst du zum Beispiel ihm dann Geld?»

«Na ja, man kommt ja erst mit der Zeit dahinter. Außerdem, der hat so eine Art … man kommt sich wie ein Schwein vor, wenn man ihm nicht hilft.»

«Warum ist Carl Küsters mit der Bigband der Kreismusikschule nach Worcester gefahren?», wollte Toppe wissen.

«Ach ja, das war auch so ’ne Sache. Wir hatten ihn in den Schulausschuss gesetzt, weil er so scharf drauf war, aber da hat er nur Scheiß gebaut. Er war einfach untragbar. Wir mussten ihn rausnehmen. Stattdessen haben wir ihn zu dieser Städtepartnerschaft geschickt. Da war er dann auch sofort wieder in der vordersten Reihe dabei. Der hat sowieso so ’n Englandtick. Aber seit der Fahrt habe ich nichts mehr davon gehört, fällt mir gerade auf.»

«Gut», Toppe stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und stand vorsichtig auf. «Wo können wir ihn denn wohl finden?»

«Ich habe echt keine Ahnung», bedauerte Lievertz, «der wohnt mal hier, mal da.»

«Mit wem ist er denn befreundet, bei wem können wir weiterfragen?» Toppe blieb beharrlich.

«Befreundet? Ich glaube kaum, dass er viele Freunde hat.»

Er überlegte trotzdem. «Vielleicht fragen Sie die Anne Martini. Mit der hat er vor zwei Jahren in Goch einen Laden gehabt. Ist übrigens pleitegegangen.»

«Und wo finde ich Frau Martini?»

«Die wird in ihrem neuen Laden sein.»

«Ja, ich weiß schon», unterbrach Astrid, «der kleine Spielzeugladen unten in der Stadt.»

Toppe setzte sich langsam in Gang.

«Was haben Sie denn angestellt?», rief Lievertz.

«Fuß umgeschlagen.»

«Tja», Lievertz sah auf Toppes Füße. «Kaufen Sie sich mal ein Paar vernünftige Schuhe, dann passiert das nicht so leicht. Ich hatte früher auch öfter Ärger damit.»

Er klopfte Toppe freundlich auf den Rücken und hielt ihm die Tür auf. «So, ich muss jetzt schnell los, sonst geht’s in meiner Klasse drunter und drüber», verabschiedete er sich. «Viel Glück beim Mörderfang», rief er noch über die Schulter zurück.


«Chef! Herr Toppe!», brüllte Ackermann.

Er kam quer über den Parkplatz am Präsidium gerannt, dass seine Haare und sein langer Bart nur so flatterten, und fuchtelte wild mit zwei Gehstützen. Keuchend blieb er vor Toppe stehen. Seine dicke Brille war ihm bis auf die Nasenspitze gerutscht. Er strahlte Toppe kurzsichtig an. «Hier», japste er und drückte Toppe die Gehstützen in die Hand, «meine alten Krücken.»

Toppe kämpfte einen stillen Kampf.

«Nu’ machen Se doch nich’ so ’n Bohei, Mensch», schimpfte Ackermann. «Wat meinen Se denn, wat ich mir alles von de Rubberduckies anhören musste, als ich die Dinger gebraucht hab. Na und?, hab ich mir gesagt. Die können dir doch die Hacken violen, haben ja auch nicht deine Schmerzen, hab ich mir gesagt. Und nu’ los, Chef.»

Toppe schluckte. «Und wie kommt man mit diesen Dingern die Treppe hoch?»

Ackermann strahlte über sein ganzes nettes Schratgesicht. «Kein Problem, Chef. Kommen Se, ich zeig et Ihnen.»

Grenzgaenger
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