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Siebzehn

Grete Müller hatte Angst.

«Aber wenn das alles mit der Englandreise zusammenhängt, dann kann … mein Gott.»

Sie saßen in Müllers Esszimmer, der Bandleader, seine Frau, van Appeldorn und Astrid.

«Wie gut kannten Sie Otto Hetzel?» Van Appeldorn ignorierte ihre Aufregung.

Müller strich seiner Frau beruhigend über den Arm. «Wir haben ihn erst auf dieser Fahrt kennengelernt», antwortete er.

«Und er war so unheimlich nett», fügte seine Frau weinerlich hinzu. «Ich kann das überhaupt nicht glauben. Die waren alle nett, die José, der Jochen auch auf seine Art. Wer tut so was, und warum bloß?»

Van Appeldorn ging nicht darauf ein. Er legte ihnen das Foto auf den Tisch.

«Das Foto kennen Sie vielleicht, es war damals in der Zeitung. Wer ist dieser Mann?»

«Ach, Küsters.» Grete Müller klang verächtlich, und van Appeldorn hob fragend die Augenbrauen.

«Carl Küsters. Er war mit als Vertreter der Grünen», sagte Müller.

«Und wer ist sonst noch mitgefahren?»

«Keiner. Die Bigband, Otto Hetzel, Küsters, meine Frau und ich. Und dann natürlich der Busfahrer, ein Herr Nienhuis.»

«Sie sind also mit dem Bus gefahren. Was ist auf der Reise vorgefallen?»

«Nichts!» Müllers Erstaunen war echt. «Was soll denn vorgefallen sein?»

«Gab es Streitigkeiten unter den Leuten, irgendeinen besonderen Vorfall?»

«Nein, davon weiß ich nichts. Wir haben uns ja auch nur zu den Auftritten getroffen und bei den Proben. Ansonsten waren wir in unseren Gastfamilien.»

«Waren Sie einzeln untergebracht?»

«Nein, die meisten von uns zu zweit.»

«Wer mit wem?»

«Das weiß ich nicht mehr. Da müssen Sie die Leute schon selbst fragen.»

«Mit wem hat Otto Hetzel zusammengewohnt?»

«Hetzel? War der nicht allein beim Bürgermeister untergebracht?», fragte er seine Frau. Sie nickte und stand auf. Sie war extrem dünn, mit flusigen, aschblonden Haaren und hektischen, unkontrollierten Bewegungen. «Wollen Sie auch etwas trinken?»

«Nein danke.» Van Appeldorn blickte nur kurz auf, zog seinen Notizblock aus der Tasche und schrieb etwas auf.

«Ich auch nicht, danke», sagte Astrid höflich, und Müller schüttelte nur den Kopf.

Sie ging hinüber zum Vertiko und goss sich einen Weinbrand ein.

«Und Jochen Reuter, hat der auch allein gewohnt?»

«Nein.» Müllers Antwort kam sicher und schnell. «Der war mit Küsters zusammen.»

«José Bruikelaer?»

Müller hob bedauernd die Schultern, aber seine Frau sprang ein. «Die war zusammen mit der Kleinen vom Baumgarten. Weißt du das denn nicht mehr? Bei diesem alten Pfadfinder, den Forresters. Die haben sich doch die ganze Zeit über den kaputtgelacht.»

«Ja, stimmt, jetzt, wo du’s sagst.»

«Christiane Baumgarten?», hakte van Appeldorn nach.

«Ja.»

«Ist Ihnen etwas aufgefallen am Verhältnis der Leute untereinander? Man sitzt doch schließlich gute zwanzig Stunden zusammen im Bus.»

«Gott, was soll mir aufgefallen sein?» Müller klang ratlos. «Es war ganz normal, wie das so ist mit einer Gruppe von Jugendlichen. Wer sitzt neben wem? Wie sind die Gastfamilien? Welche Kassette soll der Busfahrer einlegen? Darf im Bus geraucht werden oder nicht? Das Übliche eben.»

«Ach komm», widersprach seine Frau, «da hat’s doch ’ne Menge Krach gegeben.» Sie schien noch im Nachhinein ungehalten. «Dieser Küsters ist nämlich ein ganz militanter Nichtraucher. Der hat die ganze Fahrt über rumgepöbelt. Ausgerechnet der muss sich über Gestank aufregen!»

«Wieso?»

«Der ist geradezu abstoßend ungepflegt und riecht entsprechend.»

«Wissen Sie, wo ich diesen Herrn Küsters finden kann?»

«Nein», antwortete Müller schlicht.

«Er hat jedenfalls keine Arbeit», bemerkte seine Frau spitz. «Darüber hat er sich lang und breit ausgelassen.»

«Sie haben sich näher mit ihm unterhalten?»

«Pfui, Gott bewahre! Aber manchmal konnte ich ihm nicht rechtzeitig entkommen.»

«Gut, hat es noch andere Probleme gegeben?»

Sie überlegten eine Weile, aber offensichtlich war keinem von beiden etwas im Gedächtnis geblieben, das erwähnenswert schien.

«Hatten Jochen Reuter und José Bruikelaer engeren Kontakt?»

«Nicht, dass ich wüsste», antwortete Müller. «Der Jochen war mehr so ein Einzelgänger.»

«Einzelgänger!», fiel ihm seine Frau ins Wort. «Ganz schön arrogant war der. Für den waren das doch alles Kinder. Ich hab ja nie kapiert, warum der in der Bigband war. Er hat keinen Hehl daraus gemacht, dass die ihm alle eine Nummer zu klein waren. Aber José, die war einfach richtig nett. Die konnte den Reuter auch nicht besonders leiden.»

«Woher willst du das wissen?», fuhr ihr Mann sie an.

«So was merkt man doch.»


Breitenegger hatte den Zentralcomputer in Berlin befragt: ‹Carl Maria Küsters, geboren am 7. Februar 1957 in Kleve, zuletzt gemeldet bei Hanns Martin Küsters, Am Sender 7›.

«Na, dann will ich mal sehen, dass ich ihn auftreibe.» Toppe sah auf seine Uhr, halb zehn – seit dem letzten Mord waren neun Stunden vergangen.


Hanns Martin Küsters gehörte ohne Zweifel der gehobenen Einkommensklasse an. Das Haus, vor dem Toppe stand, war ein großer, weißer Bungalow. In der Einfahrt ein makellos polierter grauer Benz, auf dem Rasen vor der Haustür eine abstrakte Metallskulptur. Es gab keine Klingel, nur einen schweren Klopfer an der glatten, kupfernen Haustür. Toppe klopfte. Drinnen schlug ein Hund an.

«Ruhig, Prinzess», rief der Mann, der ihm jetzt die Tür öffnete. Er war recht klein, hatte schütteres, weißes Haar, das er von hinten über die Stirnglatze gekämmt hatte, einen kurzen, eisgrauen Bart und trug eine silberne, schmale Metallbrille. Fragend sah er den späten Besucher an.

Toppe stellte sich vor. «Ich möchte Herrn Carl Küsters sprechen.»

Der Mann hielt ihm die Tür auf. «Ich bin sein Vater. Kommen Sie doch herein.» Er ging voraus durch die mit Schiefer ausgelegte Halle zum Wohnzimmer.

Ein Collie kam ihm schwanzwedelnd entgegen. «Platz, Prinzess», sagte Küsters, aber den Hund interessierte die Anweisung nicht.

Das Wohnzimmer war mindestens siebzig Quadratmeter groß und ausgesprochen geschmackvoll eingerichtet. Trotzdem hatte es eine kühle und unpersönliche Atmosphäre. Die teuren, skandinavischen Möbel stammten aus den frühen sechziger Jahren und waren damals avantgardistisch gewesen. Die Sessel glichen Regiestühlen, waren aus Teakholz und schwarzem Wildleder, der offene Kamin trug eine glatte, schnörkellose Kupferhaube, an den Wänden hingen blasse, abstrakte Ölgemälde. Der hintere Teil des Raumes wurde ausgefüllt durch einen großen, ovalen Glastisch mit acht schmalen Teakstühlen. Auch hier war der Boden aus Schiefer. Es gab keine Teppiche, keine Gardinen, nicht einmal Topfpflanzen, nur zwei moderne Granit-und-Stahl-Objekte vor den breiten Fenstertüren.

«Nehmen Sie Platz.» Küsters setzte sich.

Toppe versuchte linkisch, seine fast zwei Zentner in dem tiefen Sessel unterzubringen.

«Mein Sohn hat das Haus verlassen», sagte der Mann ruhig. «Warum möchten Sie ihn sprechen?»

«Wir haben einige Fragen an ihn im Zusammenhang mit einem Mordfall. Heißt das, Ihr Sohn ist ausgezogen?»

«Ja, vor etwa einem Jahr.»

«Und wie ist seine neue Adresse?»

«Er hat keine.» Die knappen Antworten standen in einem merkwürdigen Gegensatz zu den eigentlich freundlich und offen blickenden Augen des Mannes.

«Wissen Sie, wo wir ihn finden können?»

«Nein.»

«Vielleicht bei seiner Arbeitsstelle?»

«Mein Sohn hat keinen Beruf.»

«Würden Sie mir die Namen einiger seiner Freunde nennen?»

Fast erwartete Toppe die Antwort ‹mein Sohn hat keine Freunde›, aber der Mann lachte trocken auf. «Vielleicht versuchen Sie es einmal bei Otto Hetzel.»

«Herr Küsters, Otto Hetzel ist heute Mittag ermordet worden.»

«Wie bitte? Du lieber Gott.»

«Hatte Ihr Sohn engeren Kontakt zu Herrn Hetzel?»

«Es tut mir leid, ich weiß nicht, wie eng der Kontakt im letzten Jahr war.»

«Und vorher?»

«Da könnte man das wohl einen engeren Kontakt nennen.»

«Sie können mir also nicht weiterhelfen?»

«Nein», antwortete er bitter. «Ich habe lange nicht mehr mit meinem Sohn gesprochen. Vielleicht fragen Sie einmal bei den Leuten von der grünen Partei nach. Die wissen sicher mehr über ihn als ich. Tja», er stand auf.

Toppe erhob sich schnell.

«Wenn Ihr Sohn sich bei Ihnen meldet, richten Sie ihm bitte aus, dass wir mit ihm sprechen wollen.»

«Aber natürlich. Platz, Prinzess!»

Der Hund fegte Toppe zwischen die Beine.

Rudernd suchte Toppe Halt und verfing sich in einem der Sesselbeine. Krachend kippte der Sessel nach hinten. Toppe stöhnte auf, er hatte sich den Fuß verknackst.

«Entschuldigung.» Küsters stellte den Sessel wieder auf.

Toppe biss die Zähne zusammen und marschierte zur Haustür.

«Wie war noch Ihr Name?»

«Toppe.»

«Auf Wiedersehen, Herr Toppe.»

Leise fluchend humpelte er zu seinem Auto. Es hatte plötzlich angefangen zu regnen, und die Luft war voll von dem satten Geruch, der eintrat, wenn die ersten dicken Regentropfen auf staubigen, warmen Asphalt fielen. Aber er konnte ihn nicht genießen.

Auf dem linken Bein stehend schloss er die Autotür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. Er zog den rechten Schuh aus, legte den Fuß auf den Beifahrersitz und betastete ihn vorsichtig. Der Außenknöchel war bereits angeschwollen. Das konnte ja heiter werden. Schnell zog er den Schuh wieder an – wenn er noch länger wartete, würde er nie wieder reinkommen –, startete den Wagen und warf einen letzten Blick auf die Kupfertür, die jetzt wieder geschlossen war. Der Mann hatte sich so angehört, als sei sein Sohn bereits gestorben.

Ob er ihn rausgeworfen hatte?


Astrid machte einen wohltuenden Aufstand um seinen Fuß. Sie besorgte von irgendwoher ein nasses Handtuch, das sie ihm als kühlenden Umschlag um den Knöchel wickelte, und überredete ihn, das Bein hochzulegen.

So versorgt, las er van Gemmerns Bericht. Das Gift war tatsächlich in den Negerküssen gewesen. Die Packung hatte zwölf Negerküsse (van Gemmern schrieb ‹Schokoküsse›) enthalten, vier fehlten, alle übrigen acht waren mit Digitalis präpariert. Das Gift war offensichtlich mit einer feinen Kanüle hineingespritzt worden. Über die genaue Menge in den einzelnen Schokoküssen hatte van Gemmern nichts geschrieben. Das mussten die detaillierten Untersuchungen in Düsseldorf ergeben.

Sie tauschten ihre Ergebnisse aus.

«Ja, wo dieser Küsters steckt, habe ich auch nicht rausfinden können», sagte van Appeldorn, als Toppe seinen Bericht beendet hatte. «Das weiß anscheinend kein Mensch. Auch sonst geben die Informationen über ihn nicht viel her: penetrant, ungepflegt mit strengem Geruch, militanter Nichtraucher.»

Irgendwo in Toppe schlug eine Glocke an, aber er konnte den Klang nicht festhalten.

Heinrichs meldete sich zu Wort: «Christiane Baumgarten sagte auch, er wäre ihnen ganz schön auf die Nerven gegangen mit seinen Stänkereien wegen dem Rauchen. Tja, und sonst konnte sich keiner auch nur an das Geringste erinnern, was für uns von Wichtigkeit wäre. Ich meine, fast jeder hat uns von einem kleinen, persönlichen Streit erzählt, aber das ist alles ohne Belang.»

«Auch dat, wat der Dr. Baumgarten gesagt hat?», fragte Ackermann. «Is’ dat auch ohne Belang?»

«Also, ich sehe da nichts», sagte Heinrichs stur.

«Wieso, was war denn?», fragte Toppe.

«Ach, da hat es wohl einen sehr lauten Krach gegeben zwischen dem Müller und Jochen Reuter. Es ging um einen Anteil, den der Reuter nicht bezahlen wollte. Aber es tut mir leid, ich sehe da beim besten Willen kein Mordmotiv.»

Breitenegger gähnte herzhaft. «Ich habe das Foto nach Düsseldorf gefaxt. Die Kollegen dort wollen morgen früh mit Reuters Freundin sprechen, über die Fahrt nach Worcester und Otto Hetzel.»

«Gut.» Toppe nahm vorsichtig seinen lädierten Fuß vom Schreibtisch, er kam sich in dieser Position zu albern vor. «Willst du nicht nach Hause gehen, Günther? Du siehst etwas mitgenommen aus. Wir anderen müssen ja leider noch unsere Berichte schreiben.»

Breitenegger brummte etwas Ablehnendes.

«Doch, geh ruhig. Du musst morgen früh fit sein. Was meinst du, was hier los sein wird, wenn die Zeitungen erst raus sind.»

«Wir werden um eine längere Pressekonferenz nicht herumkommen.» Breitenegger reckte sich und grinste. Er kannte Toppes Abneigung gegen die Presse nur zu gut. «Und diesmal bestimmt überregional», fügte er gut gelaunt hinzu.

«Du scheinst dich ja richtig drauf zu freuen», stellte Toppe fest und rieb sich ächzend seinen schmerzenden Knöchel.

Grenzgaenger
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