Sechzehn
«Das verbindende Element ist die Fahrt nach Worcester», beharrte Heinrichs.
«Das mag ja sein, aber vielleicht hatte Otto Hetzel auch noch in anderen Bereichen mit Reuter und Bruikelaer zu tun.» Van Appeldorn zündete sich eine neue Zigarette an der Glut der letzten an.
Breitenegger telefonierte leise im Hintergrund.
Astrid und Ackermann hatten ihre Stühle unter dem Fenster bis ganz an die Wand geschoben. Wenn alle gleichzeitig im Büro waren, wusste man sich kaum zu bewegen. Trotzdem marschierte Toppe mit gesenktem Kopf zwischen seinem Schreibtisch und dem Fenster hin und her. Ab und an fuhr er sich durch den Bart.
«Aber Reuter und Bruikelaer hatten außer über die Bigband nichts miteinander zu tun, soweit wir das bis jetzt ermitteln konnten», unterbrach er van Appeldorn. «Und Otto Hetzel hat ja nicht in der Bigband gespielt. Aber er war mit in Worcester. Diese Fahrt ist im Moment unser einziger Anhaltspunkt. Wir müssen uns auf jeden Fall ausführlich damit beschäftigen», sagte er bestimmt.
«Das heißt, wir müssen die ganze Bigband noch einmal befragen.» Heinrichs zeigte wenig Begeisterung.
Breitenegger legte den Hörer auf und klopfte seine Pfeife im Aschenbecher aus.
«Zum Toten», begann er: «Otto Hetzel, Jahrgang 50, Studienrat an den berufsbildenden Schulen am Weißen Tor, Fachbereich Sozialpädagogik. Außerdem Kreistagsabgeordneter der Grünen. Seit zweieinhalb Jahren geschieden, drei Kinder.»
«Mehr hast du nicht?» Toppe setzte sich.
«Nein, leider nicht. Ein unbescholtener Bürger. Aber vielleicht hilft der Fachbereich Sozialpädagogik weiter.»
«Hast du eigentlich schon mit seiner früheren Frau gesprochen, Helmut?», fragte van Appeldorn.
Toppe nickte. «Ja, ich bin ganz kurz zu ihr hochgegangen, weil ich mich ein bisschen gewundert habe, dass sie sich nicht blicken ließ, als wir noch im Haus waren und als die Leiche abtransportiert wurde. Sie sagte, sie wolle nicht, dass die Kinder das alles sehen. Die waren tatsächlich sehr verstört. Die Frau übrigens auch. Sie will ins Präsidium kommen, sobald die Kinder im Bett sind und sie jemanden gefunden hat, der bei ihnen bleibt. Wohl so gegen neun, meinte sie.»
Van Appeldorn verkniff sich eine Bemerkung. Wenn Toppe die Frau gleich befragt hätte, wären sie jetzt vielleicht schon ein Stück weiter. Aber das war typisch Toppe, immer rücksichtsvoll, zu rücksichtsvoll für seine Begriffe.
«Un’ wat machen wir bis dahin?», fragte Ackermann. «Wer können doch nich’ die ganze Zeit Löcher inne Luft starren.»
Toppe gab ihm im Stillen recht.
Er war froh, dass das Telefon klingelte. Es war Bonhoeffer.
«Also, pass auf, Helmut, der Herzmuskel befindet sich in kontrahiertem Zustand, der Natriumgehalt ist erhöht, der Kaliumgehalt deutlich vermindert und, ach was, kurz und gut: Es handelt sich um eine Digoxinvergiftung.»
«Und was heißt das?»
«Der Mann hat eine hohe Dosis Digitalis zu sich genommen, und das hat schließlich zum Herzstillstand geführt.»
«Hat er das geschluckt?»
«Ja, zusammen mit diesem Eiweiß-Zucker-Gemisch und einer geringen Menge Alkohol.»
«Negerküsse und Sherry.»
«Kann schon sein, aber ich habe kein Atropin und kein Scopolamin gefunden.»
«Das ändert nichts. Die Fingerspuren am Tatort sind dieselben wie bei den beiden anderen Fällen.»
«Der Tote könnte das Medikament in suizidaler Absicht genommen haben. Das kommt bei Digitalis häufiger vor. Es gibt keine Anzeichen von Gewaltanwendung bei der Leiche.»
«Wann ist der Tod eingetreten?»
«So zwischen dreizehn und vierzehn Uhr.»
«Und wann hat er das Gift genommen?»
«Das ist schwer genau einzugrenzen. Zwischen neun und zwölf, näher kann ich mich nicht festlegen.»
«Wieder dieser Atropin-Cocktail?», wollte Heinrichs wissen, als Toppe aufgelegt hatte.
«Nein, Digitalis. War vielleicht im Sherry oder in den Negerküssen.»
Astrid schlug die Augen gen Decke. «Ich wünschte wirklich, Sie würden nicht immer ‹Negerküsse› sagen.»
Toppe zog verständnislos die Brauen zusammen.
«Schokoküsse», korrigierte sie sanft.
«Schokoküsse», wiederholte Toppe, noch immer verwirrt.
«Von wegen der Diskriminierung, Mann», erklärte van Appeldorn ironisch. «Ich bin Ihnen dankbar, dass wir nicht ‹Nelson-Mandela-Solidaritätsgebäck› sagen sollen. Den Vorschlag habe ich nämlich neulich auch irgendwo gelesen.»
Toppe rief beim ED an.
«Berns?»
«Toppe hier. Könnt ihr euch wohl mal die Schokoküsse genauer ansehen? Bonhoeffer sagt, der Mann ist an einer Digitalisvergiftung gestorben. Digoxin.»
«Schokoküsse?»
«Ja, die Negerküsse.»
«Ach so, van Gemmern ist gerade dabei. Der Sherry ist übrigens in Ordnung. Kein Atropin oder so.»
«Gut.»
«Mich würde ja brennend interessieren, warum dieser Typ seine Methode geändert hat», sagte Heinrichs.
«Vielleich’ is’ se ihm zu langweilig geworden», flachste Ackermann.
«So anders ist die Methode doch gar nicht», fand Toppe. «Genau wie bei den beiden anderen: gut vorbereitet, sauber, unblutig, intelligent.»
«Völlig ruhig und kaltblütig und wieder mit Fingerspuren», ergänzte van Appeldorn.
«Ich kann mir nicht helfen», warf Heinrichs ein, «aber glaubt mir, der Typ ist ein Krimifan. Das sind lauter ausgefallene Methoden, die der irgendwo gelesen hat und jetzt selbst ausprobiert, und zwar ganz sorglos, fast wie ein Spiel.»
«Vielleicht ist es einfach ein Verrückter, der sich seine Opfer ganz zufällig aussucht», schlug Astrid schaudernd vor.
«Nein», wehrte Toppe ab, «so, wie es aussieht, haben die Opfer ihn alle gekannt. Keine Gewaltanwendung. Und es gibt ja tatsächlich eine Verbindung zwischen den Opfern, wenn wir auch noch nicht genau wissen, wie alles zusammenhängt.» Er nahm das Foto zur Hand.
«Ich möchte wissen, wer diese beiden Leute hier sind. Und wer sonst noch mitgefahren ist. Herr Ackermann, würden Sie im Labor ein paar Kopien von dem Foto machen lassen?»
«Klar, Chef, mach ich, klar.»
«Dann wollen wir mal loslegen.» Van Appeldorn suchte die Bigbandliste heraus.
Sie teilten sich ein: Toppe und Breitenegger wollten mit Frau Hetzel sprechen. Die eine Hälfte der Bigband übernahmen Heinrichs und Ackermann, van Appeldorn und Astrid wollten zunächst den Orchesterleiter befragen und danach die andere Hälfte der Musiker.
«Und morgen müssen wir noch einmal mit Reuters Freundin und Bruikelaers Kollegen sprechen, ob die etwas von dieser Worcester-Reise wissen», sagte Toppe noch.
Karin Hetzel war vierzig Jahre alt und arbeitete als freie Fotojournalistin. Seit fast vier Jahren war sie alleinerziehend. Leise und ruhig gab sie ihre Personalien an. Sie war hübsch, mittelgroß und schlank mit dunklen, kurzen Locken. Ihr eigentlich etwas kantiges Gesicht wirkte freundlich durch die warmen, dunklen Augen und den großen Mund.
Sie hatte geweint, und als Toppe sie fragte, wann sie den Toten gefunden habe, zog sie wieder ein Taschentuch aus der Jackentasche und presste es gegen die Augen. Toppe war ein bisschen verwundert. Sie trauerte wirklich. Er dachte an Jochen Reuters Mutter und die Freundin.
«Es tut mir leid», sagte sie, «ich komme mir immer noch vor wie in einem bösen Traum.»
Aber dann fasste sie sich ein wenig. «Ich bin um halb zwei runtergegangen, weil ich ihn fragen wollte, ob er Sebastian zum Schwimmen fahren konnte. Ich hatte um drei einen Termin. Und als ich ins Wohnzimmer kam, saß er tot im Sessel.»
Sie schluckte.
«Hatten Sie einen Schlüssel zur Wohnung, oder war die Tür offen?»
«Die Tür war angelehnt, wir schließen unsere Wohnungen nie ab. Aber ich habe auch einen Schlüssel.»
«Hatte Ihr früherer Mann morgens Unterricht gehabt?»
«Nein, donnerstags hat er frei in diesem Halbjahr.»
«Er war also vormittags zu Hause?»
«Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, ja. Als ich um halb elf vom Einkaufen kam, war sein Wagen da.»
«Hatte Ihr Mann morgens Besuch?»
«Ich habe niemanden gesehen, aber es kann schon sein. Ich achte nicht darauf.» Sie zögerte. «Herr Toppe? Woran ist mein Mann gestorben?»
«An einer Digitalisvergiftung. Wir sind ziemlich sicher, dass er ermordet worden ist.»
«Von wem?»
«Ja, das ist unser Problem. Wir wissen es nicht.»
Sie sah durch Toppe hindurch und schüttelte langsam den Kopf.
«Wer sollte Otto umbringen wollen …?»
«Wir haben gehofft, Sie könnten uns weiterhelfen.»
«Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Gerade Otto. Der hat doch für jeden sein letztes Hemd gegeben. Das war’s doch gerade.»
«War was gerade?»
«Ach, das gehört wohl nicht hierher, aber das war’s, woran unsere Ehe letztendlich zerbrochen ist.»
«Würden Sie mir Ihren Mann beschreiben?»
Sie sah lange auf ihre Hände, die sie um das Taschentuch gefaltet hatte.
«Wissen Sie», fing sie leise an, «ich habe ihn einmal einen ‹Gefühlskommunisten› genannt: immer auf der Seite der Getretenen. Für alle da, rund um die Uhr. Er konnte nie ‹nein› sagen. Er merkte es nicht einmal, wenn die Leute ihn schamlos ausnutzten. Und wenn ich ihn darauf hinwies, zuckte er nur die Schultern. Wir hatten so gut wie kein Familienleben. Am Anfang ist mir das gar nicht so aufgefallen, aber ständig wohnte irgendein Schmarotzer bei uns. Einer hat sogar mal für dreihundert Mark von unserem Apparat aus telefoniert. Und als ich das Geld von ihm haben wollte, da war er noch empört und fand das unsozial. Und Otto hat solche Leute noch unterstützt und verteidigt. Die Typen haben geklaut wie die Raben, die Kinder bedroht, und Otto fand das alles immer verzeihlich. Wochenlang hatten wir oft kein Auto, weil sich das irgendwer dringend ausleihen musste. Wenn jemand in einer sogenannten Notlage war, genügte ein Anruf, und Otto sprang. Selbst bei Sebastians Geburt war er nicht dabei, weil er mal wieder woanders den Samariter spielte. Es ging einfach nicht. Die Scheidung war die einzige Lösung. Schon allein, um die Kinder zu schützen. Und um endlich ausreichend Geld zu haben, uns über die Runden zu bringen. Denn als das Geld plötzlich ‹Unterhaltszahlung› hieß, da war regelmäßig genug da. Da fühlte er sich dann auch mal für uns verantwortlich und nicht nur für all die armen, von der bösen Welt so schmählich Gebeutelten.»
«Sie haben …», aber Toppe unterbrach sich selbst.
«Ja, natürlich habe ich ihn noch liebgehabt. So was kann man doch nicht einfach abstellen. Er war ja auch liebenswert, nur eben keiner, mit dem man zusammenleben konnte. Nicht einmal überleben.»
«Wie alt sind Ihre Kinder?»
«Katharina ist dreizehn, Lisa ist zehn und Sebastian gerade sechs.»
«Hatten die Kinder noch regelmäßig Kontakt zu ihrem Vater?»
«Ja, natürlich. Wir haben uns, so gut es ging, gemeinsam um sie gekümmert. Wir haben auch ein gemeinsames Sorgerecht. Es sind die einzigen Kinder, die ich kenne, die nicht unter der Scheidung gelitten haben. Vermutlich, weil Otto vorher sowieso nie da war, und wenn, war er immer mit einem anderen Menschen beschäftigt.»
«Aber Sie hatten jetzt getrennte Haushalte?»
«Ja, sicher, sonst wäre das ja alles völlig absurd gewesen. Nein, wir sind schon getrennte Wege gegangen.»
«Aß Ihr Mann gerne Negerküsse?»
Sie stutzte. «Wie kommen Sie denn darauf?»
«Es standen welche auf dem Tisch neben dem Sessel.»
«Ja? Er war verrückt nach Schokoküssen. Schon immer.»
«War das bekannt?»
«Ja, natürlich. Jeder, der ihn kannte, wusste das. Er bekam oft welche geschenkt. So als ‹Dankeschön› von seinen ‹Schützlingen›. War das Gift in den Schokoküssen?»
«Das wissen wir noch nicht sicher. Ihr Mann war im März in Worcester?»
«Ja, für eine Woche. Er ist Vorsitzender dieser Städtepartnerschafts-Initiative.»
«Wer ist denn da alles mitgefahren?»
«Die Bigband der Kreismusikschule. Aber sonst? Ich weiß nicht … Meinen Sie …», sie sah ihn aus weiten Augen an, «meinen Sie, dies hat was mit den beiden Morden an den Bigband-Musikern zu tun?»
«Ja. Hat Ihr Mann Ihnen von der Reise erzählt?»
«Wenig.» Sie wirkte verstört. «Ich war auch nicht so sehr interessiert.»
«Ist irgendetwas Besonderes vorgefallen auf dieser Reise?»
«Was meinen Sie? Ich wüsste nicht.»
Toppe stand auf. «Möchten Sie auch einen Kaffee?»
«Ja, bitte. Darf ich rauchen?»
«Natürlich.» Er schob ihr den Aschenbecher hin und wollte hinausgehen zum Kaffeeautomaten.
«Lass nur, ich gehe schon.» Breitenegger war die ganze Zeit so still gewesen, dass sie seine Anwesenheit vergessen hatten. Toppe zündete sich auch eine Zigarette an.
«Sehen Sie sich mal dieses Foto an. Das ist auf der Worcester-Fahrt aufgenommen worden.»
Sie betrachtete das Foto. «Ja, das habe ich damals in der Zeitung gesehen.»
«Wer ist die Frau rechts?»
«Das? Das ist Grete Müller, die Frau vom Bandleader. Und neben ihr, den kenn ich auch nur allzu gut: Carl Küsters, auch einer von Ottos Schützlingen. Das war übrigens der mit den dreihundert Mark Telefonkosten.»
«Und was hat der mit der Bigband zu tun?»
«Nichts, soweit ich weiß. Keine Ahnung, warum der mitgefahren ist. Vielleicht von der Partei aus, der ist auch bei den Grünen.»
Breitenegger kam mit dem Kaffee, und sie nahm einen großen Schluck. «Aber die Todesursache war Herzversagen, nicht wahr?»
«Ja.»
«Halten Sie es für möglich, dass Ihr Mann das Gift freiwillig genommen hat?», schaltete sich Breitenegger ein.
«Sie meinen Selbstmord? Nein, ganz bestimmt nicht.»
«Und Sie haben an ihm keine Veränderung festgestellt in den letzten Tagen? Stand er unter besonderem Druck?», beharrte Breitenegger.
«Nein», antwortete sie nur.
Toppe sagte nichts.
Karin Hetzel wurde unruhig.
«Haben Sie noch Fragen an mich? Ich mache mir Sorgen um die Kinder. Meine Mutter ist zwar bei ihnen, aber trotzdem.»
«Ja, natürlich.» Toppe stand auf und gab ihr die Hand. «Im Moment habe ich keine Fragen mehr. Und wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann melden Sie sich bei mir.»
Sie ging leise hinaus.
«Eine sehr nette Frau», sagte Breitenegger.
«Ja, das finde ich auch.» Toppe blickte nachdenklich ins Leere.
«Dann wollen wir mal sehen, dass wir diesen Carl Küsters auftreiben.»
«Wen?», fragte Breitenegger. Toppe erzählte es ihm.