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Fünfzehn

Diesmal fuhr Toppe selbst.

Er brauchte das Haus nicht lange zu suchen. Vor dem Eingang, halb auf der Straße, standen van Appeldorns Wagen, zwei Polizeiautos und jede Menge Schaulustige. Immer noch strömten vom Supermarkt her Menschen über die Straße. Ein einsamer Streifenpolizist versuchte, den Verkehr auf der Durchgangsstraße nach Emmerich im Fluss zu halten.

Toppe stellte sein Auto schräg auf dem Fahrradweg ab und eilte auf den Eingang zu.

Es war ein hübsches Haus, ein renovierter Bauernhof, der jetzt zwei Familien Platz bot.

Van Appeldorn kam ihm in der Halle entgegen und hob beschwichtigend die Hände, als er Toppes Gesicht sah.

«Reg dich ab, Helmut. Diesmal ist es kein Mord. Ganz einfach Tod durch Herzversagen.»

Toppe stieß hörbar die Luft aus. «Gott sei Dank. Wer hat den Tod festgestellt?»

«Der Notarzt. Er ist gerade weg.»

Toppe ging auf die offene Tür zu, die zum Wohnzimmer führte. «Und warum hat der die Kripo gerufen?»

«Es lag keine Vorerkrankung vor, und da wollte er sichergehen. Aber ich habe nichts gefunden, was auf eine Gewalttat hinweist, und diesmal habe ich verdammt genau hingeguckt. Aber sieh selbst.»

«Wer hat den Toten gefunden?», fragte Toppe automatisch.

«Seine Exfrau, die wohnt oben.»

Draußen hielt wieder ein Auto.

«Wird der Leichenwagen sein», meinte van Appeldorn.

Toppe trat ins Wohnzimmer und sah sich um, Astrid folgte ihm.

In der rechten Zimmerecke saß in einem Ohrensessel der Tote mit zurückgelegtem Kopf. Toppe ging einen Schritt näher heran und kniff die Augen zusammen. Er erstarrte, dann drehte er sich abrupt um.

«Warte noch, Norbert», sagte er mit steifen Lippen. «Ich bin sofort wieder da. Und lass den Toten hier. Verändere nichts.»


Er stürmte zurück ins Büro, drängte die Leute zur Seite, hastete an seinen Schreibtisch und nahm ein Foto von dem Stapel, den er gestern Abend durchgesehen hatte. Dann stand er eine Weile still und starrte auf das Foto in seiner Hand.

«Was ist los, Helmut?», fragte Breitenegger alarmiert.

«Der Teufel», antwortete Toppe. «Der ED soll rauskommen zur Emmericher Straße.»

Dann lief er hinaus.


Van Appeldorn und Astrid warteten in der Halle auf ihn. Ein Zinksarg versperrte die Tür zum Wohnzimmer. Toppe räusperte sich nervös.

«Der Tote ist O. Hetzel.»

Van Appeldorn sah ihn fast mitleidig an.

«Na und?», bemerkte er schließlich. «Das weiß ich. Otto Hetzel.»

Toppe hielt ihm das Foto unter die Nase. «Otto Hetzel war mit der Bigband in Worcester.»

«Das kann doch nicht wahr sein!» Van Appeldorn drehte sich um und schob den Zinksarg zur Seite. Toppe folgte ihm.

So langsam hatte er sich wieder unter Kontrolle.

Es war ein gemütliches Zimmer mit einem offenen Kamin aus Natursteinen, hohen Bücherregalen an den Wänden, verblichenen Perserteppichen auf Holzdielen, zwei alten Ledersofas und dem Ohrensessel in der Ecke. Der Tote hatte beide Hände auf die Sessellehnen gelegt, und nur sein panischer Gesichtsausdruck störte die friedliche Atmosphäre.

«Herzversagen», murmelte Toppe.

Neben dem Ohrensessel stand ein kleiner antiker Tisch. Darauf eine Flasche Sherry, zwei Gläser – in beiden war noch ein Rest – und eine Schachtel Negerküsse, die überhaupt nicht ins Bild passte.

Toppe sah van Appeldorn an und öffnete den Mund.

«Ja, ist gut, ich rufe den Staatsanwalt an», meinte van Appeldorn und verschwand.

Berns kam allein. «Was ist los?»

«Der Tote soll an Herzversagen gestorben sein, sagt der Notarzt. Der Mann hatte aber mit der Bigband zu tun.»

Berns warf Toppe einen zweifelnden Blick zu. «Sie glauben doch nicht etwa, dass wir schon wieder einen Mord haben?» Aber dann sah er sich doch im Zimmer um.

«Tja, dann wollen wir mal gucken, ob wir was finden.»

Van Appeldorn tippte Toppe auf die Schulter. «Von Stein aus geht alles klar. Wie geht’s jetzt weiter?»

Toppe gab sich einen Ruck. Wenn der Staatsanwalt die Obduktion angeordnet hatte, musste einer von ihnen als Anerkennungszeuge dabei sein. Toppe hasste es, aber diesmal würde er sich überwinden, er wollte dabei sein.

«Okay, ich fahre mit», sagte er. «Ihr fahrt zurück zum Präsidium und seht zu, dass ihr den Laden wieder in den Griff kriegt.»


«Dass du dich mal traust!» Bonhoeffer klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und ging dann voraus.

Dr. Stein wartete schon an der Tür. «Was ist denn bloß los bei euch in den letzten Tagen? Man kommt ja zu nichts anderem mehr», schimpfte er gutwillig.

«Wem sagen Sie das?»

Sie unterhielten sich leise im Hintergrund, während Bonhoeffer arbeitete.

Toppe versuchte, sich vorzustellen, er säße in einem sonnigen Café und es duftete nach Erdbeertorte und heißem Kakao.

Es dauerte nicht lange. Bonhoeffer kam zu ihnen hinüber, die Handschuhe noch an den Händen. Toppe schauderte.

«Tja.»

«Was?», fragte Toppe.

«Merkwürdig ist das schon. Ich finde am Herzen überhaupt keine Infarktzeichen, keinen Thrombus in der Koronararterie, keinen ischämischen Bezirk im Herzmuskel, keinen Embolus in der Lungenarterie, keinen Herzklappenfehler. Und das Herz ist auch in keiner Weise vorgeschädigt, soweit ich das makroskopisch beurteilen kann. Aber eine sonstige Todesursache finde ich auch nicht. Im Mageninhalt war Alkohol in einem komischen Eiweiß-Zucker-Gemisch.»

«Negerkuss», schlug Toppe vor.

«Könnte sein», antwortete Bonhoeffer.

«Der dritte Mord», sagte Toppe.

«Ach was, Herr Toppe», protestierte Stein, «sehen Sie da nicht Gespenster?»

«Nun warte erst mal ab», beschwichtigte ihn auch Bonhoeffer. «Ich setze mich jetzt an die Analysen und rufe dich später an.»

«Wetten?» Toppe ging hinaus, ohne sich zu verabschieden.


«Auf ’m Sherryglas un’ auf ’m Negerkusskarton sind dieselben Fingerspuren wie auf ’m Stuhl bei der Bruikelaer un’ auf ’er Spritze beim Reuter», kam Ackermann mit schriller Stimme allen anderen zuvor, als Toppe zurückkehrte.

Der nickte nur. «Bonhoeffer findet keinen Hinweis auf normales Herzversagen.»

«Na, dann prost», bemerkte Breitenegger trocken. Er hatte es geschafft, alle Leute aus dem Büro zu verbannen. Jeder nicht wichtige Anruf wurde von jetzt ab von der Zentrale abgeblockt. Zufrieden stopfte er seine Pfeife.

«Vorschlag von mir», sagte er. «Kleine Pause für uns alle. Es ist jetzt halb sechs. Wenn wir uns um halb acht wieder hier treffen, haben wir vielleicht alle einen klareren Kopf. Was meinst du, Helmut?»

Toppe setzte sich erst gar nicht. «Gute Idee. Also dann, um halb acht.»

Heinrichs telefonierte mit seiner Frau – es lohnte sich nicht, für die kurze Zeit nach Hause zu fahren – und ging dann mit Ackermann und Astrid, denen die Aufregung in den Knochen steckte, ins Steakhaus um die Ecke.

Breitenegger fuhr nach Hause und unternahm mit seiner Frau und seinem Dackel einen Spaziergang, bei dem alle drei einmütig schwiegen.

Toppe spielte mit seinen Söhnen eine Runde Fußball auf der Schafwiese und aß dann mit Gabi und den Kindern vor der ‹Sendung mit der Maus› ein paar Brote.

Van Appeldorn wusste nicht so recht, was er tun sollte, entschied sich dann aber, wenigstens in die Wohnung zu fahren, um zu duschen.

Als er ins Schlafzimmer kam, stand Marion nackt vor dem Schrank und nahm ein Handtuch heraus.

«’tschuldigung», murmelte er und wollte wieder hinausgehen, aber dann war er mit einem Schritt bei ihr, fasste sie um die Taille und fuhr mit seiner Hand über ihre rechte Brust.

Sie packte sein Haar, zog seinen Kopf nach hinten und küsste ihn hart und gierig, drängte ihn zurück, bis er mit den Kniekehlen gegen das Bett stieß und hintenüberfiel.

«Marion!» So benahm sie sich sonst nicht.

Sie öffnete den Reißverschluss seiner Hose und zog sie mit einem Ruck herunter.

«Halt den Mund», zischte sie und setzte sich auf ihn.

Ihre Wildheit machte ihn verrückt, sodass er heftiger war, als er eigentlich sein wollte. Sie schrie, als sie kam.

«Es tut mir leid.» Er streichelte sie. «Das war bestimmt nicht so gut jetzt. Meinst du, das schadet nichts?»

«Was?», murmelte sie mit geschlossenen Augen.

«Dem Kind?»

«Quatsch!» Sie küsste ihn auf die Brust. «Was hältst du davon, wenn wir eine Münze werfen?»

Er wusste sofort, was sie meinte. Er hatte auch schon an so etwas gedacht.

«Bist du sicher?», fragte er.

«Ja, es ist am gerechtesten so, oder?»

Er stützte sich auf den Ellenbogen und sah sie an. «Aber das gilt dann auch, ohne Wenn und Aber?»

«Ja, bist du dazu bereit?»

Er seufzte tief. «Ich sehe keine andere Möglichkeit.»

«Wollen wir es jetzt gleich tun?» Sie war aufgeregt, stand auf, ging hinaus und suchte in ihrer Handtasche nach einer Münze. Mit einem Zweimarkstück kam sie zurück.

«Wer wirft?»

Er versuchte, das Flattern in seinem Magen zu unterdrücken.

«Was nimmst du denn? Kopf oder Zahl?»

«Kopf», sagte sie. «Wenn Kopf kommt, bleibe ich zu Hause und kümmere mich um das Kind, wenn Zahl kommt, nimmst du den Erziehungsurlaub.»

«Okay, wirf du.»

Sie schluckte und sah ihn an. Dann warf sie das Geldstück hoch in die Luft. Es drehte sich ein paarmal, stieß gegen die Decke und landete zwischen den Kopfkissen.

«Kopf», sagte van Appeldorn heiser.

Sie umarmte ihn. Er hielt sie fest. Sie weinte nicht.

Grenzgaenger
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