Vierzehn
Breitenegger wedelte mit der Zeitung, als Toppe am nächsten Morgen ins Büro kam.
«EINE STADT IN PANIK – DER MUSIKERMÖRDER GEHT UM», lautete die Schlagzeile.
«Na, das kann ja heiter werden», knurrte Toppe.
«Ist es schon», meinte Breitenegger gelassen. «Der Chef war schon da, und ich hatte schon vier Anrufe aus der Bevölkerung.»
Wie zur Bestätigung klingelte jetzt das Telefon, und Breitenegger nahm ab.
Van Appeldorn saß still an seinem Schreibtisch. Er war blass.
Astrid goss aus einer Kaffeetasse Wasser auf den Lavendel auf der Fensterbank.
Heinrichs blätterte in seinen Berichten.
Ackermann stolperte ins Zimmer. Er trug die Bildzeitung wie ein Banner vor sich her. «Wir sind die Sensation, Jungs», rief er und strahlte.
«Ja, leider.» Toppe zog sich seinen Stuhl heran.
«Setz dich, Ackermann», murmelte van Appeldorn müde und dann: «Was hast du jetzt vor, Helmut?»
«Ich will gleich los nach Bonn, diesen Markus Versteyl befragen. Wie viele habt ihr noch auf eurer Liste?»
«Zwei», antwortete van Appeldorn. «Wenn bei denen allerdings genauso wenig herauskommt wie bei den anderen, stehen wir ganz schön auf dem Schlauch.»
«Ach wat!» Ackermann ließ sich nicht beunruhigen. «Dann knöpfen wer uns die Nachbarn von Reuter ma’ so richtig vor, und danach gehn wer alle schön auf Dienstreise. Is’ doch auch wat.»
Toppe bedachte ihn mit einem langen Blick, und Ackermann sah verlegen auf seine Schuhspitzen.
«Tja, ich fahr dann los.» Toppe stand auf. «Haben Sie Lust, mich zu begleiten, Astrid?»
Darauf hatte sie offensichtlich gewartet, denn sie war schon vor ihm an der Tür.
Astrid bot an, mit ihrem Wagen zu fahren, was Toppe zögernd annahm. Einerseits war er froh, denn bei seinem Auto konnte man nicht wissen, ob es noch bis Bonn durchhielt. Andererseits war ihm immer ein bisschen unwohl, wenn er sich von einem anderen über längere Strecken chauffieren lassen musste. Aber Astrid fuhr ruhig und sicher.
Toppe machte es sich bequem, sie hatten gute zwei Stunden Fahrt vor sich.
«Gut, dass wir heute fahren», meinte Astrid, «morgen ist bestimmt der Teufel los.»
«Wieso?»
«Pfingstverkehr.»
«Ach ja, Pfingsten. Das hatte ich inzwischen ganz vergessen.»
«Ich leider nicht. Ich wollte eigentlich mit meinem Freund wegfahren. Aber da wird ja wohl nichts draus.»
«Nein, sieht nicht danach aus.» Toppe zog seine Eckstein aus der Hemdtasche. «Wollen Sie auch eine?»
«Gern.» Sie lächelte, sah aber weiter nach vorn.
Er zögerte, aber dann zündete er zwei Zigaretten an und reichte ihr eine hinüber.
«Danke. Sagen Sie, wie lange machen Sie diesen Job eigentlich schon?»
«Bei der Kripo? Eine ganze Weile, fast zwölf Jahre.»
«Und es hat Ihnen nie was ausgemacht, dass Sie zwischendurch vergessen, ob Pfingsten ist oder Weihnachten?»
«Na ja, es ist ja nicht immer so», gab er vage zurück.
«Aber doch ziemlich oft», beharrte Astrid.
«Ich glaube, man gewöhnt sich einfach daran.»
«Aber da bleibt doch einiges auf der Strecke, oder? Hobbys und Familie und so, meine ich.»
«Schon.» Er dachte nach. «Ich glaube, man reduziert seine Interessen zwangsläufig auf die, die einem wirklich wichtig sind. Aber es stimmt schon, es ist sicher ein Beruf, der einen ganz schön fordert. Vielleicht ist das für mich auch das Reizvolle daran, ich weiß nicht.» Er grübelte. Ob das in anderen Berufen anders war?
«Was ist mit Ihnen», fragte er, «warum wollen Sie denn zur Kripo?»
«Ich schätze, es ist ähnlich. Ich wollte einen Beruf, wo man nicht tagein, tagaus den gleichen öden Quatsch macht.» Sie lachte ein wenig unsicher. «Ziemlich romantisch, was?»
Er feixte. «Na ja, mittlerweile haben Sie ja selbst gesehen, wie viel langweiliger Routinekram auch dazugehört …»
«Sicher, trotzdem ist dieser Beruf vielseitig: Man muss nicht nur präzise arbeiten, über ein gutes Gedächtnis und logisches Denken verfügen, sondern auch noch eine gehörige Portion Kreativität und Phantasie mitbringen.» Sie unterbrach sich selbst und lachte. «Wie auf einer Werbeveranstaltung der Polizei.»
«Ja, wenn ich Sie höre, dann müsste ich mich jeden Tag wieder für die Kripo entscheiden. Hat’s denn bei Ihnen keinen anderen Beruf gegeben, der Sie interessiert hat?»
«Doch, schon. Nach dem Abi hab ich eine Goldschmiedelehre angefangen. Ich war immer ganz gut in Kunst. Aber irgendwie war das dann doch nichts. Ich weiß nicht genau.»
«Und Ihre Eltern?»
«Meine Eltern? Die ‹von Steendijks› und Fabrikbesitzer und so, meinen Sie das? Ach was, die sind gar nicht so. Die hätten es schon lieber gesehen, wenn ich studiert hätte, aber im Grunde lassen die mich machen. Die sind eigentlich ganz okay.»
Toppe drückte seine Zigarette aus.
«Wann haben Sie denn Ihre letzte Prüfung?»
«Die schriftlichen habe ich alle hinter mir. In vierzehn Tagen kommen die mündlichen und dann … tja.»
«Mit Stellen sieht es im Moment nicht gerade rosig aus.»
«Nein, und erst recht nicht für Frauen, ich weiß schon. Mir ist klar, was da alles so im Argen liegt, auch, oder vielleicht gerade, bei der Polizei. Erlebe ich ja auch täglich vor Ort im Kleinen. Aber das muss ja alles nicht so bleiben», fügte sie trotzig hinzu. «Und ich bin auch gerade der ‹Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizisten› beigetreten.»
«Hm.»
«Finden Sie das nicht gut?»
«Doch, sicher. Ich habe bloß keine Ahnung, was die eigentlich konkret machen. Würden Sie mir mal was von denen zeigen?»
«Ja, klar, gerade so Leute wie Sie, Hauptkommissare und so, die könnten wir gut gebrauchen.»
Toppe lächelte schief. ‹So Leute wie er› hatten zu viele Illusionen verloren und zu viele Federn gelassen, waren zu froh über jedes Schäfchen, das sie im Trockenen hatten, um noch einmal an vorderster Front zu kämpfen, oder? Er hatte lange nicht mehr darüber nachgedacht.
«Wollen Sie das Gespräch mit Markus Versteyl führen?», wechselte er das Thema.
«Ich?» Sie errötete, aber es war keine Furcht. «Ja, gern, wenn Sie meinen, ich kann das.»
Sie machte ihre Sache nicht schlecht. Die eine oder andere Frage hätte Toppe sich vielleicht erspart, nachdem ziemlich schnell klar war, dass Markus Versteyl nichts mit José Bruikelaer und Jochen Reuter zu tun gehabt hatte, aber Astrid war gründlich.
Markus Versteyl war kaum noch in Kleve. Er kam lediglich zu den Auftritten der Bigband herüber, nicht einmal an den regelmäßigen Proben nahm er teil. Ja, nach Worcester war er mitgefahren, war ja in den Semesterferien gewesen. Astrid fragte nach seinen Alibis für die beiden Tatzeiten. Versteyl blieb sachlich. Er hatte einen festen Job in einer kleinen Jazzkneipe in Bonn, wo er am Samstag- und Montagabend ab 19 Uhr gespielt hatte. Zwei Musiker aus dem Uni-Orchester bestätigten das. Einen eigenen Wagen hatte er nicht.
«Trotzdem», meinte Astrid, als sie zum Auto zurückgingen, «er könnte sich einen Wagen geliehen haben und dann hätte er es immer noch schaffen können, wieder um sieben in Bonn zu sein.»
«Möglich», sagte Toppe, «aber ist das wahrscheinlich?»
Astrid sah ihn fragend an.
Er hob die Schultern. «Ich meine, haben Sie das Gefühl, dass er irgendetwas mit den Morden zu tun hat?»
Sie runzelte die Stirn. «Nein, vom Gefühl her würde ich sagen, er hat überhaupt nichts damit zu tun. Er schien wirklich nicht einmal von den Morden zu wissen … aber Gefühl …»
«Ja, genau, Gefühl», sagte Toppe bestimmt.
Sie wollte die Fahrertür aufschließen, hielt dann aber inne.
«Ich habe Hunger», sagte sie.
«Sie? Sie haben Hunger?», fragte Toppe verblüfft.
«Ja, ganz ordinären Hunger.» Sie lachte. «Da drüben ist eine Pizzeria. Wollen wir was essen gehen?»
Toppe kämpfte mit sich. «Ich habe irgendwie das Gefühl, wir sollten so schnell wie möglich zurück …, aber, gut … wenn’s schnell geht.»
Sie steckte den Schlüssel in die Tasche zurück und überquerte vor ihm die Straße.
Er war unzufrieden und spürte eine merkwürdige Unruhe im Bauch.
Es wurde eine schweigsame, schnelle Mahlzeit.
Um zehn vor drei waren sie wieder in Kleve.
Im Büro war die Hölle los. Toppe brauchte einen Moment, bis er sich zurechtfand. Breitenegger saß an seinem Schreibtisch, den Telefonhörer unters Kinn geklemmt, sprach und schrieb gleichzeitig. Ihm gegenüber saß mit spitzem Mund der Chef. Sein Gesicht war ein einziger Vorwurf.
Fünf oder sechs Leute, mitten unter ihnen Heinrichs, standen herum und redeten aufgeregt und laut miteinander. Ackermann saß verloren auf einem Stuhl.
Toppe drängte sich durch zu Breitenegger, der gerade den Hörer auflegte und seine Pfeife zur Hand nahm.
«Was ist denn hier los?», fragte Toppe ihn, aber der Chef fiel ihm gleich ins Wort: «Das sehen Sie doch wohl selbst. Also, Herr Toppe …»
«Einen Augenblick», unterbrach Breitenegger ihn. «Wir haben wieder einen Toten», raunte er. «Norbert ist rausgefahren. Emmericher Straße 284, gleich gegenüber von Famila.»
Toppe drehte sich auf dem Absatz um, fasste Astrid am Oberarm und zog sie hinter sich her aus dem Büro.
Vor der Tür blieb er stehen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
«Ich hab’s geahnt», sagte er dumpf und stapfte die Treppe hinunter.