Zehn
«Frau Schmitz?» Die Krankenschwester fühlte sich durch Toppes Frage offensichtlich belästigt. «Ach, die! Die ist schon weg, glaube ich.»
«Ist sie nun weg, oder ist sie noch da?», beharrte Toppe.
«Gucken Sie doch selbst nach. Zimmer 112», antwortete sie schnippisch und hastete weiter.
Gisela Schmitz war noch in ihrem Krankenzimmer. Sie saß auf der Bettkante, ihre Jacke über die Schultern gehängt, und wartete auf den Internisten, der noch einmal nach ihr sehen wollte. Über Toppes Besuch zeigte sie sich wenig erfreut, blieb abweisend und beantwortete seine Fragen nur widerwillig.
«Ja, der Jochen hatte am Sonntag eine Fete.»
«Ja, ich war auch da, aber nur von neun bis kurz nach elf.»
«Warum nur so kurz?»
«Ich musste noch nach Düsseldorf zurück.»
Es stellte sich heraus, dass sie in Düsseldorf wohnte und dort bei einem Wohlfahrtsverband arbeitete. Jochen Reuter hatte mal in Kleve, mal bei ihr in Düsseldorf gewohnt.
«Er hatte die meisten Jobs in Düsseldorf und Umgebung, da war meine Bude ganz günstig.»
Sie drehte sich eine Zigarette und zündete sie an. Die Asche schnippte sie nachlässig in den grauen Plastikpapierkorb neben dem Bett. Seit anderthalb Jahren war sie mit Jochen Reuter befreundet gewesen, «praktisch gleich, nachdem er Profi geworden ist».
«Was hat er denn vorher gemacht?»
«Dies und das, ich weiß nicht. So was interessiert mich nicht.»
«War Jochen Reuter in Schwierigkeiten?»
Sie lachte trocken auf. «Die klassischen Fragen, wie? Hatte er Feinde? Nee, hatte er beides nicht. Nur die normalen Schwierigkeiten und die normalen Feinde.»
«Und was genau meinen Sie damit?», wollte Toppe wissen.
Sie seufzte ungeduldig. «Die normalen Schwierigkeiten, die so ’n Musiker eben hat: Wo krieg ich den nächsten Gig her? Welche Connections muss ich ausbauen? Wovon bezahle ich die Miete und den Sprit fürs Auto?»
«Und was sind normale Feinde?»
Sie verdrehte die Augen. «Mann, genau wie Sie und ich. Die üblichen Leute, mit denen man nicht kann. Nur bei Jochen eben Musiker. Neider, die dir den Erfolg nicht gönnen, die sich an dich dranhängen, um sich ein Stück vom großen Kuchen zu ergeiern, und denen du einen Tritt verpasst, wenn sie dir auf den Geist gehen.»
«Wer waren seine engsten Freunde?»
«Freunde? Keine Ahnung. Er kennt ’ne unheimliche Menge Leute, klar. Aber Freunde? Keine Ahnung.»
Toppe fühlte sich abgestoßen von dieser Frau, und es fiel ihm schwer, das nicht zu zeigen.
«Wer war auf der Fete am Sonntag?»
«Wie?» Sie ging zum Waschbecken, drehte den Kran auf, löschte ihre Zigarettenkippe unter dem laufenden Wasser und ließ sie im Becken liegen.
«Ach so, null Ahnung. So fünfzehn, zwanzig Leute vielleicht. Ich kenn nur ’n paar davon.»
«Wen kennen Sie?»
«Wollen Sie ’ne Liste, oder was?», fragte sie und zog ironisch den linken Mundwinkel hoch.
«Ganz recht, ich möchte eine Liste.» Toppe nahm seinen Notizblock aus der Tasche.
«Puuh.» Sie ging zum Fenster und legte die Stirn an die Scheibe. «Glaub nicht, dass ich das schaffe. Bin noch nicht wieder so gut drauf.»
«Na, dann bemühen Sie sich mal, Frau Schmitz. Wir haben Zeit», sagte Toppe ungerührt. Sie fuhr herum und funkelte ihn an. Aber dann riss sie sich zusammen, kehrte zum Bett zurück und setzte sich wieder hin. «Mir ist das doch scheißegal», murmelte sie.
«Was ist Ihnen scheißegal?»
«Er ist doch tot, oder?» Sie betrachtete ihre abgekauten Fingernägel. «Ich hatte keine Ahnung, dass er fixt. Die ganze Zeit nicht», sagte sie leise.
«Hat er ja auch nicht.» Auch Toppe war leiser geworden.
«Was?» Sie runzelte die Stirn und sah ihn zweifelnd an.
«Nein, hat er nicht. Er ist ermordet worden. Luft in die Vene.»
Er ließ ihr Zeit, das zu verdauen, aber als sie anfing, hektisch an ihren Nägeln zu kauen, beeilte er sich: «Deshalb will ich ja die Liste haben.»
Danach wurde das Gespräch ein bisschen ergiebiger, und als er sie verließ, hatte Toppe in seinem Notizbuch zwei Seiten mit Namen gefüllt: Leute, die auf der Fete gewesen waren, Reuters nächste Verwandte – seine Mutter und sein Bruder – und andere Leute, zu denen er näheren Kontakt gehabt hatte.
«Ziemlich schräger Vogel», meinte Toppe, als sie die Treppe hinuntergingen.
«Eine ganz schöne Zimtzicke, wenn Sie mich fragen», sagte Astrid schnippisch, und Toppe musste grinsen.
«Lassen Sie uns zum Tatort fahren. Sie waren ja noch nicht da.»
«Okay, Chef», gab Astrid munter zurück.
«Mein Gott, wie das hier riecht!» Sie rümpfte die Nase, schaute sich aber trotzdem sehr genau um. Die Weingläser und das schmutzige Geschirr waren nicht mehr da, das hatte alles der ED mitgenommen.
Toppe interessierte sich hauptsächlich für die Plakate, Konzertankündigungen und Zeitungsausschnitte. «Da werden wir sicher auch einiges über seine Kontakte finden können», sagte er und drückte Astrid die Pappschachtel mit den Papieren in die Hände. «Haben Sie Lust, das alles mal zu durchforsten?»
«Ja, sicher, mach ich gern. Ist doch spannend.» Sie zögerte.
«Was ist?», fragte Toppe.
«Haben Sie eigentlich die Familie benachrichtigt?»
Er starrte auf das Bett, auf dem der Tote gelegen hatte, und schüttelte den Kopf. «Ich habe mich drücken können. Die Mutter ist in Bad Zwischenahn zur Kur. Das habe ich die Kollegen vor Ort erledigen lassen. Aber Sie haben recht, ich muss da nachhaken.»
«Und der Bruder?»
Er zuckte die Achseln. «Nicht aufzufinden. Der ist wohl dick drin in der Drogenszene. Seinen festen Wohnsitz hat er bei der Mutter, aber dort ist er wohl nicht.»
«Scheißspiel.» Astrid ließ den Blick durchs Zimmer wandern. «Und jetzt?»
Toppe gab sich einen Ruck und ging schnell zur Tür. «Kommen Sie. Wir werden jetzt die nächsten Nachbarn befragen.»
Aber sie sollten nicht viel Glück haben. Die Bewohner der kleinen Straße waren eine merkwürdige Zusammensetzung. Auf der einen Seite gab es sehr junge und nicht mehr ganz so junge Freaks, freischaffende Künstler, allein lebende Gymnasiasten, Wohngemeinschaften. Sie fanden alle, Jochen Reuter wäre ein ganz cooler, dufter Typ gewesen. Ein paar waren auch auf der Fete gewesen, aber sie hatten nichts Auffälliges bemerkt.
Auf der anderen Seite lebten hier gutbürgerliche Mittelschichtler, die seit Generationen schon ihr Haus in der Schwanenstraße hatten und mit ‹diesen Leuten› absolut nichts zu tun haben wollten. Allen gemein war, dass sie auf die Polizei mit Vorsicht und Misstrauen reagierten, jeder sicher aus einem anderen Grund. Toppe musste seine ganze Erfahrung, die er in unzähligen Vernehmungen gesammelt hatte, einsetzen, bis er so einigermaßen sicher sein konnte, dass keiner ihm vorsätzlich etwas Wichtiges verschwieg. Astrid bewunderte seine Geduld und seine Hartnäckigkeit.
Als sie fast drei Stunden später endlich auf dem Weg zum Präsidium waren, hatte Toppe ein bohrendes Gefühl im Magen. Er wusste, er musste schnellstens etwas essen, sonst würde er für den Rest des Tages zu nichts mehr zu gebrauchen sein.
«Das Ganze ist doch ein einziges Durcheinander», unterbrach Astrid seine Visionen von monumentalen Schnitzeln, dicken Pommes mit Mayo und gigantischen Krügen Altbier.
«Wir haben zwei verschiedene Morde», fuhr sie fort, «und offensichtlich denselben Täter. Aber ich erkenne da überhaupt keinen Zusammenhang.»
Toppe sagte nichts, er nickte nur.
«Für mich ist das im Moment ein Riesenchaos. Geht Ihnen das nicht auch so?»
«Doch, sicher», antwortete Toppe. «Nur auf die Dauer gewöhnt man sich daran, dass man am Anfang immer vor einem Riesenchaos steht. Man kann dann immer nur einen Schritt nach dem nächsten tun. So sorgfältig wie möglich, nichts übersehen, ganz ruhig. Und meistens lichtet sich das Chaos auch sehr schnell.»
«Wenn Sie das sagen …» Aber sie klang nicht zufrieden. «Ein Täter. Ich frage mich, wo das verbindende Motiv liegt.»
«Klar», stimmte er zu, «aber im Augenblick ist das nicht die vordringliche Frage. Obwohl einem das natürlich immer im Kopf herumspukt.»
«Ich weiß nicht», meinte sie kleinlaut, «ich hab irgendwie überhaupt keinen Plan.»
«Lassen Sie mal», beruhigte er sie. «Meistens kommt der entscheidende Hinweis oder der richtige Ansatz ganz plötzlich. Man muss ihn dann nur zu packen wissen.»
Sie lächelte. «Bei Ihnen hört sich das so einfach an.»
Breitenegger wartete schon auf sie. Er hatte seine Aufgaben erledigt: Ackermann würde ab morgen früh zur Verfügung stehen, der Staatsanwalt und die Presse waren für siebzehn Uhr angesagt.
«Dem Chef geht der Arsch auf Grundeis», bemerkte er wenig fein. Er hatte sich offensichtlich geärgert und paffte so hastig an seiner Pfeife, dass sein Kopf völlig eingenebelt war.
«Wieso?», fragte Toppe.
Er saß auf heißen Kohlen. Ab 13 Uhr 30 gab es in der Kantine kein warmes Essen mehr.
«Der hat mir die Ohren vollgetutet von wegen Serientäter und Panik in der Bevölkerung, und wir sollten uns mal ein bisschen ranhalten. Und natürlich wolle er seinem Nachfolger nicht gleich den Start mit einem ungeklärten Fall vermiesen.»
«Wann geht der eigentlich?», fragte Toppe und griff gleichzeitig zum Telefon, um die Nummer der Kantine zu wählen.
«Am 1. Juni kommt der Neue.»
Toppe grunzte nur und ließ sich ein Mittagessen reservieren: Rotkohl mit Bratwurst und Salzkartoffeln. Besser als gar nichts.
Danach wurde er ruhiger. «Und die Bigband-Geschichte?»
Breitenegger legte seine Pfeife im Aschenbecher ab und nahm eine Liste zur Hand.
«Läuft heute Nachmittag an. Also, pass auf. Das sind fast alles ganz junge Leute. Die meisten konnte ich nicht erreichen, weil sie heute Morgen in der Schule sind. Ein paar habe ich einbestellen können: Den Orchesterleiter für 14 Uhr, den Posaunisten für 15 Uhr, den Pianisten für 16 Uhr, und um 17 Uhr kommen zwei Saxophone, das sind die Kinder von der Posaune. Aber guck doch selbst.» Er gab Toppe die Liste rüber.
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Orchesterleiter: Karl-Heinz Müller – 32 J.
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Bass: Jochen Reuter – 39 J., Musiker
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Trompete: Bernhardine Püplichhuisen – 15 J., Schülerin
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Trompete: Daniela Tappeser – 15 J., Schülerin
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Trompete: Franz Derksen – 51 J., Handelsvertreter
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Posaune: Dietrich Püplichhuisen – 16 J., Schüler
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Posaune: Dr. Klaus Baumgarten – 49 J., Internist
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Saxophon: José Bruikelaer – 27 J., Krankenschwester
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Saxophon: Christiane Baumgarten – 16 J., Schülerin
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Saxophon: Stefan Baumgarten – 16 J., Schüler
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Saxophon: Markus Versteyl – 22 J., Musikstudent in Bonn
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Piano: Andreas Thelosen – 39 J., Kantor
«Was ist mit Nummer 11, dem Studenten?», wollte Toppe wissen.
«Der war nicht in seiner Wohnung in Bonn. Ich versuch’s gleich weiter», antwortete Breitenegger. «Und der Handelsvertreter kommt erst morgen Mittag von seiner Tour zurück.»
«Und jetzt kommt erst einmal der Müller, sagst du. Dann wer?»
«Dann um 15 Uhr Dr. Baumgarten, um 16 Uhr Andreas Thelosen und um 17 Uhr die beiden Kinder vom Baumgarten.»
«Prima.» Toppe stand auf und sah auf seine Uhr. «Bis zwei bin ich locker mit dem Essen fertig. Wann ist die unvermeidliche Pressekonferenz?»
«Um fünf.»
«Da kannst du dich ja mal wieder geschickt drücken», bemerkte Toppe säuerlich. Pressekonferenzen waren sein Albtraum.