Acht
Die Ausbeute war äußerst dürftig. Sie hatten nichts herausgefunden, was sie weiterbrachte. Jeder, mit dem sie gesprochen hatten, hatte ihnen versichert, dass José Bruikelaer ein offenes, freundliches Mädchen gewesen war, unmöglich, dass sie sich hätte umbringen sollen. Und Mord? Nein, genauso wenig. Wer hätte ein Interesse daran haben sollen? Dieter Seghers hatte ein paarmal mit ihr geschlafen, ja und? Das war’s auch gewesen.
«Wir hatten beide kein Interesse an einer Courths-Mahler-Geschichte», hatte er herablassend erklärt.
Auf der Geburtstagsfeier war offensichtlich nichts vorgefallen. Und am Samstag hatte auch niemand etwas gehört oder gesehen. Keiner hatte das Mädchen nach Freitagabend noch einmal getroffen.
Hatte es noch andere Freunde oder Bekannte gegeben, die nichts mit dem Krankenhaus zu tun hatten? Sicher, konnte schon sein, so nahe stand man sich schließlich nicht.
Die Leute aus dem Musikerkreis? Ja, den einen oder anderen hatte man wohl schon gesehen, aber kennen? Nein, das wäre zu viel gesagt.
Toppe gähnte ungeniert. Es war nach halb eins.
«Ich finde, wir sollten morgen weitermachen.»
Keiner nahm es ihm übel, als er aufstand.
«Norbert?» Er hielt van Appeldorn zurück, als sie schon auf der Treppe waren.
«Ja.» Van Appeldorn blieb stehen.
«Kannst du mich nach Hause bringen? Mein Wagen ist vorhin wieder nicht angesprungen.»
«Sicher.» Van Appeldorn ging weiter. «Und wie bist du dann zur Schwanenstraße gekommen?»
«Ach, Ackermann kam zufällig vorbei und hat mich hingefahren», antwortete Toppe so beiläufig wie möglich.
Van Appeldorn lachte schnaubend. «Ackermann? Und das hast du freiwillig über dich ergehen lassen?»
Er stieß die Tür auf.
Toppe atmete tief durch.
Es war immer noch warm, aber die Luft war klar. Sogar hier an der Durchgangsstraße roch es ein bisschen nach Frühsommer.
«Norbert?»
«Ja?»
«Was ist eigentlich los mit dir?»
«Was soll denn mit mir los sein?», fragte van Appeldorn erstaunt.
Toppe fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, redete aber trotzdem weiter. «Du hast doch was, du bist so …» Er suchte nach einem passenden Wort. «… so anders. Irgendwie nicht richtig bei der Sache.»
Aber van Appeldorn winkte ab. «Jetzt komm endlich. Ich schlafe schon im Stehen.»
Er überquerte den Parkplatz und schloss sein Auto auf.
«Vielleicht könnt ihr den ganzen Mist hier bald alleine machen», platzte es aus ihm heraus.
Toppe warf ihm über das Autodach einen verstörten Blick zu. «Was soll das denn heißen?»
«Ach, Scheiße!» Van Appeldorn ließ sich auf den Fahrersitz fallen.
Toppe stieg ebenfalls ein und wartete.
Es war dunkel im Wagen.
«Marion ist schwanger», sagte van Appeldorn, ohne Toppe anzuschauen.
Seit einigen Jahren schon lebte van Appeldorn mit seiner Freundin Marion und deren Tochter zusammen. Bis jetzt schien er nie Probleme gehabt zu haben, und wenn doch, hatte er nicht darüber gesprochen.
Keiner von ihnen tat das.
Toppe rutschte unbehaglich auf seinem Sitz nach vorn.
«Na und?», sagte er schließlich unbeholfen.
«Na und?», erwiderte van Appeldorn. «Es war nicht geplant!»
Toppe wusste nicht, was er sagen sollte.
«Wir haben den dicksten Knies deswegen», fuhr van Appeldorn fort. «Marion will ihren Laden nicht aufgeben, jetzt, wo er gerade anfängt zu laufen. Schon durch Annas Geburt hätte sie Jahre verloren, sagt sie. Und das, bitte schön, nicht schon wieder! Es wäre schließlich auch mein Kind, und wie wäre es denn, wenn ich mal Verantwortung übernähme und zu Hause bliebe? Es hieße mittlerweile Erziehungsurlaub und nicht mehr Mutterschutz. Ob ich das noch nicht mitgekriegt hätte.»
Toppe entfuhr nur ein entgeistertes: «Was?»
«Was?», bellte van Appeldorn. «Du wolltest doch wissen, was los ist. Das ist los, verdammte Scheiße!» Er schlug mit der Faust aufs Lenkrad, dann schwieg er.
«Und jetzt?», fragte Toppe endlich.
«Ich weiß es nicht.» Van Appeldorn wandte ihm sein blasses Gesicht zu.
Toppe legte ihm die Hand auf den Arm. «Es wird sich schon alles regeln.»
«Ach ja?» Van Appeldorn zog rüde den Arm weg. «Schon klar, die Botschaft ist angekommen. Für private Probleme ist in unserem Job kein Platz. Niemals. Oberste Regel.»
«Das ist doch Blödsinn», unterbrach Toppe ihn, obwohl er sich tatsächlich wünschte, er hätte gar nicht erst gefragt.
Aber van Appeldorn ging darüber hinweg. «Natürlich hätte ich darauf kommen müssen, dass es sich nicht um einen Suizid handelt. Wenn ich bei klarem Verstand wäre.» Er hielt inne. «Vielleicht sollte ich wirklich Erziehungsurlaub nehmen», setzte er bitter hinzu.
«Jetzt hör doch auf …»
Van Appeldorn atmete langsam aus. «Ich bring dich nach Hause.»
Toppe nickte nur. Sie fuhren schweigend durch die Straßen, die um diese Zeit fast völlig ausgestorben waren. Beide waren froh, dass der andere nichts mehr sagte.
Van Appeldorn bremste vor Toppes Haustür.
«Willst du noch auf einen Schnaps reinkommen?», fragte Toppe unsicher.
«Schon gut, lass mal.» Van Appeldorn hatte sich wieder im Griff. Er grinste. «Ich fahre noch rüber zu Wanders und zisch mir ein paar Bier.»
Toppe zuckte die Achseln. «Wenn’s das bringt», murmelte er. Aber van Appeldorn hörte ihn schon nicht mehr.
Im Haus war alles still. Ohne Licht zu machen, durchquerte Toppe die Diele in Richtung Küche und stieß sich prompt sein Knie an der Kommode. Im Dunkeln fand er sich hier noch nicht zurecht. Leise ächzend rieb er sich die schmerzende Stelle und tastete nach dem Lichtschalter.
An der Kühlschranktür klebte ein Zettel: ‹Mikrowelle!›.
Er schmunzelte, sie war wirklich lieb. Dabei war sein ständiges Übergewicht sicher auch auf seine nächtlichen Ausflüge zum Kühlschrank zurückzuführen. Zwei Fleischrollen hatte sie ihm hingestellt mit ein paar Zwiebelringen und viel süßem Ketchup. Genau das, was er jetzt brauchte. Er nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, hockte sich an den Tisch und aß langsam. Dabei las er den Text auf der Cornflakes-Packung, die auf dem Tisch stand, den ganzen Text, sogar die Liste aller Inhaltsstoffe.
Schade, dass Gabi schon schlief. Er hätte gern mit ihr gesprochen über Norbert und überhaupt.
Das Bier schmeckte ihm nicht. Er goss den Rest in den Ausguss und räumte sein Geschirr in die Spülmaschine.
Schlafen würde er noch nicht können, aber zum Lesen war er auch zu müde.
Er ging hinüber ins Wohnzimmer und kramte in seinen Platten, Tracy Chapman, ja, das war genau richtig jetzt.
Auf dem Sofa ausgestreckt, starrte er an die Decke, lauschte der Musik und versuchte, an nichts zu denken. Es gelang ihm ganz gut.
Gabi wachte nicht auf, als er leise zu ihr ins Bett kam. Er fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Als um halb sechs das Telefon klingelte, war er sofort hellwach. Gabi drehte sich auf den Bauch und vergrub ihren Kopf unter dem Kissen.
«Toppe.»
«Guten Morgen, Helmut. Hier ist Arend. Warst du schon wach?»
«Ich weiß nicht. Hast du bis jetzt gearbeitet?»
«Ja, und die Ergebnisse sind wichtig. Der Mann ist nicht an einer Überdosis Rauschgift gestorben – er hat überhaupt nicht gefixt. Er starb an einer Luftembolie.»
«Was?»
«Ja, Luft in der Armvene.»
«Hat er das selbst …»
«Ich bin sicher, dass es sich nicht um einen Suizid handelt. Zunächst einmal hatte die Spritze, die in seinem Arm steckte, nur ein Volumen von 20 ml. Das heißt, es muss mehrfach gespritzt worden sein, um die für eine Embolie mindestens erforderlichen 100 ml Luft in die Vene zu pumpen. Es gibt aber nur einen Einstich, was bedeutet, dass man die Spritze von der Kanüle gelöst hat, wenn sie neu mit Luft gefüllt wurde. Und einhändig ist das sehr schwierig.»
«Na ja», wehrte Toppe ab, «möglich ist alles bei Selbstmördern. Und außerdem, der wird doch wohl kaum seelenruhig stillgehalten haben. So etwas dauert doch.»
«Eben. Sitzt du gut?»
«Ja. Nun erzähl schon.»
«Ich habe beträchtliche Mengen von Atropin und Scopolamin im Körper des Toten gefunden.»
Toppe brauchte eine Weile, bis er das verdaut hatte.
«Mensch, Arend, weißt du, was das bedeutet?»
«Ich denke schon. Es sieht so aus, als handele es sich um denselben Täter.»
«Ganz genau.» Ein Dutzend Gedanken purzelten in Toppes Kopf durcheinander.
«Bist du noch dran, Helmut? Meinen Bericht kriegst du heute Nachmittag. Ich gehe jetzt ein paar Stunden schlafen.»
«Ja. Ja, gut … und danke, Arend.»
Was jetzt als Erstes? Toppe stand auf.
«Musst du weg?», brummelte Gabi unter ihrem Kissen.
«Nein, noch nicht. Schlaf weiter, es ist erst halb sechs.»
Er nahm sich leise frische Kleider aus dem Schrank, ging ins Bad und duschte lange.
Ein zweiter Mordfall. Das hatte gerade noch gefehlt! Wie weit der ED gestern wohl noch in der Schwanenstraße gekommen war? Berns hatte sicher van Gemmern dazuholen lassen. Ob er anrufen sollte? Ach was, warum sollte er sie auch noch aus ihrem kurzen Schlaf reißen? Die zwei Stunden brachten es auch nicht.
Er würde Brötchen holen gehen. Bei Walterfang konnte man hinten in der Backstube schon um fünf Uhr welche bekommen. Einen schönen, strammen Spaziergang würde er machen. Das machte den Kopf klar und beruhigte den Magen. Siedend heiß fiel ihm ein, dass er ja gar keine andere Wahl hatte. Sein Wagen stand noch immer unten am Präsidium. Er musste später die Werkstatt anrufen und außerdem Heinrichs bitten, ihn auf dem Weg zum Dienst mitzunehmen.
Draußen vor dem Küchenfenster spektakelten ein paar optimistische Vögel. Toppe stellte die Kaffeemaschine an, schnappte sich seine Lederjacke und verließ leise das Haus. Die Vögel hatten recht: Es war wirklich ein Bilderbuchmorgen, einer, der einen sonnigen Tag ankündigte, nur er würde mal wieder gar nichts davon haben. Er seufzte.
Die Straßen waren noch ganz still, kaum jemand, der schon wach war. Nur aus dem ‹Schweizerhaus› torkelten ein paar übriggebliebene Zecher und überquerten singend und sich gegenseitig stützend die Materborner Allee. Toppe seufzte noch einmal tief.
Um kurz vor sieben tappte er ungeschickt mit dem schwerbeladenen Frühstückstablett ins Schlafzimmer. Er stellte es auf dem Boden ab, zog Gabi das Kissen weg und küsste sie auf ihren weichen Schlafmund. «Frühstück.»
Sie lächelte, ohne die Augen zu öffnen. «Im Bett?»
«Ja», nickte er und goss Kaffee ein.
«Du bist süß.» Sie umarmte ihn von hinten.
«Vorsicht! Der Kaffee!»
«Was geisterst du eigentlich mitten in der Nacht durchs Haus?»
Er erzählte es ihr. Sie saß mit angezogenen Knien im Bett, schlürfte genüsslich ihren Kaffee und hörte ihm zu.
«Mensch!», rief sie plötzlich. «Die Kinder! Schon Viertel nach sieben. Mist!» Sie stürzte aus dem Bett.
Toppe seufzte wieder.
Dann würde er mal Heinrichs anrufen. Er wollte gern früh im Büro sein.
Aber er war nicht der Erste im Präsidium an diesem Morgen.
Astrid hatte mehrfach erfolglos versucht, Klaus van Gemmern anzurufen, und dann entschieden, dass er wohl noch oder schon wieder im Labor sein musste. Und eigentlich wollte sie ihn sowieso lieber sehen, als nur mit ihm sprechen.
Es war erst halb acht, als sie leise die Tür zum Labor öffnete. Richtig, er stand über den Tisch gebeugt und hantierte mit einem Weinglas.
«Hallo», rief sie leise von der Tür her.
Erstaunt sah er hoch. «Hallo! Was machst du denn schon hier?», und umarmte sie mit einem einzigen Blick.
«Und du? Bist du noch da oder schon wieder?»
«Schon wieder.» Er streckte ihr seine Hand entgegen. «Komm doch mal her.»
«Ich wollte eigentlich nur sagen, dass es später wird heute Abend. Ich muss mir noch eine Wohnung angucken.»
Er nickte und sah ihr in die Augen. «Wann soll ich denn bei dir sein?», fragte er, ohne ihren Blick loszulassen, und legte eine Hand auf ihre Hüfte.
«So um halb neun – ich freu mich schon.» Sie strahlte. «Ist lange her.»
«O ja.» Er fasste den Bund ihrer Jeans und zog sie langsam zu sich heran, bis sie sich berührten und sie deutlich spüren konnte, dass er sich auch schon freute.
«Sehr lange», sagte er und öffnete die obersten Knöpfe ihrer Bluse. Mit der Innenfläche seiner Hand fuhr er langsam über ihre rechte Brust. Sie stöhnte leise und schloss die Augen.
«Willst du wirklich noch bis heute Abend warten?», flüsterte er, den Mund an ihrem Hals.
«Du bist total verrückt, Klaus», stieß sie hervor, aber sie presste sich dabei fest an ihn. «Wenn jemand kommt.»
«Um diese Zeit kommt keiner.»
Sie lachte und küsste ihn.
Sie wurden nicht gestört.