Sechs
«Ist der Internist schon zurück?»
«Welcher Internist?» Barbara van Gimborn schaute Toppe mit großen Augen an.
Er hatte sie gerade noch auf dem Flur erwischt.
«Der Internist, der bei Ihnen auf dem Gang wohnt. Ist der schon wieder in seinem Zimmer gewesen?»
«Ich glaube nicht. Der kommt meistens erst am Montagmorgen zurück und geht direkt zum Dienst. Aber …», sie sah auf ihre Armbanduhr, «in fünf Minuten hat er Dienstschluss.»
«Wie heißt der Mann?»
«Mehlen.»
«Danke. Und Sie? Haben Sie seit Samstag die Küche auf Ihrer Etage noch einmal benutzt?»
«Ich? Nein, ich war gar nicht mehr im Wohnheim seitdem. Ich bin am Samstag zu meinen Eltern nach Rees gefahren. Mir war das alles zu unheimlich. Und gestern habe ich auch bei meinen Eltern geschlafen. Ich bin ziemlich fertig.»
«Das kann ich gut verstehen. Ich möchte Sie bitten, die Küche auch jetzt nicht zu betreten. Wir werden sie noch näher untersuchen müssen.»
Barbara van Gimborn nickte, und als Toppe nichts weiter sagte, wandte sie sich unschlüssig zum Gehen. Astrid sah ihren Chef aufmerksam an. «Meinen Sie, wir können in der Küche Hinweise auf den Täter finden?»
«Möglich.» Toppe zuckte die Achseln. «Sie könnten den Internisten anrufen und ihm sagen, auch er möge die Küche bis auf weiteres nicht benutzen.»
«Ja, mach ich sofort.»
«Gut, ich bin oben im Labor.»
Van Gemmern war noch immer allein. Er hantierte mit einem Bunsenbrenner. Es roch stark nach verbranntem Gummi.
«Wir müssen sofort die Küche versiegeln», sagte Toppe von der Tür her.
Van Gemmern sah auf, stellte den Brenner ab und zog die Handschuhe aus.
«Warum?», fragte er.
«Es sieht so aus, als sei seit Freitag keiner mehr in der Küche gewesen. Wir sollten alles genau auf Fingerspuren untersuchen.»
Van Gemmern schob den Bunsenbrenner zur Seite und setzte sich auf den Labortisch. Seine Füße baumelten in der Luft.
«Vielleicht hat der Täter den Kaffee in der Küche selbst gekocht», fuhr Toppe fort. «Ich halte das sogar für wahrscheinlich, denn wenn dieses Gift in Ampullen war, dann hätte es in dem kleinen Zimmer eigentlich auffallen müssen, wenn er sie aufbrach und in den Kaffee kippte. Deshalb meine ich, wir sollten in der Küche nach Hinweisen suchen. Auf jeden Fall die Schrankgriffe, das Kaffeeglas, den Zuckertopf, die Tassen auf Fingerspuren untersuchen.»
«Ich weiß nicht.» Van Gemmern wiegte zweifelnd den Kopf. «Auf den Tassen dürften wohl keine zu finden sein. Wie gesagt, es gab dort keine benutzten.» Aber er ließ sich vom Labortisch hinunter und ging nach hinten, um seine Tasche zu holen.
«Er könnte doch die Tasse gespült und dann wieder in den Schrank geräumt haben. Das wäre eine ordentliche Spurenbeseitigung.»
Van Gemmern kam mit der Tasche zurück. «Kann ich mir nicht vorstellen», sagte er. «Ist doch viel zu gefährlich. Es hätte doch jederzeit jemand kommen und ihn sehen können. Also, ich hätte die Tasse eingesteckt und gemacht, dass ich wegkomme.»
«Der muss die Tasse ja nicht gespült haben, als die Frau schon tot war. Vielleicht hat er sie erst betäubt, ordentlich alle Spuren beseitigt und sie dann erst erhängt. Da hätte doch ruhig einer kommen können, dann hätte die Bruikelaer eben geschlafen, völlig logisch nach der langen Nacht. Und der Täter hätte sich dann noch besonders fürsorglich um ihren Kram gekümmert.»
Van Gemmern blieb skeptisch. «Glaub ich nicht. Es hätte doch gereicht, dass man ihn sieht. Man hätte ihn doch hinterher immer mit der Tat in Verbindung gebracht.»
Er ging langsam auf die Tür zu, und Toppe folgte ihm.
«Mag sein. Vielleicht wollte er sie ja zuerst nur betäuben und gar nicht töten. Wir haben doch keine Ahnung, mit was für einem Typen wir es zu tun haben.»
Van Gemmern öffnete die Tür. Er nickte: «Dann will ich mal sehen, dass ich Berns auftreibe.»
«Ach ja, wo steckt der eigentlich?»
«Der sitzt im Festausschuss für die Verabschiedung des Chefs.»
«Festausschuss!», schnaubte Toppe und machte sich auf den Weg zurück ins Büro.
Breitenegger telefonierte, Astrid saß wartend am Schreibtisch.
«Ich habe Dr. Mehlen Bescheid gesagt. Der war noch nicht in der Küche», berichtete sie eifrig. «Und dann habe ich mir überlegt, ich könnte vielleicht mal eine Liste der Bigband-Musiker besorgen? Ich kenne den Leiter ganz gut.»
«Wirklich? Gute Idee», fand Toppe. «Wir sollten mit den Leuten sprechen. Dann machen Sie sich mal auf den Weg.»
Breitenegger legte den Hörer auf. «Die meisten Leute, die auf der Geburtstagsfete waren, können heute Abend kommen. Zwei haben Dienst. Die anderen habe ich alle für zwanzig Uhr einbestellt.»
Toppte brummte zufrieden. «Van Appeldorn und Heinrichs sind wohl noch im Krankenhaus?»
«Ja, das kann dauern, nehm ich an.»
Toppe sortierte eine Weile schweigend seine Gedanken. Er fühlte sich verschwitzt und klebrig.
«Wird wohl eine lange Nacht», seufzte er schließlich und stand auf. «Ich fahre kurz nach Hause, dusche und esse was. In einer guten Stunde bin ich zurück, dann kannst du vielleicht auch mal eben nach Hause.»
Breitenegger winkte ab. «Lass mal, ich bleibe hier. Bei mir ist sowieso keiner zu Hause heute. Aber Kohldampf hab ich. Kannst du mir nicht was mitbringen?»
«Klar, wir wär’s mit ‹Fleischrolle spezial›?» Toppe grinste.
«Ach, geh mir weg mit diesem Zeugs», reagierte Breitenegger wie erwartet. «Ekelhaft. Bring mir Pommes mit und zwei Frikadellen mit viel Senf.»
Toppe fluchte. Die blöde Kiste wollte wieder nicht anspringen. Erst beim sechsten Versuch brachte er den Motor in Gang. Lange tat es sein alter Passat bestimmt nicht mehr, aber ein neues Auto war im Augenblick auf gar keinen Fall drin. Eigentlich war es ihm egal, er machte sich nichts aus Autos, aber manchmal war es ihm doch unangenehm, als Hauptkommissar und Leiter des Ersten Kommissariats die älteste Klapperkiste auf dem ganzen Parkplatz zu haben.
Er fuhr langsam durch die verkehrsberuhigte Zone am Gemeindeweg zu seinem neuen Haus. In der Hofeinfahrt stand sein Schwiegervater mit einem Zollstock in der Hand.
Toppe parkte auf der Straße.
«Tach», grüßte er, «ich hab nicht viel Zeit», und wollte die Haustür aufschließen, aber sein Schwiegervater hörte nicht hin. «Siebzehn Zentimeter!», rief er kopfschüttelnd. «Komm her und gucket dir an, siebzehn Zentimeter!»
Toppe gab auf und ging hinüber. «Was für siebzehn Zentimeter?»
«Zu schmal, die Hofeinfahrt, siebzehn Zentimeter zu schmal. Ich habbet immer gesacht. Aber dir waret ja egal. Jetzt stehen wir dumm zu gucken.»
«Wieso?» Toppe verstand immer noch nicht.
«Da passt doch keine Maschine durch! Nicht mal der kleinste Bagger. Mann, Mann, jetzt kann ich den ganzen Mutterboden mit der Hand verteilen.»
«Ach so», Toppe ging zurück zur Haustür, «reg dich nicht auf. Das mach ich schon an meinem nächsten freien Wochenende.»
«Ja, dat kenn ich, und dann liegt et Allerheiligen noch da.»
Toppe hatte keine Lust, sich aufzuregen. Er hielt den Mund und ging ins Haus.
Gabi stand im Esszimmer und bügelte. «Hallo, hast du schon frei?»
«Kein bisschen. Ich wollte nur eben duschen. Dann muss ich wieder los.»
Er küsste sie flüchtig.
«Was ist denn?» Sie stellte das Bügeleisen ab.
«Der Selbstmord vom Samstag ist ein Mordfall.»
«Echt?»
Aber er war schon im Flur. «Hast du was zu essen da?», rief er noch.
Sie seufzte, ging in die Küche, stellte den Teller mit den Spaghetti in die neue Mikrowelle und schaltete die Kaffeemaschine an.
Schon nach zehn Minuten war er wieder da.
«Das war das letzte frische Hemd», stellte er fest, als er sich an den Tisch setzte.
«Ja, ich weiß, aber ich bin doch gerade am Bügeln. Ich kann mich auch nicht vierteilen.»
Er sah sie erstaunt an. «Was ist denn?»
«Ach Mensch! Manchmal weiß ich echt nicht, wie ich alles schaffen soll. Wenn ich um halb eins von der Arbeit komme, kann ich erst mal das Frühstück wegräumen, Mittagessen kochen, mich um die Hausaufgaben der Kinder kümmern. Und dann ist hier im Haus noch nichts gemacht.»
Toppe presste die Lippen zusammen und verkniff sich eine Erwiderung.
Er war nicht begeistert gewesen, als Gabi den MTA-Job bei der Kinderärztin angenommen hatte.
Obwohl er es verstehen konnte, schließlich war sie fast zehn Jahre wegen der Kinder zu Hause geblieben. Aber sie sah es ja jetzt wohl selbst.
«Das Haus macht einfach viel mehr Arbeit als die Wohnung. Ich habe gedacht …»
«Ja?»
«Na ja, ich dachte, wenn ich wenigstens einmal in der Woche eine Putzhilfe hätte …»
Er sah von seinem Teller auf. «Und wovon willst du die bezahlen?», fragte er.
Sie schlug die Augen nieder und antwortete nicht.
Es tat ihm leid.
«Nun ja», druckste er. «Vielleicht. Wir könnten das ja mal durchrechnen.»
Sie sagte immer noch nichts.
«Okay?», fragte er und legte seine Hand auf ihren Arm.
«Ja, okay.» Sie rang sich ein Lächeln ab. «Hast du noch Zeit, einen Kaffee mit mir zu trinken?»
«Mmpf», bejahte Toppe mit vollem Mund.
Sie würden schon alles auf die Reihe kriegen, irgendwie.
Auf der Rückfahrt zum Präsidium nahm er sich vor, morgen doch noch mal mit José Bruikelaers Eltern zu sprechen, danach mit den Mitgliedern der Bigband. Und heute Abend waren die Leute aus dem Krankenhaus dran. Selbst wenn es dann noch keinen konkreten Hinweis auf den Täter gab, würde es helfen, ein Bild vom Opfer zu bekommen.
Um halb sieben kam er ins Büro zurück.
Breitenegger erwartete ihn ungeduldig. Er machte sich sofort über die Frikadellen her.