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Fünf

Als sie ins Präsidium zurückkehrten, war das Büro leer.

Auf seinem Schreibtisch fand Toppe einen Zettel: ‹Kantine›, mehr nicht.

Van Appeldorns Bericht lag auf seinem Stuhl. Toppe las ihn laut. Er war sehr kurz. Van Appeldorn machte keinen Hehl daraus, dass er oberflächlich gearbeitet und den Fall ohne jeden Zweifel wie einen Suizid behandelt hatte. Toppe wunderte sich. Was war mit Norbert los? Sonst war er immer sehr sorgfältig, hinterfragte, hakte nach, überprüfte genau.

Das Telefon schrillte. Der Staatsanwalt ließ sich entschuldigen, er schaffe es nun leider doch nicht, und könne Toppe ihm wohl später telefonisch berichten?

Natürlich konnte Toppe, später.


Arend Bonhoeffer kam um zehn nach zwei und fand das Büro überfüllt.

«Wie haltet ihr das bloß aus mit so vielen Leuten in diesem kleinen Raum? Ich würde hier ersticken.»

«Normalerweise sind wir ja nur zu viert», erwiderte Toppe.

«Nur! Normalerweise», schnaubte Breitenegger. Er hatte schlechte Laune. In der Kantine hatte es heute Erbsensuppe gegeben, und Breitenegger hasste Erbsensuppe.

Auch Berns kam nicht. Er habe anderweitige Verpflichtungen, ließ er durch van Gemmern ausrichten. Toppe fand das keineswegs in Ordnung, nahm es aber wortlos hin. Das würde er später mit Berns selber klären.

Er bot Bonhoeffer seinen Stuhl an und lehnte sich gegen die Fensterbank.

«Nun», begann Bonhoeffer sofort. «José Bruikelaer hatte Gift getrunken, bevor sie durch Erhängen starb. Und zwar ein äußerst ungewöhnliches Gift: eine Mischung aus Atropin und Scopolamin, eine Art Cocktail. Bei der Wirkungsweise der beiden Substanzen, der Menge, die wir im Magen gefunden haben, und der Konzentration im Blut muss sie, nachdem sie den Cocktail zu sich genommen hatte, innerhalb von Sekunden eingeschlafen sein.»

«Ist das ein tödliches Gift?», fragte Toppe.

Bonhoeffer verneinte. «Tödlich ist es nicht. Es löst eine rasch eintretende, tiefe Bewusstlosigkeit aus, die, je nach Giftmenge, bis zu zehn Stunden anhalten kann. Danach setzen zunächst der Gesichts- und Gehörsinn wieder ein. Und erst ungefähr vier Stunden später ist man wieder völlig klar.»

Toppe zog eine zerknautschte Schachtel Eckstein aus der Hosentasche und zündete sich eine Zigarette an. «Sie hat das Gift also getrunken?»

«Ja, wahrscheinlich war es in Kaffee gemischt.»

«Schmeckt man das nicht?»

«Nun ja, das Zeug ist etwas bitter. Aber wenn man es in starken Kaffee gibt, dann dürfte man es kaum bemerken.»

«Kaffee», Toppe wandte sich an van Gemmern. «Habt ihr eine Tasse gefunden?»

«Nein, in ihrem Zimmer gibt es kein Geschirr. Es stand auch nichts herum, keine benutzten Tassen oder Gläser, nicht einmal ein benutzter Aschenbecher. Ich habe dann noch in der Küche nachgesehen, aber auch dort gab es kein benutztes Geschirr. Im Mülleimer haben wir eine leere Ravioli-Dose und ein paar nasse Teebeutel gefunden. Beides haben wir gerade eben noch hier im Labor untersucht. Nichts.»

«Und eine benutzte Kaffeefiltertüte war nicht da?», fragte Toppe.

«Nein, aber da stand ein Glas Pulverkaffee im Schrank.»

Toppe stieß sich von der Fensterbank ab und begann zwischen Fenster und Tür hin und her zu gehen, was nicht ganz einfach war, da er immer Bonhoeffers langen Beinen ausweichen musste. Es schien ihm nicht aufzufallen.

«Hätte die Frau denn noch …», begann er.

«Nein», unterbrach Bonhoeffer ihn. «Ich bezweifle sehr, dass sie nach dem Trunk überhaupt noch in der Lage war, auf einen Stuhl zu steigen und sich eine Schlinge um den Hals zu legen. Aber auf gar keinen Fall hatte sie genügend Zeit, das Gift und das Gefäß verschwinden zu lassen.»

Heinrichs trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. «Wartet mal … Atropin und Scopolamin …»

«Nein bitte, Walter, jetzt nicht», fuhr van Appeldorn ihn an. «Es scheint sich also tatsächlich um einen Mord zu handeln. Irgendjemand hat das Gift verschwinden lassen. Wer sollte ein Interesse daran haben, wenn nicht der Mörder?»

Toppe und Breitenegger wechselten einen verwunderten Blick.

«Arend, das ist kein gängiges Gift, sagten Sie?», redete van Appeldorn weiter.

«Nein, sehr ungewöhnlich. Und die Mischung der beiden Substanzen erscheint mir geradezu exotisch.»

«Was ist denn los, Walter?», fragte Toppe, der sehr wohl gemerkt hatte, wie sauer Heinrichs über van Appeldorns Abfuhr war.

«Wenn’s doch anscheinend keinen interessiert», murrte Heinrichs.

«Jetzt hab dich nicht so, red schon.»

«Also gut, es hat da mal in den Fünfzigern eine ganz spektakuläre Geschichte gegeben, muss so 54 oder 55 gewesen sein. Da hat der KGB zwei Leute in die, wie’s damals noch hieß, ‹SBZ› entführt.»

«SBZ?», fragte Astrid leise.

«Sowjetisch besetzte Zone», flüsterte van Gemmern zurück, «DDR.»

«Ja, und zwar den Journalisten Karl Wilhelm Fricke, der später die ganze Sache aufgedeckt hat. Und ein Jahr vorher den damaligen Chef vom Verfassungsschutz, Otto John. Der Fricke hat herausgefunden, welchen Cocktail die KGBler ihm in sein Getränk gekippt hatten. Nämlich eine Mixtur aus Scopolamin und Atropin. Das ist im kriminaltechnischen Labor in Heidelberg untersucht worden, damals.»

«Das ist ja ’n Ding», staunte Toppe.

«Nicht wahr? Sag ich doch», brummte Heinrichs zufrieden. «Was ich dabei aber ganz besonders interessant finde: Vor ein paar Wochen gab’s genau über diese Geschichte einen Bericht im Radio, WDR 2. Und da haben sie ganz ausführlich über die Substanzen und die Wirkung dieses Giftcocktails geredet.»

Astrid schien von dieser Information am wenigsten beeindruckt.

«Wo kriegt man denn als Normalsterblicher dieses Gift her?», erkundigte sie sich bei Bonhoeffer.

«Im Krankenhaus kommt man ganz leicht ran. Da ist beides auf dem Anästhesie-Wagen, kleine Glasampullen. Atropin ist ein Herzmittel zur Verkürzung der AV-Überleitung.»

«Ach was?» Van Appeldorn konnte sich die Unterbrechung nicht verkneifen. «AV-Überleitung, sehr erhellend.»

«Nicht so wichtig», winkte Bonhoeffer ab. «Man gibt Atropin bei Operationen zur Prämedikation, weil es die Sekretion der Drüsen hemmt. Scopolamin ist ein Medikament, das man bei Parkinsonismus gibt. Es wird aber auch bei Inhalationsnarkosen eingesetzt. Ist das verständlich, Norbert?»

«Und in anderen Bereichen werden diese Substanzen nicht verwendet?», fragte Toppe.

Bonhoeffer verneinte. «Okay, beides gibt es auch noch als Augentropfen, aber das ist es dann auch schon. Die tauchen wirklich nur im medizinischen Bereich auf, jede für sich, einzeln.» Er kratzte sich am Hinterkopf. «Dass jemand beides mixt, scheint merkwürdig. Es hört sich fast so an, als hätte jemand Heinrichs’ Geschichte gekannt.»

«Nicht, dass sich das jetzt auch noch zu einem Spionagefall auswächst», warf van Appeldorn entnervt ein.

«Ach was!» Toppe wurde ungehalten. «Das scheint heute wirklich nicht dein Tag zu sein, Norbert. Überleg doch mal, da braucht doch nur einer Radio gehört zu haben … Das ist doch eine feine Art, jemanden umzubringen: sauber, ruhig, unblutig, geplant.»

Er stand am Fenster und sah auf den Parkplatz hinunter. Aus einem grauen Opel Kadett stieg eine Frau, zog sich ihren Pullover über den Kopf und warf ihn auf den Fahrersitz. In ihrem dünnen T-Shirt stand sie einen Augenblick da, dann nahm sie die Schultern zurück und ging entschlossenen Schrittes auf den Eingang des Präsidiums zu.

Es war wirklich sehr warm. Toppe öffnete beide Fensterflügel.

Van Appeldorn legte die Beine auf den Schreibtisch und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.

«Moment mal», meldete sich Breitenegger aus seiner Ecke. «Was haben wir bis jetzt? Da ist also eine junge Krankenschwester, José Bruikelaer, die im Wohnheim lebt. Am Samstag bekommt sie Besuch von ihrem Mörder … Sie trinkt Kaffee. Anscheinend wohl freiwillig, oder gab es Spuren von Gewaltanwendung bei der Toten?»

Bonhoeffer schüttelte den Kopf: «Nicht ein Kratzer, nicht einmal ein blauer Fleck.»

«Der Täter …», fuhr Breitenegger fort.

«… oder die Täterin», unterbrach Astrid ihn.

«… oder die Täterin», wiederholte Breitenegger gutmütig, «hat José Bruikelaer unauffällig einen Giftcocktail in den Kaffee gekippt. Dann hat er …», er grinste, «… oder sie … gewartet, bis die Wirkung eingesetzt hatte, das Seil aus der Tasche gezogen, die Pflanze von der Decke genommen …»

Toppe gab einen unbestimmten Laut von sich.

«Nein, ich bin kein Hellseher, Helmut, ich war bloß dabei, als Norbert seinen Bericht geschrieben hat. In Zukunft werde ich übrigens nur noch Sechser-Dübel nehmen … Hat also die Pflanze runtergenommen, den Strick geknüpft, die Bewusstlose hochgehoben, reingehängt und fallen gelassen.»

«Eindeutig», stimmte Bonhoeffer zu, «plötzliche Strangulation.»

«Dann hat er den Stuhl umgekippt und die Spuren beseitigt. So könnte es wohl gewesen sein.»

«Könnte, ja.» Toppe kratzte sich den Bart. «Ich habe euren Bericht noch nicht, van Gemmern. Gibt es da noch etwas?»

«Nein, soweit ich es jetzt überblicke. Der Strick ist ganz neu, noch nie benutzt. Es ist ein einfacher Kälberstrick, den man im landwirtschaftlichen Bedarfshandel kaufen kann. Bei der Genossenschaft in Bedburg, zum Beispiel. Wir haben viele verschiedene Fingerspuren gefunden und inzwischen überprüft. Keine davon taucht in unserer Kartei auf. Am wichtigsten erschien mir der Stuhl, weil der Täter den ja wohl angefasst haben muss. Auch da gibt es eine Anzahl verschiedener Abdrücke. Er ist nicht abgewischt worden. Das heißt also, der Täter hat entweder Handschuhe getragen oder aber seine Fingerabdrücke sind drauf.»

Das hilft uns jetzt nicht weiter, dachte Toppe. «Wie sieht’s mit der Todeszeit aus, Arend?», fragte er.

«Zwischen 17 und 19 Uhr.»

Es klopfte, und Astrid stand sofort auf. «Das wird Frau van Gimborn sein. Es ist kurz vor drei. Soll sie warten?»

Toppe nickte und seufzte. «Tja, dann wollen wir mal das Übliche anlaufen lassen. Wer war die Frau? Wer hatte ein Interesse daran, sie zu töten, und warum? Befragen der Familie und Freunde, Überprüfen der Umstände in Krankenhaus und Wohnheim, Befragen der Kollegen, Mitbewohner, Ärzte, Patienten. Und herausfinden, ob irgendwo Gift weggekommen ist. Im Krankenhaus oder bei Apothekeneinbrüchen in letzter Zeit.»

Er sah sich um. «Ach, weißt du was, Norbert …»

«Hm?» Van Appeldorn nahm endlich die Beine vom Tisch.

«Teil du doch mal ein, wer was übernimmt. Ich unterhalte mich inzwischen mit Frau van Gimborn.»

Bonhoeffer ging zusammen mit Toppe hinaus. «Du kannst über meinen Beruf sagen, was du willst, aber deinen finde ich auch nicht viel erhebender.»


Auf den harten Holzstühlen, die im Flur an der Wand aufgereiht standen, saßen Astrid Steendijk und Barbara van Gimborn nebeneinander und unterhielten sich. Toppe ging gleich auf die Frau zu. Sie hatte kurzes, braunes Haar und dunkle Augen, war eher klein, ein wenig rundlich mit großem Busen. Toppe fand sie hübsch.

Ein bisschen steif stellte er sich vor.

«Guten Tag, Herr Hauptkommissar», sagte sie und meinte es offenbar nicht ironisch. Vielleicht war man im Krankenhaus solche Anreden gewöhnt.

Toppe überlegte. Wohin?

Der einzige freie Raum im Moment war das Vernehmungszimmer. Unpassend, dachte er, aber was soll’s?

«Wollen Sie mitkommen, Astrid?»

«Klar», strahlte sie erfreut.

Auch im letzten Jahr hatte sie am liebsten mit ihm zusammengearbeitet, erinnerte er sich jetzt und nahm sie plötzlich sehr deutlich wahr. Sie trug ihre langen, dunklen Haare heute zu einem dicken Zopf geflochten, enge Jeans wie fast immer, und eine recht tief ausgeschnittene weiße Bluse mit einer dunklen Weste. Toppe verbot es sich, länger hinzusehen.

Auf dem Weg zum Vernehmungszimmer fand er genügend Zeit, sich wieder zu sammeln.

Er würde das Gespräch auf Band aufnehmen.


Barbara van Gimborn war, wie sie meinte, recht eng mit José Bruikelaer befreundet gewesen. Sie beschrieb José als aufgeschlossenes, fröhliches Mädchen und konnte es immer noch nicht fassen, dass sie sich umgebracht hatte.

«Ich meine, so sehr kann man sich doch nicht täuschen, wenn man einen Menschen gut kennt, oder?» Sie schaute Toppe traurig an.

«Ich glaube, Frau van Gimborn, dass Ihre Freundin gar keinen Selbstmord begangen hat. So wie es im Moment aussieht, ist sie ermordet worden.»

Barbara van Gimborn riss die Augen auf und starrte erst ihn und dann Astrid an. «Mein Gott», stotterte sie, «das ist ja furchtbar! Nein, aber, wenn … nein! Sie hing doch da!»

Toppe ging nicht darauf ein. Er wartete eine Weile, bis sie sich wieder im Griff hatte.

«Hatte José Bruikelaer viele Freunde?»

«Na ja, sicher, einige, so wie wir alle. Wir im Wohnheim kennen uns gut und unternehmen auch öfter was zusammen. Gehen mal essen oder Squash spielen oder so was.»

«Hatte sie einen festen Freund?»

«Ach so, das meinen Sie. Nein, im Moment nicht. Sie hatte jahrelang einen festen Freund in Holland, Henk hieß der, glaube ich. Aber mit dem war schon lange Schluss. Gleich, nachdem sie bei uns angefangen hat. Ich glaube, das ging ihr noch immer ganz schön nah, aber viel darüber geredet hat sie nicht. Eine Zeitlang hatte sie, soviel ich weiß, was mit Dieter, einem unserer OP-Pfleger. Aber das war wohl nichts Richtiges. Ich kenne aber auch nicht alle ihre Freunde.»

Sie überlegte.

«Aber sie hatte schon ab und an mal Besuch. Einer von denen roch ziemlich streng.»

«Er roch streng?», fragte Toppe verwundert. «Wie denn?»

«Ich weiß auch nicht … nach Schweiß und Knoblauch und so. Irgendwie eklig. José hat hinterher immer alle Fenster aufgerissen, wenn der da gewesen war. Einmal hat der sie auch in der Ambulanz besucht. Ich hatte hinterher Dienst, und wir hatten ganz schön Mühe, dieses Aroma wieder rauszukriegen. Der ist ihr wohl ziemlich auf den Geist gegangen. Aber gesehen habe ich den nie.»

Sie überlegte wieder.

«Aber auch die meisten von den Jungs, mit denen sie Musik machte, habe ich nie gesehen.»

«Ach ja», fiel Toppe wieder ein, «das Saxophon. Spielte sie in einer festen Gruppe?»

«Ja, in der Bigband der Kreismusikschule. Und mit einigen von den Leuten hat sie auch schon mal privat geübt.»

«Hatte Frau Bruikelaer im Krankenhaus irgendwelche Probleme?»

«Probleme? Meinen Sie Ärger?»

Toppe nickte.

«Nee, überhaupt nicht. Wir mochten sie alle gern. Auch die Docs und die Patienten. Also, ich wüsste jedenfalls nicht, dass sie mit irgendwem Ärger gehabt hätte.»

«Beschreiben Sie doch mal den letzten Samstag. Wann haben Sie José Bruikelaer gesehen?»

«Tja, also gesehen hab ich sie eigentlich gar nicht. José hatte Frühschicht. Am Freitag ist’s unheimlich spät geworden, weil ich Geburtstag hatte, und wir haben mit ein paar Leuten gefeiert.»

«Wie viele Leute waren denn da?», unterbrach Toppe sie.

«Warten Sie mal.» Sie zählte es stumm an den Fingern ab. «Elf», sagte sie dann.

«Gut. Würden Sie uns später kurz die Namen aufschreiben?»

«Sicher.»

«Ist auf der Geburtstagsfeier etwas vorgefallen, das mit Frau Bruikelaers Tod zu tun haben könnte?»

«Nein», antwortete sie entschieden, «bestimmt nicht.»

«Mit wem hat Frau Bruikelaer geredet? Ist sie mit jemandem rausgegangen? Mit wem hat sie die Feier verlassen?»

Barbara van Gimborn schluckte. «Wir haben die ganze Zeit zusammengesessen, mehr oder weniger im Kreis. Mein Zimmer ist winzig, müssen Sie wissen, da kann man sich gar nicht von den anderen absetzen. Tja, also, rausgegangen ist sie auch nicht zwischendurch. Und, nee, die sind alle zusammen weg. Ich hab jedenfalls nichts davon mitgekriegt, dass sie mit jemandem zusammen raus ist.»

«Haben Sie das ganze Geschirr von der Feier nachts noch gespült?»

«Nein.» Sie war völlig erstaunt. «Wieso? Das steht immer noch in meinem Zimmer. Ich bin noch nicht dazu gekommen. Wann auch?»

«Gut, es ist also spät geworden am Freitag. Und was war dann weiter am Samstag?»

«Na ja, José wollte sich nach dem Dienst erst mal ausschlafen. Ich hatte Spätschicht, und wir wollten uns nachher um zehn beim Griechen treffen.»

«Das habe ich heute Mittag nachgeprüft», bestätigte Toppe. «Der Inhaber sagt, es sei eine Art Stammlokal fürs Krankenhaus.»

Er kramte in den Hosentaschen nach seinen Zigaretten, aber er hatte sie offensichtlich im Büro vergessen.

«Und dann?», fragte er.

«Ja, dann», Barbara van Gimborn schluckte. «Ich habe so bis gegen halb elf gewartet und mit Adoni geredet, und dann hab ich mich doch gewundert. José war immer pünktlich. Ich bin zum Wohnheim zurück und hab an ihre Tür geklopft und gerufen, aber nichts rührte sich. Und da kriegte ich’s dann doch mit der Angst und bin rübergelaufen zu Herrn Küppers vom Technischen Dienst.»

Sie holte tief Luft, und auf ihren Wangen zeichneten sich zwei kreisrunde rote Flecken ab.

«Hat Sie denn keiner im Wohnheim gehört, als Sie geklopft und gerufen haben?», fragte Astrid.

«Nein, keiner. Aber auf dem Flur haben auch nur José und ich unser Zimmer und der neue Internist, der noch keine Wohnung hat, aber der fährt am Wochenende immer zu seiner Familie nach Offenbach.»

«Und dann?»

«Herr Küppers hat mit einem Nachschlüssel die Tür aufgemacht und … da hing sie dann, und es sah furchtbar aus. Sie war tot, das konnte man sofort sehen. Sie war ganz kalt. Und ich wollte nur weg und der Küppers auch. Wir sind sofort wieder raus.»

«Haben Sie irgendetwas verändert?»

«Nein.» Sie schaute ihn verständnislos an. «Was denn verändert?»

«Wo lag der Stuhl?»

«Der Stuhl? Ziemlich nah bei der Tür, ich weiß nicht. Wir sind drum herum, direkt zu ihr hin.»

«Sie haben den Stuhl nicht bewegt?»

«Nein, wir haben überhaupt nichts bewegt. Der Küppers sagte immer nur ‹mein Gott, bloß nix anfassen, mein Gott›. Wir waren höchstens eine halbe Minute im Zimmer.»

Sie war jetzt sehr aufgeregt und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.

«Eine Frage noch», sagte Toppe. «Wie heißt der Dieter aus dem OP?»

«Dieter? Ach so. Seghers. Dieter Seghers. Warum?»

Aber Toppe antwortete nicht. Er stand auf, verabschiedete sich ziemlich schnell und überließ es Astrid, die Liste der Leute aufzunehmen, die auf der Geburtstagsfeier gewesen waren. Eigentlich war es nicht seine Art, so kurz angebunden zu sein.


Im Büro saß nur Breitenegger. Er war dabei, endlich die Kindesmisshandlung für die Staatsanwaltschaft abzuschließen.

«Ich glaube, da kommt ein Riesenberg Arbeit auf uns zu.» Toppe ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

Breitenegger sah von seinen Papieren hoch und nahm die Pfeife aus dem Mund. «Hat sich was ergeben?»

«Ich weiß nicht. Wenn es dieses Zeug, dieses Atropin und Scopolamin, im Krankenhaus gibt, dann kommen doch die Leute, die dort arbeiten, wohl am leichtesten ran. Ich denke, da sollten wir zuerst ansetzen. Es gab eine Geburtstagsfeier im Wohnheim am Freitag. Möglich, dass da etwas vorgefallen ist. Astrid bringt die Liste der Leute, die da waren, gleich rein. Wir sollten sie alle so schnell wie möglich einbestellen. Wenn die erst mal miteinander geredet haben, wenn die Gerüchteküche angeheizt ist, dann kriegen wir nichts Vernünftiges mehr aus denen raus. Also, mach das mal gleich.»

«Großartig», sagte Breitenegger und wandte sich wieder seinen Papieren zu.

Toppe starrte ausdruckslos auf seinen Zettel. ‹Henk?› stand da und ‹Dieter Seghers›.

«Mensch!» Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und stürzte hinaus.

Breitenegger sah ihm verblüfft hinterher.

Grenzgaenger
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