Vier
Das Zimmer war höchstens zwölf Quadratmeter groß. An der einen Schmalseite lag die Tür, ihr gegenüber das einzige Fenster. Die Wände waren in hellem Ocker gestrichen, auf dem Boden lag ein billiger brauner Teppichboden. Für Möbel war nicht viel Platz. Gleich links von der Tür gab es einen viertürigen Einbauschrank. An der rechten Längswand stand eine Liege mit großkariertem Bezug, die man wohl zu einem Bett umbauen konnte. Davor ein niedriger rechteckiger Glastisch mit einem hellbraunen Lederstuhl, dem Pendant zu dem Stuhl, der jetzt bei van Gemmern im Labor stand. Über der Bettcouch hingen drei gerahmte Carl-Larsson-Drucke. An der linken Wand, gleich hinter der Tür, ein kleines Waschbecken mit einem Spiegelschränkchen und eine offene Schrankwand aus Nussbaumimitat. An dem kleinen Deckenhaken vor dem Fenster hatte wohl ein Makrameekorb mit einer Topfpflanze gehangen. Beides stand jetzt auf dem Tisch. Die Pflanze hatte schon einige Blätter verloren. Wer hätte sie auch gießen sollen?
An diesem Deckenhaken hatte die Tote gehangen.
Heinrichs stieg vorsichtig auf den Stuhl und schaute sich den Haken an.
«Mehr Glück als Vaterlandsliebe», murmelte er.
«Wieso?» Toppe kam näher.
«Das ist bloß ein Sechser-Dübel. Ein glattes Wunder, dass der gehalten hat.»
In der linken hinteren Zimmerecke standen ein Saxophon und ein Ständer mit Notenblättern. Toppe warf einen Blick auf das oberste Blatt: ‹Maiden Voyage›. Jazz, eine Frau, die Saxophon spielte – ungewöhnlich. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Das Zimmer lag im ersten Stock. Man schaute auf den grauen, vierstöckigen Krankenhausbau, der Eingang war keine acht Meter entfernt. Dazwischen lag ein symmetrisch gepflasterter Hof mit ein paar gemauerten Blumenbecken und zwei, drei jungen Bäumen. Wenn man den Himmel sehen wollte, musste man sich aus dem Fenster beugen.
Toppe drehte sich um, betrachtete das Zimmer und versuchte, sich die Spuren, die der Erkennungsdienst hinterlassen hatte – die Kreidestriche auf dem Teppich, den Puder vom Fingerspurennehmen, der überall klebte –, wegzudenken.
Es war ein 08/15-Zimmer, und die deutlichen Versuche, es gemütlich zu machen, die Pflanzen, die hübsche Stehlampe, die gehäkelten Deckchen, die Bilder und der Nippes, wirkten ein wenig hilflos.
Heinrichs hatte einen Karton mit Fotos und Briefen aus der Schrankwand genommen und kramte darin herum.
«Wo hat die eigentlich gekocht?», fragte Astrid.
«Hier gibt es bestimmt eine Gemeinschaftsküche», antwortete Toppe. «Wir können ja mal nachgucken.»
Sie traten auf den düsteren Flur hinaus. Es war ein schmaler Gang mit einem schwarz gesprenkelten Fußboden und fünf Türen an jeder Seite. Der einzige Schmuck an den hellgrünen Wandflächen zwischen den Türen waren ein schlichtes Holzkreuz und vier ausgeblichene Farbfotografien: eine Luftaufnahme vom Krankenhaus, die Rheinbrücke, zwei Stadtansichten von Emmerich.
Die Küche lag gleich an der Treppe. Toppe warf nur einen kurzen Blick hinein. Der Raum war grau und kahl. An den zahlreichen Schränken klebten rote Namensschildchen: José, Karin, Klaus, Barbara, Birgit … Er las nicht weiter. Es roch nach kaltem Kaffee und Dosenravioli.
Gegenüber der Küche befanden sich die Gemeinschaftsduschen und die Toiletten. Neben der Küchentür hing ein Wandtelefon.
«Stand da nicht auch ein Apparat im Zimmer?», fragte Astrid.
«Doch», nickte Toppe, «aber vielleicht ist das ja nur ein Hausanschluss.»
Sie gingen wieder ins Zimmer zurück. Toppe entdeckte neben der Tür, gleich unter dem Lichtschalter, einen weißen Knopf mit der Aufschrift ‹TÜR› – wohl der Öffner für die Haustür unten.
«Hast du was gefunden?», fragte er Heinrichs.
«Das Übliche: Fotos, ein paar heiße Liebesbriefe von einem Henk, allerdings schon fast zwei Jahre alt, Briefe vom Vater, alte Kinokarten, Erinnerungskram eben.»
«Meinst du, das ist sie?» Toppe nahm ein Foto in die Hand, das Heinrichs zur Seite gelegt hatte.
«Ich glaube schon. Passt jedenfalls zu Norberts Beschreibung, außerdem ist sie auf fast allen anderen Fotos auch drauf.»
Toppe nickte. Es war ein Porträt: ein herbes Gesicht mit hohen Wangenknochen und weit auseinanderstehenden, hellen Augen, die selbstsicher in die Kamera blickten.
Er legte das Foto wieder auf den Tisch und zog die Schultern hoch. «Wo Stein bloß bleibt?»
Oben polterte es. Es hörte sich an, als wäre ein Stuhl umgekippt. Alle drei sahen hoch und hielten einen Augenblick die Luft an. Schließlich lachte Astrid leise.
Auf dem Gang hörte man eilige Schritte. Toppe ging zur Tür. «Ach, Herr Stein, da sind Sie ja.»
Dr. Stein sah sich kurz im Zimmer um, stellte ein paar knappe Fragen. Er war wie immer in Eile, aber um vierzehn Uhr habe er mehr Zeit, sagte er. Toppe und er verstanden sich gut. Jeder hielt den anderen für zuverlässig, fähig und fix. Man brauchte nicht viel zu reden.
Gemeinsam gingen alle vier die Treppe hinunter, aber Stein verabschiedete sich sofort. Heinrichs sah sich das Haustürschloss an. Es gab wirklich nur innen eine Klinke. Außen war als Griff ein schwarzes Kunststoffrechteck angebracht mit einem Relief aus unregelmäßigen Dreiecken. Toppe sah sich die Klingelschilder an: dreißig Stück. ‹J. Bruikelaer› fand er schnell. Eine ganze Reihe Schilder neben den Klingelknöpfen war leer. Offensichtlich war das Wohnheim nicht voll belegt. Gleich neben ‹J. Bruikelaer› stand ‹B. v. Gimborn›.
«Es scheint eine direkte Klingelleitung in die Zimmer zu geben», sagte er. «Ob sie die Tür dann wohl selbst geöffnet hat?»
«Moment. Noch ist ja gar nicht raus, dass sie überhaupt jemandem die Tür geöffnet hat.» Heinrichs wollte die vage Hoffnung, es könnte sich vielleicht doch um einen simplen Selbstmord handeln, noch nicht aufgeben.
Langsam gingen sie zum Krankenhaus hinüber, am Pförtner vorbei, der sie nicht ansprach, obwohl keine Besuchszeit war, und fuhren mit dem Aufzug in den Keller.
«Warum müssen Pathologien eigentlich immer in den Kellern liegen?», fragte Heinrichs. Es klang dumpf in dem kalten, neonbeleuchteten Gang mit den blauen Stahltüren.
«Vermutlich», feixte Toppe, «vermutlich, weil es diesen Patienten schnurz ist, ob sie die Sonne sehen oder nicht.»
«Aber dem Pathologen ist das keineswegs schnurz», knurrte Bonhoeffer hinter ihnen. Sie hatten ihn durch das laute Hallen ihrer Schritte gar nicht kommen hören.
«Ganz schön makaber heute, Helmut.» Er lachte. «Das bin ich doch sonst von dir nicht gewöhnt.»
Sie schüttelten Hände. Bonhoeffer kam Toppe in der langen, weißen Gummischürze fremd vor.
«Tja, im Moment ist für euch an der Toten nicht viel zu sehen, ich bin mitten in der Arbeit.»
Sie wussten alle, was er meinte, und keiner von ihnen war erpicht darauf, sich die Tote jetzt schon anzusehen.
«Aber mit Düsseldorf habe ich gerade telefoniert», fuhr Bonhoeffer fort. «Die sind noch nicht ganz fertig, sie haben mir jedoch die endgültigen Ergebnisse in spätestens zwei Stunden zugesichert. Das heißt also, so gegen eins.»
«Das ist gut», fand Toppe, «um zwei trifft sich die Soko.»
«Weißt du was», überlegte Bonhoeffer, «ich könnte mit meinen Ergebnissen dazukommen. Ich habe heute Nachmittag sowieso in Kleve zu tun.»
Er öffnete die Tür zu seinem winzigen Büro. «Wenn ihr noch reinkommen wollt …»
«Nee, danke», winkte Heinrichs entschieden ab. «Hier riecht’s mir zu streng.»
Toppe war unentschlossen. Er hätte gern noch mit Arend eine kleine Weile seine halbgaren Eindrücke verdaut, aber dies schien kaum der rechte Augenblick.
Schon im Gehen fiel ihm noch ein: «Hast du die Tote eigentlich gekannt? Sie hat doch hier im Haus gearbeitet?»
«Nein.» Bonhoeffer schüttelte den Kopf. «Ich habe sie vorher noch nicht einmal gesehen.»
«Und was machen wir jetzt?», fragte Astrid, als sie wieder im Aufzug standen.
«Na ja, viel können wir noch nicht tun», gab Toppe widerstrebend zu. « Aber ich würde wenigstens gern kurz mit dieser Freundin reden, Barbara van Gimborn.»
Sie waren im Foyer angekommen.
Die Hälfte der Halle hatte man mit weißen Spaliergittern abgetrennt. Dahinter befanden sich kleine Tischgruppen und eine lange weiße Theke. ‹Cafeteria› stand auf einem kleinen goldenen Schild.
«Vielleicht könnte einer von euch mal gucken, ob man sie hier im Haus findet.»
«Ich versuch’s mal», bot Astrid bereitwillig an. «Sie können ja so lange hier warten.»
«Gibt’s hier auch was zu essen?» Toppe suchte mit gierigem Blick die Theke ab.
«Essen wär jetzt nicht schlecht», stimmte Heinrichs zu.
Aber es gab nur Kaffee, Tee und Kakao. Enttäuscht holten sich beide einen Becher Kaffeebrühe, hockten sich an einen der Tische und warteten.
Astrid war schnell zurück. «Also, Frau van Gimborn ist im Dienst, hat aber totalen Stress – Essensausgabe. Ich weiß jetzt nicht, ob ich das richtig gemacht habe, aber ich hab sie gefragt, ob sie nicht ins Präsidium kommen kann.» Sie schaute Toppe unsicher an.
«Das war in Ordnung», beruhigte er sie. «Wann kann sie denn kommen?»
«Um drei Uhr heute Nachmittag.»
«Prima», Heinrichs stand auf. «Dann könnten wir ja jetzt gut irgendwo lecker essen gehen.»
«Essen?» Astrid sah nicht gerade begeistert aus.
«Ja, wäre doch gar nicht schlecht, oder, Helmut?», fragte Heinrichs verlegen.
«Nein, wäre nicht schlecht. Ich muss mal eine halbe Stunde laut nachdenken. Das geht beim Essen am besten», stimmte Toppe zu.
Astrid fuhr sie zum Griechen am Geistmarkt.
Bis auf einen schwer angetrunkenen alten Mann, der auf einem Hocker an der Theke saß und sich an einem Glas Ouzo festhielt, waren sie die einzigen Gäste, es war auch erst halb zwölf.
Toppe bestellte eine große gemischte Fleischplatte, genoss seinen Ouzo und sagte erst einmal gar nichts.
Astrid und Heinrichs diskutierten die Vor- und Nachteile der griechischen Küche im Vergleich zur türkischen.
Erst als Toppe einen Souvlakispieß und die halbe Gyrosportion aufgegessen hatte, ließ er wieder etwas von sich vernehmen.
«Man müsste mal rumfragen, ob jemand anderes vielleicht einem am Samstag die Tür geöffnet hat.»
Heinrichs ließ verdutzt die Gabel sinken, die er gerade zum Mund geführt hatte. «Du hast vielleicht Gedankensprünge!»
«Wieso?», fragte Toppe verständnislos. «Ich habe die ganze Zeit an nichts anderes gedacht. Ich meine, vielleicht hat die Bruikelaer den Täter selbst reingelassen, aber es könnte doch auch jemand anders gewesen sein. Ich glaube eigentlich nicht, dass man jedes Mal, wenn es klingelt, erst runterläuft und nachguckt, wer an der Tür ist. Und von den Fenstern aus kann man die Haustür nicht sehen. Die hat ein Vordach.»
«Oder es war der Täter, vielleicht jemand, der selbst im Wohnheim lebt», warf Astrid ein.
«Ja», stimmte Toppe ihr zu. «Wir werden wohl mit allen aus dem Wohnheim sprechen müssen, neunzehn Personen, wenn man nach den Klingeln gehen kann. Und auch mit den Kollegen aus dem Krankenhaus. Vielleicht hatte das Mädchen am Samstag Besuch. Wenn ja, muss das doch eigentlich jemand gesehen haben.»
«Nun aber mal halblang, ihr beiden», fuhr Heinrichs dazwischen. Selten genug kam er in den Genuss einer geruhsamen Mahlzeit, ohne dass mindestens ein Kind auf seinem Schoß saß, an seinem Stuhl klebte oder einfach pausenlos quatschte. «Es ist doch immer noch nicht raus, dass es wirklich Mord war.»
«Ach, komm», winkte Toppe ab. «Schon aufgrund von van Gemmerns Beobachtungen müssen wir das Ganze erst einmal so behandeln, als wär’s einer. Das weißt du genauso gut wie ich. Und ich kann mir nicht helfen, ich hab einfach so ein komisches Gefühl …»
Ein paar Minuten schwiegen alle drei und aßen nur.
«Ich find’s komisch», sagte Astrid gedankenverloren, «wie die so gewohnt hat …»
Toppe nickte zustimmend.
«Ich glaube, ich hätte das nicht lange ausgehalten in dem Wohnheim. Ist doch alles ziemlich abgefahren.»
«Abgefahren.» Heinrichs schüttelte missbilligend den Kopf.
«Ich suche selbst schon seit ein paar Wochen eine Wohnung», begann Astrid wieder. «Aber es ist gar nicht so leicht, was Süßes zu finden. Ich will ja auch gern ein Stück Garten und so.»
«Wo wohnen Sie denn jetzt?», fragte Toppe.
«Ach, immer noch bei meinen Eltern. Ich hab da die kleine Einliegerwohnung im Souterrain. Die ist ganz schnuckelig, aber irgendwann muss man doch schließlich weg von zu Hause.»
Man hörte förmlich, wie es bei Heinrichs klickte.
«Mensch, klar, Steendijk, von Steendijk sogar, oder? Die Fabrik in Kellen, Ihre Eltern, nicht wahr?»
Astrid errötete und nickte betreten.
Heinrichs beugte sich über den Tisch. «Sagen Sie mal, wieso will ausgerechnet so jemand wie Sie zur Polizei?»
In diesem Augenblick kippte mit einem lauten Krachen der Barhocker um.
Der alte Mann hatte wohl beschlossen zu gehen.