Sechstes Kapitel
Es ist spät geworden. Conor, Sadie und ich sitzen am Feuer. Im Haus von Rainbow und Patrick ist immer noch kein Strom, weil nach dem Hochwasser erst neue Elektroleitungen verlegt werden müssen. Bis dahin benutzen sie Kerzen und Öllampen und haben einen Holzofen, um Wasser heiß zu machen.
Ich sitze auf einem Kissen auf dem Fußboden. Sadies Kopf ruht auf meinem Knie. Ihre Augen sind halb geschlossen. Sie döst vor sich hin. Ich streichle sanft und rhythmisch ihren Kopf. Sie mag den Talisman nicht. Hat ihn angeknurrt, als ich ihn aus der Tasche gezogen und Conor gegeben habe.
Doch Conor mag ihn. Er hat es sich in dem verbeulten alten Sessel bequem gemacht, den Rainbow und Patrick von der Heilsarmee bekommen haben. All ihre Möbel sind der Flutkatastrophe zum Opfer gefallen. Glücklicherweise haben die Zimmer im Erdgeschoss einen Steinboden, sodass wir ihn gut reinigen konnten. Conor hat geholfen, die Wände zu streichen. In der Ecke steht ein großer Eimer mit weißer Farbe, den Conor zufolge irgendjemand gespendet hat.
Still und friedlich ist es hier. Ich spüre, dass Indigo weit entfernt ist, obwohl das Haus von Rainbow und Patrick direkt an der Küste gebaut wurde. Darum war es vom Hochwasser auch so hart getroffen worden. Sie mussten sogar das Mauerwerk ausbessern, ehe sie wieder einziehen konnten.
Rainbows Mum und Patricks Dad sind nicht da. Sie sind in Dänemark, wo Rainbows Mutter geboren wurde – jedenfalls glaube ich, dass sie dort sind. Nach der Flut sind sie kurz zurückgekommen, um nach dem Rechten zu sehen, aber nur für ein paar Wochen geblieben. Sie haben in Dänemark eine Arbeit gefunden und möchten, dass Rainbow und Patrick bald nachkommen. Rainbow hat neulich mit Mum darüber gesprochen. Patrick arbeitet in einem Surfshop und büffelt für die Schule, während Rainbow Musik macht und sich um ihre anderen Dinge kümmert. Patrick will später mal Arzt werden und weiß auch schon, auf welche Uni er gehen wird. Sie möchten beide hierbleiben, statt nach Dänemark umzuziehen.
Sie sind jetzt auf einer Probe ihrer Band. Solche Proben finden immer sehr spät statt, sagt Conor. Es ist eine neue Band und Rainbow ihre Leadsängerin. Ich wusste gar nicht, dass Rainbow singen kann. Richtig gut singen kann, meine ich natürlich. Ich frage mich, wie sich das anhört.
Ich bin müde und das Feuer ist warm. Ich könnte mich neben Sadie auf den Boden legen und sofort einschlafen …
»Saph«, sagt Conor plötzlich.
»Wa … was?«
»Ich hab nachgedacht.«
Ich habe Conor immer noch nicht alles erzählt. Er war so wütend, als er mir die Tür geöffnet hat. Da war es einfach nicht der richtige Zeitpunkt, ihm von der Tiefe und der Versammlung und dem Kraken zu erzählen. Allerdings habe ich ihm sofort den Talisman gegeben, damit er abgelenkt war und an Elvira statt an mein Verhalten dachte.
Das hat wirklich funktioniert. Ich glaube, er ist mir nicht mehr böse. Jetzt runzelt er die Stirn, aber nur, weil er den Talisman eingehend betrachtet.
»Ich frage mich, ob ich eine Kette finde, die so klein ist, dass sie durch das Loch passt«, sagt er.
»Du willst ihn also tragen?«
»Natürlich. Dazu ist er doch da.«
»Wozu soll denn der Talisman gut sein?«, frage ich. Faro sagt, dass er Glück bringt, aber ich bin mir da nicht so sicher.
»Er beschützt dich«, antwortet Conor. »Er ist für eine ganz bestimmte Person gemacht und kann auch nur sie beschützen.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe von Soldaten im Krieg gelesen, die einen Talisman hatten. Ein Medaillon, das an einer Kette um ihren Hals hing, oder etwas Ähnliches. Es gibt da zum Beispiel die Geschichte eines Mannes, der genau hier einen Schuss abgekriegt hat« – Conor zeigt auf eine Stelle unterhalb seines Schlüsselbeins –, »aber er hat einen Talisman in Gestalt einer Medaille getragen, und die hat die Kugel abgewehrt. Sonst wäre er getötet worden.«
Ich betrachte die kleine Figur in Conors Hand, die Elvira geschnitzt hat. Sie sieht nicht so aus, als könnte sie eine Kugel abhalten. »Vielleicht hat ein Talisman in Indigo eine andere Funktion«, entgegne ich.
»Ich könnte es bei dem kleinen Juweliergeschäft in der Market Street versuchen …«, fährt Conor gedankenversunken fort, während sein Zeigefinger über den Talisman streicht. Am liebsten würde ich ihn schütteln.
»Conor, bevor die anderen zurückkommen …«
Conor streckt sich gähnend. »Wir müssen heute Nacht hierbleiben. Schau dir nur an, wie fein das geschnitzt ist, Saph, wie viele Details man sieht. Glaubst du, Elvira hat das selbst gemacht?«
»Wahrscheinlich«, antworte ich genervt. »Sie ist ja so talentiert …«
»Und sieh mal den Gesichtsausdruck. Ich verstehe gar nicht, wie man so etwas schnitzen kann.«
Meine Nackenhaare stellen sich auf. »Aber es gibt doch gar keinen Gesichtsausdruck, Conor. Das Gesicht ist völlig leer.«
»Du guckst nicht richtig hin. Schieb Sadie mal zur Seite und komm rüber zu mir. Im Kerzenlicht siehst du’s besser.«
Widerwillig schiebe ich die so angenehm warme Sadie von meinem Bein herunter. Sie stößt einen leisen Protestlaut aus.
»Arme Sadie, komm her, du kannst deinen Kopf auf mein Kissen legen.«
Das Kerzenlicht flackert, als ich halb um Conors Sessel herumgehe.
»Wenn du da stehst, ist die Figur im Schatten. Komm her, Saph, siehst du’s jetzt?«
Ich betrachte die leere Gesichtsfläche des Mer-Manns. Sie ist völlig ausdruckslos. Doch dann sehe ich, dass eine wellenförmige Bewegung über die leere Fläche geht, wie das Rollen des Meeres, bevor die Welle bricht.
»Da! Hast du’s jetzt gesehen?«
»Ähm, ich bin nicht ganz sicher …« Nein, es muss eine optische Täuschung gewesen sein. Das Gesicht ist immer noch völlig leer.
»Weißt du, Saph, es hört sich zwar unglaublich an, aber findest du nicht … findest du nicht, dass er ein bisschen so aussieht wie ich?«
»Nein, Conor!«
Ehe ich mich besinnen kann, habe ich die Worte bereits ausgestoßen, ängstlich und aggressiv zugleich. Sadie springt auf und schießt bellend auf uns zu.
»Leg dich hin, du verrückter Hund! Leg dich wieder hin!«, sagt Conor.
»Sie ist nicht verrückt. Sie hat nur Angst vor dem Talisman.«
Ich lasse mich auf die Knie sinken, schlinge meine Arme um ihren Hals und tätschele sie beruhigend. Ein Knurren dringt aus der Tiefe ihrer Kehle.
»Ganz ruhig, Sadie. Hab keine Angst. Die Figur tut dir nichts.«
Doch Sadie hört nicht zu knurren auf. Schließlich bleibt mir nichts anderes übrig, als sie in die kleine Teeküche zu sperren, damit sie sich beruhigt. »Du bleibst hier, mein Schatz, dann brauchst du den schrecklichen Talisman nicht mehr anzusehen«, flüstere ich ihr ins Ohr, bevor ich die Tür hinter mir schließe und ins Wohnzimmer zurückgehe.
»Der sieht wirklich aus wie ich«, wiederholt Conor mit sanfter Stimme, während er verwundert den Talisman anstarrt, so wie andere Leute das Pendel eines Hypnotiseurs anstarren.
Ich strecke den Arm aus, schnappe mir den Talisman aus seiner Hand und stecke ihn wieder in meine Tasche. »Können wir jetzt endlich miteinander reden?«
Conor reibt sich die Augen, als wäre er nach langem Schlaf erwacht. Dann lächelt er mich an. Es ist ein ganz normales freundliches Conor-Lächeln statt des dämlichen Ausdrucks, mit dem er die ganze Zeit den Talisman angeglotzt hat.
»Zuerst über die Tiefe«, beginne ich so geschäftsmäßig wie ein Lehrer, der das Thema der Hausaufgabe bekannt gibt.
Doch im nächsten Moment ist ein lautes Klappern an der Tür zu hören, bevor sie aufgerissen wird und Rainbow und Patrick über die Schwelle stürzen.
»Ich bin zuerst!«, ruft Patrick.
»Du hast mir ein Bein gestellt, das zählt nicht!«
Wie beruhigend zu sehen, dass der ernste, verantwortungsvolle Patrick manchmal genauso kindisch sein kann wie wir.
»Es geht darum, wer zuerst da ist. Auf das Wie kommt es nicht an«, stellt Patrick zufrieden fest.
»Na warte«, gibt Rainbow zurück. »Sagt mal, ist es wirklich schon Mitternacht? Wir hatten so eine super Probe, Sapphy. Nächstes Mal musst du unbedingt mitkommen. Spielst du auch Gitarre, so wie Conor?«
»Die spielt nur mit den Gefühlen anderer Leute und ein bisschen Triangel«, antwortet Conor. »Erzähl doch Rainbow mal von deiner tragenden Rolle in der Schulband.«
»Lass gut sein, Con.«
»Du siehst so aus, als könntest du auch singen«, sagt Rainbow.
»Mit Dad habe ich manchmal gesungen.«
»Ehrlich? Was für Lieder?«
»Ach, irgendwelche alten Volkslieder …«
Rainbow wärmt ihre Hände am Feuer. »Sing mal eins davon. Wenn ich es kenne, singe ich mit.«
Aus ihrem Mund hört sich das wie die einfachste Sache der Welt an. Als könnte jeder einfach so seinen Mund aufmachen und in Gegenwart anderer Leute ein Liedchen trällern. Als gäbe es niemand, dem das unangenehm oder peinlich wäre. Patrick scheint genauso zu sein wie seine Schwester. Während er auf dem Kaminvorleger sitzt und sich den Sand aus den Turnschuhen schüttelt, blickt er zu mir auf und sagt: »Ja, sing mal was, Sapphy. Vielleicht kennt Rainbow den Song.«
Verschiedene Lieder gehen mir durch den Kopf. Nicht O Peggy Gordon. Das ist zu mächtig … und es verrät zu viel. Ach wäre ich doch in Indigo … Nein, das kann ich auch nicht singen. Doch mir fällt noch ein anderes ein.
»Es ist ein irisches Lied«, sage ich langsam. »Dad hat es manchmal am Ende des Tages im Pub gesungen.« Ich mache eine kurze Pause und hole tief Luft. All die Erinnerungen kehren zurück, an die Zeit, als ich noch klein war und mit Mum an einem Ecktisch saß. Die rauchige Luft ist von Stimmen und Gelächter erfüllt. Ich klammere mich an meine Chipstüte, und Conor und ich sind mucksmäuschenstill, um bloß nicht aufzufallen und irgendjemand auf den Gedanken zu bringen, uns nach Hause zu schicken.
Ich sehe Dads leuchtendes glückliches Gesicht vor mir. Manchmal singt er ohne Begleitung, manchmal spielt er ein paar Akkorde auf der Gitarre dazu. Doch vor allem ist es seine Stimme, die alle in ihren Bann zieht. Sie ist so voll und kräftig, dass die Leute an den Tischen verstummen und verträumt vor sich hinstarren.
»Du denkst an The Parting Glass, nicht wahr, Sapphy?«, fragt Conor leise.
»Ja.«
Ich ziehe langsam die Luft ein. Die ersten Worte kommen mir zittrig über die Lippen, doch dann festigt sich meine Stimme, ich vergesse alles um mich herum und denke nur noch an das Lied.
All das Geld, das ich gehabt,
ich bracht es durch in trauter Runde,
all die Wunden, die ich schlug,
sie wurden mir zur eignen Wunde,
und was ich tat und längst vergaß,
ich tat es, um euch zu gefallen,
so füllt mir noch ein letztes Glas,
Gut’ Nacht und Freude mit euch allen.
All die Freund’, die ich gehabt,
sie nehmen meinen Abschied schwer,
und alle Liebsten wünschen sich,
dass nur ein einziger Tag noch wär.
Doch weil ich unser Schicksal sah,
dass ich muss fort und du bleibst da,
so rufe ich, euch zu gefallen:
Gut’ Nacht und Freude mit euch allen,
gut’ Nacht und Freude mit euch allen.
Als ich das Ende des Lieds erreicht habe, fällt mir auf, dass Rainbow nicht mitgesungen hat. Die Worte hallen durch meinen Kopf. Doch weil ich unser Schicksal sah, dass ich muss fort und du bleibst da …
Ahnte Dad bereits, dass dies sein Schicksal werden würde? Er ist gegangen und hat uns zurückgelassen. Aber von Freude kann keine Rede sein.
Das helle Kaminfeuer sticht mir in die Augen, also senke ich den Blick.
»Warum hast du nicht mitgesungen, Rainbow?«, fragt Patrick. »Du kennst doch das Lied.«
Doch Rainbow schüttelt den Kopf. »Es wäre nicht richtig gewesen. Sapphy hat eine andere Stimme als ich.«
»Eine schöne Stimme«, sagt Patrick. »Sie bringt einen zum Zuhören.«
»Sie hat gut mit Dads Stimme zusammengepasst«, sagt Conor.
»Ja«, stimme ich zu. Außerdem konnte Dad seine volle Stimme so gefühlvoll einsetzen, dass auch meine zur Geltung kam. Ich hatte schon ganz vergessen, wie es war, mit Dad zu singen.
Nein, ich hatte es nicht vergessen. Ich hatte es nur verdrängt, gemeinsam mit all den anderen Dingen, an die ich nach seinem Verschwinden lieber nicht erinnert werden wollte.
Sie nehmen meinen Abschied schwer …
Nie im Leben hat sich Dad vorstellen können, wie viel Leid er uns durch sein Verschwinden beschert hat. Während ich in die Flammen starre, denke ich an jene Nacht, in der wir auf Dad gewartet und gewartet haben und er nicht nach Hause kam. Conor und ich kauerten nebeneinander auf der Treppe und wollten die Hoffnung nicht aufgeben, bis wir irgendwann doch dazu gezwungen waren. Conor ist in dieser Nacht erwachsen geworden. Ich weiß nicht, ob das auch für mich zutrifft. Ich habe seit damals jede Selbstsicherheit verloren.
Statt uns zu streiten, sollten Conor und ich zusammenhalten. Indigo hat uns den Vater genommen. Also sollten wir es nicht zulassen, dass Indigo jetzt einen Keil zwischen uns treibt.
Ich hebe den Kopf und lächele ihn an. Conor scheint in Gedanken zu sein, doch schließlich macht sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln breit. Es ist ein Lächeln, das sagt: Lass uns Freunde sein und nicht mehr streiten. Ich weiß sowieso nicht mehr, warum wir uns gestritten haben.
»Du solltest in unserer Band sein, Sapphy«, sagt Rainbow. »Was ist mit dir, Conor? Singst du auch?«
Conor lacht. »Meinen Gesang will ich dir lieber nicht zumuten. Ich höre mich an wie ein Frosch. Quak, quak, quak. Sogar der Schulchor hat sich geweigert, mich aufzunehmen.«
Ich muss auch lachen. Conor hört sich an wie Mum. Die beiden summen wie Bienen und versuchen, hin und wieder einen richtigen Ton zu treffen. Eigentlich kann man es gar nicht singen nennen.
Tu Conor nicht unrecht, Sapphy. Denk dran, wie er mit seinem Gesang die Wächterrobben beruhigt hat. Was für eine mächtige Wirkung seine Stimme damals hatte. Die Erinnerung nimmt mich ganz und gar gefangen. Fast meine ich die Töne mit den seltsamen Worten zu hören, die Conor damals gesungen hat.
Mein Kopf schnellt nach oben.
»Aber du kannst doch singen!«, platzt es aus mir heraus.
Alle starren mich an.
»Äh, ich meine, so schlecht ist deine Stimme nun auch wieder nicht«, füge ich hastig hinzu. Hört sich irgendwie nicht überzeugend an. Sadie kratzt an der Tür. Sie versteht nicht, warum wir sie aussperren, und stößt ein klagendes Winseln aus.
»Sadie muss nach draußen«, sage ich erleichtert. »Ich geh mal eine Runde.«
»Ich komm mit«, sagt Conor rasch.
Rainbow und Patrick rollen die Isomatten und Schlafsäcke auseinander. Ich schlafe bei Rainbow im Zimmer, Conor bei Patrick. Es ist schon merkwürdig, in einem Haus zu sein, in dem es keine Erwachsenen gibt, die Entscheidungen für einen treffen. Patrick ist zwar schon sechzehn, doch Rainbow erst in meinem Alter. Doch jetzt schaut sie nach, ob für morgen früh auch genug Milch da ist, und sucht ein Handtuch für mich raus. Das gefällt mir, und sie scheint es völlig normal zu finden.
*
Conor und ich spazieren mit Sadie durch die nächtlichstillen Straßen. Sadie geht rechts von mir, so weit von Conor entfernt wie möglich. Sie weiß, dass er den Talisman in seiner Tasche hat. Das behagt ihr immer noch nicht, obwohl sie sich ein wenig beruhigt hat. Ihr Fell hat sich gesträubt, als Conor sie im Hinausgehen gestreift hat.
St. Pirans ist nach der Flutkatastrophe erst wieder halb lebendig. Im schummrigen Licht der Straßenlaternen kann man zwar nicht alle Schäden erkennen, doch gibt es viele Familien, die immer noch nicht in ihre Häuser zurückgekehrt sind. Sie wohnen zwischenzeitlich bei Verwandten oder haben sich in Bed-and-Breakfast-Pensionen einquartiert. Alles ist ruhig. Die Straßenlaternen werfen flackernde Schatten an die Hauswände. Manchmal sieht es so aus, als würde uns jemand auflauern und jeden Moment aus seinem Versteck hervorspringen. Unsere Schritte und das Tapsen von Sadies Pfoten hallen über das Kopfsteinpflaster. Wir entfernen uns vom Meer und schlendern den Hügel hinauf.
»Schieß los!«, fordert Conor mich auf.
»Womit?«
»Na, mit allem, was du bis jetzt zurückgehalten hast. Was wirklich passiert ist, als du in Indigo warst.«
Also erzähle ich ihm die ganze Geschichte. Es fällt einem leichter, wenn man im Dunkeln nebeneinanderher geht. Nachdem ich fertig bin, sagt Conor eine Zeit lang kein Wort. Wir treten ein Stück beiseite, damit Sadie auf einem Fleckchen Erde ihr Geschäft machen kann. Danach gehen wir weiter. Sadie ist sicher begeistert, dass wir so einen weiten Weg zurücklegen. Jedenfalls schaut sie die ganze Zeit zu mir auf, als wolle sie sagen: Wie schön, dass du endlich Vernunft annimmst und mich nicht nach zwanzig Minuten wieder nach Hause zerrst. Vielleicht klappt es ja doch noch mit deiner Erziehung.
Conor schlägt nicht vor, den Rückweg anzutreten, und ich tue es auch nicht. Wie spazieren weiter durch die dunkle, stille Stadt. St. Pirans kommt mir so leer vor wie die versunkene Stadt, die mir Faro einst gezeigt hat. Schließlich stößt Conor ein tiefes Seufzen aus, als hätte er eine Entscheidung gefällt. Dann sagt er: »Du wirst das nicht alleine tun, Saph.«
»Aber ich muss! Ich bin die Einzige, die bis in die Tiefe vordringen kann.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil Faro sich schon beim bloßen Versuch verletzt hat. Und weil ihr beide aus der Strömung geschleudert wurdet.«
Sadie drängt sich jetzt an mich, als würde die Nacht ihr plötzlich Angst machen. Sie spürt es, wenn wir über Indigo reden, und es gefällt ihr nicht. Ich kraule sie im Nacken.
»Ich muss Saldowr sehen«, sagt Conor. »Wenn es einen Grund gibt, warum du in der Tiefe sein kannst und ich nicht, dann will ich ihn aus seinem Mund hören. Und wenn es so ist, können wir vielleicht doch einen Ausweg finden. Du weißt, wie die Mer sind, Saph. Die denken immer, alles steht von vornherein fest und lässt sich nicht mehr ändern. Sie sind so … unflexibel. Weil du ein Mal in der Tiefe warst, glauben sie, dass du die Einzige bist, der das überhaupt gelingen kann. Und weil sie deine Hilfe brauchen, sollst du jetzt tun, was sie sagen. Es kann ihnen ja auch ganz egal sein, was mit dir passiert, solange sie ihren Willen bekommen.«
»Aber es ist ihnen nicht egal, jedenfalls nicht Faro!«
»Kann schon sein. Aber denk dran, Saph, dass er kein Mensch ist. Er ist kein Junge mit einer Schwanzflosse. Er ist ein Mer. Und wir wissen immer noch nicht genau, was das eigentlich bedeutet.«
»Das sollten wir aber.«
»Du meinst, weil wir auch Mer-Blut haben? Okay, das bezweifle ich ja gar nicht. Wir haben Mer-Blut. Aber was heißt das? Überleg doch mal, Saph. Wir wurden als Menschen geboren. Mum hat nicht einen einzigen Tropfen Mer-Blut in sich, das steht fest. Das kommt von Dad und seinen Vorfahren. Wir haben unser ganzes Leben unter Menschen verbracht. Das ist so, als wäre unser Ur-Ur-Großvater vor hundert Jahren von Russland nach England eingewandert. Dann hätten wir auch noch ein bisschen russisches Blut in uns, könnten aber deswegen noch lange nicht Russisch sprechen und hätten auch keine Ahnung von Russland.«
»Wir waren aber in Indigo.«
»Schon, aber hier ist unser Zuhause.«
Ich will mit Conor nicht streiten. Tief in seinem Innern wird er wissen, dass er nur die halbe Wahrheit sagt. Wenn hier unser Zuhause ist, warum hat sich dann unser Vater dafür entschieden, als Mer in Indigo zu leben? Conor mag zwar logisch argumentieren, aber gegen die Anziehungskraft von Indigo kommt auch er nicht an.
»Mit Saldowr kann man gut reden«, fährt Conor nachdenklich fort. »Außerdem hört er auch richtig zu. Du kennst doch auch Leute, die immer nur ihre eigene Meinung hören wollen, aber so ist er nicht.«
»Mmm.«
»Ich glaube, du hörst mir gerade nicht zu, Saph.«
»Doch! Du hast von Russland gesprochen … und Saldowr …«
Das einzig Wichtige hat Conor am Anfang gesagt. Du wirst das nicht alleine tun, Saph. Ist das wirklich wahr? Wenn Conor mitkommt, ist alles anders.
Er will mit Saldowr reden. Vielleicht kommen sie überein, dass ich die gefährliche Reise in die Tiefe nicht allein unternehmen darf. Was auch immer passieren mag, ich werde mich auf Saldowrs Weisheit sowie Conors Mut und Unterstützung verlassen können. Ich weiß, dass ich stark sein muss, aber das sagt sich so leicht. Deshalb hoffe ich inständig, dass Conor mich begleiten kann.
»Ich denke, deshalb hat mir Elvira auch den Talisman gegeben«, sagt Conor unerwartet.
Elvira hat dir den Talisman gegeben, weil sie dich mag. Hast du das immer noch nicht kapiert?, würde ich am liebsten entgegnen, doch Conor fährt sogleich fort: »Weil ein Talisman Glück bringen soll. Soldaten gibt man welche mit auf den Weg, ehe sie in die Schlacht ziehen. Was soll ich also mit einem Talisman, wenn ich mich nicht in Gefahr begebe?«