Fünfzehntes Kapitel

Vignette.tif

Wir müssen auf den Wal warten«, flüstere ich schließlich.

»Bist du sicher, dass sie zurückkommt?«

Ich versuche, die andere Möglichkeit zu verdrängen. Natürlich wird sie zurückkommen. Ich bin doch ihre Freundin, ihr kleiner Nacktfuß …

Meine Gedanken stocken. Der Wal und ich sind uns nur zwei Mal begegnet. Vielleicht hat sie uns vergessen, sobald sie an die Oberfläche gekommen ist. Oder sie hat sich für andere Gewässer entschieden, wo es mehr Riesentintenfische gibt, die sie fressen kann. Schließlich sind wir nicht ihre Kinder. Conor und ich sind Menschen, Faro ist ein Mer. Sie hat keinen Grund, sich uns gegenüber loyal zu verhalten.

Überhaupt keinen Grund. Doch fühle ich mich ihr eng verbunden und spüre auch jetzt ihre beschützende Gegenwart. Ich vertraue ihr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns im Stich lassen würde.

»Natürlich kommt sie zurück«, sage ich mit Überzeugung.

Wir müssen einander an den Händen halten. Wer in der Tiefe davontreibt, ist für immer verloren. Der Gedanke daran bereitet mir Schwindel, als stünde ich an der Kante eines Abgrunds, während der Boden unter meinen Füßen zu bröckeln beginnt.

Festhalten. Faro greift um Conors Handgelenk, hilft ihm. Wir halten uns eng aneinander, wie Schiffbrüchige auf einem winzigen Eiland in Erwartung der Flut.

»Conor?«

»Alles okay, Saph. Ich bin hier.«

Die dunklen Gezeiten der Tiefe umgeben uns. Wir können nichts tun als zu warten und zu hoffen, dass der Wal den Glauben an uns nicht verloren hat. Wenn uns irgendjemand in dieser undurchdringlichen Finsternis ausfindig machen kann, dann sie. Pottwale haben das beste Sonarsystem der Welt, sage ich mir immer wieder. Sie wird uns mit ihrem Walradar orten – drei kleine Echos, weit von ihr entfernt, doch sie wird uns zielgenau entgegentauchen.

Was ist, wenn sie uns dabei zu nahe kommt? Dann würde sie uns mit ihrem Gewicht zerquetschen. Und selbst wenn wir den Zusammenstoß überlebten, würden wir zerschmettert auf den Meeresgrund sinken.

Doch an so etwas darf ich nicht denken. Ich muss meine Zuversicht behalten.

Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Habe keine Ahnung, wie lange wir schon hier sind. Weiß auch nicht, welcher Tag heute ist. Über Mum und Roger und allem, was mit zu Hause zu tun hat, liegt ein dichter Nebel. An Sadie wage ich gar nicht zu denken.

»Als würde man auf den Bus nach St. Pirans warten«, sagt Conor plötzlich.

»Bus?«, höre ich mein erstauntes Echo. Die Vorstellung eines Busses liegt mir so fern, dass ich anfangs nicht weiß, was Conor damit meint.

»Bus?«, fragt Faro betont beiläufig, weil er überspielen will, dass er nicht weiß, worüber gerade geredet wird.

»Der Bus von Senara nach St. Pirans geht nur zwei Mal am Tag«, erklärt Conor, »und trotzdem verpasst man ihn ständig. Da kann man am besten gleich laufen.«

Conors ungetrübte Erinnerung an die Menschenwelt setzt auch bei mir einen gefährlichen Schwall von Erinnerungen in Gang. Der Nebel, der alle Gedanken an die Erde umgibt, wenn ich in Indigo bin, lichtet sich ein wenig. Dafür werde ich plötzlich von Sehnsucht gepackt. Wenn Conor doch nur das Wort »laufen« nicht gesagt hätte. In der Abendsonne über das weiche, elastische Gras zu laufen. Über den harten, kalten Sand zu laufen, nachdem das Wasser sich zurückgezogen hat, und dabei Fußabdrücke zu hinterlassen wie diejenigen, die Robinson Crusoe auf seiner Insel entdeckt hat. Oder auf dem Asphalt der Straße den Hügel hinaufzulaufen, den Geruch von Teer, Staub und Benzin in der Nase …

Ich darf das nicht tun. Ich muss dafür sorgen, dass meine Erinnerungen sich wieder in Nebel hüllen. Die Tiefe bereitet mir plötzlich Schmerzen. Ich habe Angst. Der Druck presst mich zusammen, meine Rippen drohen zu brechen. Es ist deine eigene Schuld, sage ich mir ärgerlich. Du hättest nicht an Sand und Straßen und all die anderen Dinge, die es auf der Erde gibt, denken sollen. Nachdem Conor damit angefangen hat, ist die Luft in dich eingedrungen. Lass sie wieder entweichen. Du bist in Indigo. Indigo.

Bei unserer ersten Begegnung hat der Wal mir erzählt, dass auch die Tiefe ein Teil von Indigo ist. Wie kann etwas nicht zu Indigo gehören, wo ich mich aufhalte?, hat sie gesagt. Sie hat über mich gelacht, doch ihr Lachen war voller Wohlwollen und Sympathie. Ich glaube, sie hält mich für viel jünger als ich bin. Vielleicht, weil Pottwalbabys unmittelbar nach ihrer Geburt schon eine Tonne wiegen. Damit verglichen muss ich ihr wie eine Kaulquappe vorkommen.

Der Druck der Tiefe hat wieder nachgelassen. Conor und Faro sind bei mir, und der Wal ist auf dem Weg zu uns. Daran sollte ich stets denken.

»Ich bin so müde«, sagt Conor, dessen Stimme sich plötzlich schwerfällig anhört. »Ich mach nur kurz die Augen zu, während wir warten.«

»Auf keinen Fall!«, ruft Faro. »Du musst wach bleiben, Conor!«

»Nur ein kleines Schläfchen …«

Auch ich würde gern ein bisschen schlummern. Nachdem Conor es ausgesprochen hat, spüre ich ebenfalls eine bleierne Müdigkeit. An meinen Armen und Beinen scheinen Gewichte zu hängen. Nur ein kleines Schläfchen, bis der Wal kommt. Meine Lider brennen schon von der Anstrengung, die Augen offen zu halten. Der Druck der Tiefe zwingt sie nach unten. Ich will nichts als schlafen, für einen kurzen Moment alles um mich her vergessen und mich ein bisschen ausruhen …

»Nein, Sapphire, nein!«

»Nur ein bissch … Far …«

Faros Nägel bohren sich in meinen Arm. »Sapphire, wach auf!«

»Lass mich … ich bin doch wa…«

»Lass … lass doch meine Schwes …«

»Damit sie stirbt? Willst du das? Wir müssen durchhalten. Du musst wach bleiben, Conor!«

Faros Stimme schwillt an und schrillt in meinen Ohren. Sie erreicht mein Gehirn und will mich wach rütteln. Wie in einem Albtraum sehe ich Conor davontreiben, mit ausgestreckten Armen, die vergeblich versuchen, Faro und mich zu erreichen. Immer weiter treibt er fort, bis wir ihn schließlich weder hören noch sehen können. So wird er für alle Zeiten durch die Felsen und Furchen der Tiefe treiben, bis eines Tages selbst seine Knochen verschwunden sein werden.

Mit größter Mühe befreie ich mich aus dem engmaschigen Netz des Traumes, packe Conor an der Schulter und schüttele ihn so fest ich kann. »Wach auf, Conor, wach auf!«

»Schon gut, Saph. Ich bin doch wach. Kannst du dem Wal nicht sagen, er soll sich ein bisschen beeilen?«

Natürlich kann ich das nicht. Der Wal ist so riesig und ich so winzig. Ich habe nicht die geringste Macht über sie.

Dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass sie endlich hier wäre. Dass ich ihre schartige Haut berühren, ihre mächtige Flanke hinaufschwimmen und ihre Stimme hören könnte. Selbst der schlechteste Witz der Welt wäre mir willkommen. Welche Wale trinken zu viel? Die Blauwale. Und wie nennt man das, was du uns versprochen hast? Ein Walversprechen. Wenn du nicht kommst, ist das Walbetrug. Na, sind die schlecht genug für dich, lieber Wal?

Die Tiefe gerät in Bewegung. Das Wasser wogt und schäumt, als hätte ein Meeresbeben eine riesige Welle erzeugt. Verzweifelt klammern wir uns aneinander, während wir hin und her geworfen werden.

»Hallo, kleiner Nacktfuß.«

»Wal!«

»Schnell, Kleine, geh hinter meiner Flosse in Deckung. Und deine Begleiter bitte auf die andere Seite.«

»Aber wir können uns jetzt nicht trennen. Sonst verlieren wir uns.«

»Ich muss aber mein Gleichgewicht halten, wenn ich euch sicher durch die Berge transportieren soll.«

»Wir müssen zusammenbleiben, bitte!«

Die Stimme des Wals grummelt ungeduldig. »Wir haben jetzt keine Zeit für Diskussionen. Ich muss wieder an die Luft. Hört zu, ich kann euch auch in meinem Mund mitnehmen.«

»In deinem …«

»Schnell. Ein Riesentintenfisch hat mich angegriffen, als ich hierher kam. Der wartet bestimmt, dass ich wieder bei ihm vorbeikomme. Die werden hier unten ganz schön frech, diese Biester.«

Aber wie können wir zu ihr in den Mund gelangen? Vielleicht verschluckt sie uns versehentlich. Dann ergeht es uns wie Jona in der Geschichte mit dem Wal. Leider kann ich mich nicht mehr an das Ende erinnern. Irgendwie muss Jona wieder herausgekommen sein, sonst wäre es ja keine berühmte Geschichte, aber wie?

»Wir tun, was sie sagt«, mischt sich Faro ein. »Sie wird uns schon nicht verschlucken.«

»Bist du sicher?«

»Wie soll ich da sicher sein? Aber wir sterben mit Sicherheit, wenn wir noch länger hierbleiben. Und auf die andere Seite finden Conor und ich in der Dunkelheit auch nicht.«

Ein Riesentintenfisch. Lieber will ich im Mund des Wals sein als einem Riesentintenfisch begegnen. Da riskiere ich es sogar, verschluckt zu werden.

*

Wir spüren die gewaltige Bewegung des Wals, als sie eine neue Position einnimmt. Sie weiß genau, wo wir sind. Wasser wirbelt auf, dann dröhnt ihre Stimme so laut und nah, als wären wir bereits in ihrem Mund. »Mein Mund ist offen. Schwimmt einfach geradeaus.«

Faros Schwanzflosse treibt uns an. Ich bin kaum noch in der Lage, meine Beine zu bewegen. Ich bin so müde und habe eine solche Angst. Wie Jona werden wir innerhalb des Wals reisen. Ich versuche mich zu erinnern, wie das Innere ihres Munds aussieht. Sie hat nur eine Zahnreihe, das weiß ich noch, die in ihrem Unterkiefer sitzt. Mit diesen Zähnen könnte sie einen Riesentintenfisch in Stücke reißen.

»Dir wird nichts passieren, Kleine.«

Ich spüre genau den Moment, in dem wir die Grenze zu ihrem aufgeklappten Kiefer überqueren. Alles verändert sich. Wir sind nicht mehr im Bereich der Tiefe, sondern im Bereich ihres Körpers.

Die riesige Höhle ihres Mundes riecht leicht nach vergammeltem Fisch. Doch ich versuche, den Geruch zu ignorieren. Jedenfalls käme es mir ziemlich unverschämt vor, jemand für seinen Mundgeruch zu kritisieren, der sich alle Mühe gibt, uns das Leben zu retten.

Wir reden nur im Flüsterton miteinander, doch es hallt wie in einer Kathedrale.

»Alles in Ordnung, Conor? Faro?«

»Mit geht’s glänzend«, antwortet Conor nach einer kurzen Pause. »Bist du so auch letztes Mal aus der Tiefe herausgekommen, Saph? In ihrem Mund?«

»Nein, aber letztes Mal war ich auch nicht so weit unten.«

»Du warst also auch noch nie in ihrem Mund?«

»Nein, warum?«

»Weil ich gehofft habe, dass es da einen Präzedenzfall gibt.«

»Riesentintenfische und Pottwale tragen manchmal heftige Kämpfe miteinander aus«, sagt Faro düster. »Ich hab mal den Körper eines Wals an der Oberfläche gesehen, den mehrere Tintenfische angegriffen hatten. Man konnte immer noch die Abdrücke der Tentakel und die Bisswunden erkennen.«

Die Stimme des Wals lässt ihren Gaumen vibrieren. »Ich bin fertig, Kleine.«

Wir machen uns auf eine heftige Erschütterung gefasst, doch zunächst setzen wir uns sanft, fast unmerklich in Bewegung. Sonarechos kommen von allen Seiten. Wir müssen uns bereits im Tiefseegebirge befinden. Aber die Geräusche schmerzen nicht so sehr in den Ohren, wie dies auf dem Hinweg der Fall war. Vermutlich liegt das daran, dass ein ganzer Berg von Fleisch zwischen uns und den Geräuschen liegt.

Langsam und vorsichtig sucht sich der Wal seinen Weg durch die schroffen Unterwasserfelsen. Die Passage, in der wir uns jetzt befinden, muss sehr schmal sein, denn trotz all des Walspecks um uns herum ist es dröhnend laut geworden.

Irgendwann wird aus den Hammerschlägen wieder ein leises Pochen. Offenbar haben wir die Passage überwunden. Noch ein bisschen weiter, dann kann der Wal aufsteigen.

Plötzlich erhöht sich unser Tempo. Wir werden nach hinten, dann nach vorn geschleudert. Ich verliere den Kontakt zu Conors Hand. Der Wal rollt hin und her, mein Magen zieht sich zusammen. Ihr Körper bebt, als würde sie sich den Weg durch riesige Wellen bahnen. Erneut rollt sie zur Seite, bevor sie von einem mächtigen Stoß erschüttert wird. Ich verliere den Halt, krache gegen ihren gerippten Gaumen, lande auf der Zunge und werde als Nächstes gegen die Säulen ihrer Zähne geschleudert. Ein weiteres Beben geht mir durch Mark und Bein und lässt meine Zähne klappern.

»Sie wird angegriffen! Das muss ein Riesentintenfisch sein!«, höre ich Faros Stimme, doch ich kann ihn nicht erreichen, weil wir auseinandergerissen wurden. Sie scheint um ihr Leben zu kämpfen. Doch wie soll sie kämpfen, ohne ihre Zähne zu benutzen? Sie müsste ihre Kiefer öffnen, um sich verteidigen zu können. Doch dann würden wir aus ihrem Mund herausgeschleudert werden.

Der nächste Ruck. Als wäre man im Bauch eines Flugzeugs, das in einem Kriegsfilm durch die Luft taumelt, nachdem es angeschossen wurde. Ein ums andere Mal geht der Tintenfisch zum Angriff über. Wie lange kann sie noch durchhalten, ohne ihre Zähne zu benutzen?

»Halt durch … halt durch, meine Kleine«, höre ich das verzerrte Dröhnen ihrer Stimme.

»Du musst kämpfen, lieber Wal! Du darfst dich nicht töten lassen!«

»Aber nein, kleiner Nacktfuß. Halt dich fest, gleich geht’s nach oben.«

Riesentintenfische leben nur in den Felsspalten der Tiefe. Sie können einem Wal nicht nach oben folgen. Aber was passiert, wenn sie sich mit ihren Tentakeln schon an ihm festgesaugt haben?

Wir befinden uns inmitten des Kampfes, wissen aber nicht, was genau passiert. Wir können nur raten, was dort draußen in der Tiefe vor sich geht. Sicher versucht der Tintenfisch, seine Arme so weit wie möglich um unseren Wal zu schlingen. Sie drischt vermutlich mit ihrer Schwanzflosse auf den Gegner ein. Das Wasser um uns her muss in wildestem Aufruhr sein, während unser Wal verzweifelt darum kämpft, sich für einen Augenblick zu befreien, in die Höhe zu steigen und endgültig den Fängen des Riesentintenfischs zu entkommen.

Plötzlich erstirbt jede Bewegung. Sie liegt regungslos da, während wir in ihrem Mund ausharren. Sie wird doch nicht … Warum bewegt sie sich nicht? Sie ist tot, denke ich voller Grauen. Der Riesentintenfisch hat sie umgebracht. Sie ist tot und wir sind dafür verantwortlich. Sie ist doch nur in die Tiefe zurückgekehrt, um uns …

Aber dann beschleunigt sie so kraftvoll wie ein Flugzeug auf der Startbahn und rast in voller Fahrt nach oben.