Vierzehntes Kapitel
Der Krake erstarrt. Er ist nun weder eine Garnele noch ein Tintenfisch mit tanzenden Tentakeln oder eine Nacktschnecke. Er ist alles zugleich, wie ein Fernsehschirm, dessen Pixel durcheinandergeraten, bevor das Bild einfriert. Alle Wesen, deren Gestalt er abwechselnd angenommen hat, kleben förmlich an ihm.
Ich halte weiter den Spiegel in die Höhe. Was sollte ich auch sonst tun? Das Licht des Kraken wird schwächer. Faro und Conor kann ich immer noch erkennen, aber die Tiefe kommt näher und bedrängt uns.
»Ich kann ihn nicht länger halten, Conor.«
»Warte.«
Conor stützt von unten meinen Ellbogen. Faro greift zusätzlich um den Griff des Spiegels.
»Er wird immer schwerer. Er reißt sich los.«
Der Spiegel ist schwer wie Blei. Er will durch das schwere dunkle Wasser fallen, auf den Meeresgrund sinken, Sand und Gestein durchdringen, bis er den glühenden Kern der Erde erreicht hat. Dort wird er schmelzen, sich erneuern und auf einen weiteren Magier warten, der ihn aus der Tiefe zu sich ruft …
»Halt den Spiegel, Saph!«
Ich rüttele mich selbst wach. Ich bin so müde. Mag nicht mehr festhalten. Warum soll ich dem Spiegel nicht einfach gehorchen und ihn loslassen?
»Er bewegt sich, Faro!«, sagt Conor mit Schärfe.
Ich blicke auf, und was ich sehe, löst bei mir blankes Entsetzen aus. Die verschiedenen Gestalten des Kraken geraten in Bewegung und wirken umso monströser und furchteinflößender, weil sie nicht vollständig sind. Die riesige Nacktschnecke hat ein Loch im Bauch, durch das die Tiefe hindurchfließt. Die süße kleine Garnele hat keinen Kopf. Ein Tintenfischtentakel peitscht das Wasser auf, losgelöst von jedem Körper. Und der Spiegel zwingt meine Hand immer noch nach unten, als würde er von einem riesigen Magneten angezogen, der sich im Mittelpunkt der Erde befindet.
Conor und Faro mobilisieren alle Kräfte. Muskeln und Sehnen sind zum Zerreißen gespannt. Wir stützen uns gegenseitig und kämpfen zu dritt darum, dass der Spiegel nicht fällt. Doch der Krake gewinnt. Er kehrt zurück, setzt sich erneut zu den scheußlichsten Kreaturen seines Ichs zusammen und ist bereit zum Kampf.
In diesem Moment kratzt etwas an meinem Bein, wie die Spitze eines Zweigs. Da ist etwas in meiner Hosentasche.
Luft und Erde kehren so machtvoll zu mir zurück, dass es mir fast den Atem raubt. Ich muss die Luft entweichen lassen.
Aber diesmal ist die Erde bei mir. Ich hatte fast vergessen, dass die Vogelbeeren in meiner Tasche sind. Granny Carne hat mir gesagt, ich solle sie stets bei mir tragen, weil sie voller Erdmagie sind.
Aber was kann die Erdmagie in der Tiefe schon ausrichten? Als mir dieser Gedanke durch den Kopf schießt, kratzen die Vogelbeeren erneut an meinem Bein, als wollten sie mir etwas mitteilen. Als wollten sie mit mir kommunizieren – und mir helfen.
Aber die Erde und Indigo sind Gegensätze. Dass die Erde Indigo helfen will, ist unmöglich.
Granny Carne hat mir die Vogelbeeren gegeben. Vielleicht hat sie etwas vorhergesehen. Vielleicht müssen sich die Erde und Indigo verbünden, weil ihr gemeinsamer Feind so mächtig ist …
Die Gedanken wirbeln so schnell durch meinen Kopf, dass alles innerhalb einer Sekunde zu geschehen scheint. Die Erde geht mit Indigo eine Verbindung ein, so wie sie sich auch in meinem Blut vermischt haben.
Der Spiegel zieht mich am Arm. Die Kraftanstrengung, den Spiegel zu halten, lässt die Adern auf Conors Stirn hervortreten. Aber der Spiegel ist so schwer wie ein Grabstein, der sich langsam neigt und jeden Moment fallen kann. Wir können ihn nicht mehr festhalten. Der Metallgriff gleitet uns durch die Finger und löst sich von unseren Händen. Der Spiegel dreht sich herum und versinkt in der schwarzen Tiefe. Ein letztes Mal blinkt er noch auf, dann ist er verschwunden.
Der Krake baut sich in all seinen grauenhaften Trugbildern vor uns auf.
»Oh ja ja ja ja ja ja ja ja«, kichert er. »Ihr habt schon geglaubt, ihr hättet den Kraken besiegt. Doch niemand besiegt den Kraken. Niemand siegt außer mir. Euer dummer dummer dummer Spiegel ist weg und kann nie wieder jemand wehtun. Aber mir hat er wehgetan. Oh ja ja ja ja. Er hat den Kraken fast zum Weinen gebracht. Also muss ich jetzt euch wehtun, damit es gerecht ist. Zuerst dem Mer-Jungen und dann dir, myrgh kerenza.«
Conor schirmt mich mit seinen Armen ab. »Du musst zuerst mich umbringen, wenn du ihr etwas antun willst.«
»Oh ja ja ja ja ja, keine Sorge, ich werde dich gleich töten. Ihr werdet alle sterben, das steht fest. Tricki tracki tricki tracki. Was seit ihr doch für ein tragisches Tricksertrio. Eure Tricksereien haben euch nichts gebracht. Ihr wolltet den Kraken hinters Licht führen, und das gefällt dem Kraken überhaupt nicht. Ich sag euch, was er mit Tricksern und Täuschern macht. Er lässt sie sich schmecken. Das wird ein Spaß, ich verspreche es euch. Erst der Mer-Junge, dann du, myrgh kerenza, und dann, nachdem du dir alles mit angesehen hast, bist du dran, kleiner Sänger! Und du gehst mir aus dem Weg, wenn ich es dir sage.«
Die Vogelbeeren. Die Stimme des Kraken klappert in meinen Ohren wie eine Klaue. Ich muss an die Vogelbeeren denken. Die Vogelbeeren beschützen mich. Halten alles Übel von mir fern.
Es ist das Einzige, was ich noch tun kann. Die Erde und Indigo miteinander zu verbinden. Du musst es versuchen, Sapphire.
Ich lasse meine Hand ganz langsam nach unten gleiten, um die Aufmerksamkeit des Kraken nicht auf mich zu ziehen. Er kann jeden Moment zum Angriff übergehen, doch zunächst will er uns noch ein bisschen verhöhnen. Ich stecke meine Hand in die nasse, enge Öffnung meiner Jeanstasche. Meine Finger berühren die glühenden Beeren. Das Salzwasser hat ihnen nichts anhaben können. Sie haben sich nicht vollgesogen, sondern sind immer noch heiß und trocken. Nur mit Mühe kann ich einen Aufschrei unterdrücken, als ich sie berühre, doch ich glaube, der Krake hat nichts bemerkt.
Meine Finger schließen sich um die Beeren. Sie sind so heiß, als hätten sie im Feuer gelegen. Doch in der Tiefe gibt es kein Feuer. Das muss eine Täuschung sein. Ich habe mir nicht wirklich die Finger verbrannt. Ich beiße mir auf die Lippen und verdränge die Übelkeit und den Schmerz.
Sei nicht so eine Memme. Wenn du die Vogelbeeren loslässt, hast du gar nichts mehr.
Ich ziehe die geschlossene Hand aus der Tasche, in der sich die Vogelbeeren befinden. »Krake«, sage ich. »Krake!« Ich komme mir vor wie ein Torero, der dem Stier ein rotes Tuch entgegenhält. »Sieh mal, ich hab hier was für dich.«
Diesmal erstarrt der Krake nicht, kommt aber zur Ruhe. Seine Augen glühen wie im Fieber. »Etwas für mich?«
»Ja.«
»So wie deinen Spiegel Spiegel Spiegel Spiegel Spiegel …?«
»Es ist kein Spiegel.«
Ich öffne die Hand, in der die Vogelbeeren liegen, und halte sie ihm entgegen. Das Gewicht der Tiefe drückt die brennenden Beeren in meinen Handteller.
Der Krake schaut mit seinen Nacktschneckenaugen, seinen Garnelenaugen und all den anderen Augen seines Körpers.
»Das kommt nicht aus der Tiefe«, grummelt er. »So etwas darf es in der Tiefe nicht geben.«
»Uns auch nicht«, entgegne ich und schaue ihn an. »Menschen können in der Tiefe nicht existieren, Krake. Mer ebenfalls nicht. Doch trotzdem sind wir hier.«
»Saldowr hat euch das nicht gegeben. Ich beiß dir die Finger Finger Finger Finger Finger ab, wenn du das behauptest.«
»Das ist nicht aus Saldowrs Schatzkammer. Es ist nicht aus Indigo. Man muss es vor der eigenen Schwelle einpflanzen, Krake. Dann kann nichts Böses mehr über diese Schwelle kommen.«
Ein furchtbar enttäuschtes Seufzen dringt aus den vielen Bäuchen des Kraken.
»Ich hätte euch alle töten sollen«, stöhnt er. »Ich hätte euch töten sollen, als ich die Chance dazu hatte.«
Conor, Faro und ich befinden uns in einer Linie, während ich die Hand mit den Beeren ausstrecke. Sie schützen uns besser als jeder Verteidigungswall. Die blutroten Beeren scheinen in goldenem Feuer gebadet worden zu sein und verströmen jetzt einen hellen Schein, der die Tiefe erleuchtet. Der Krake ächzt gequält.
»Nimm sie weg! Du darfst sie nicht zum Leben erwecken. Nein nein nein nein nein nein. Gib sie mir, und ich werde sie in tausend tausend Stücke zerbrechen. Der Krake will sie haben, der Krake will sie haben …«
»Nein, der Krake bekommt sie nicht!«
Der Krake sieht an sich hinunter, an seiner Schneckenspur, die sich durch das Wasser zieht, dem Tentakel ohne Körper und der kopflosen Garnele. Er hebt seine missgestaltete Klaue, die nun mächtig zittert.
»Der Krake mag das nicht«, stöhnt er. »Oh nein nein nein nein nein nein nein. Der Krake mag das Licht nicht.«
Seine Stimme hat sich verändert. Bosheit und Hass sind verschwunden. Es klingt wie das Wehklagen von jemand, der einen unwiederbringlichen Verlust erlitten hat. »Oh nein nein nein nein nein«, jammert der Krake. »Zeig mir nicht das Licht. Der Krake wollte nie jemand wehtun. So böse Sachen tut der Krake nicht. Ich will das nicht sehen.«
Faro verschränkt die Arme und wirft dem Kraken einen kalten Blick zu. »Er sieht sich selbst«, sagt er.
In höchster Anspannung beobachten wir den Kraken, der sich abermals verändert. Seine vielen Gestalten fallen von ihm ab wie alte Lumpen. Noch immer halte ich ihm die Vogelbeeren entgegen. Nichts Böses kommt an ihnen vorbei. Nichts Böses …
Ein dunkler Wasserwirbel hüllt den Kraken ein, sodass er für ein paar Sekunden vor uns verborgen ist. Irgendetwas peitscht das Wasser auf. Es ist eine Schwanzflosse. Die starke Schwanzflosse einer Robbe, die ebenso glänzt wie die von Faro. Ein Schwall von Haaren, leuchtend wie Tang, umspielt das Gesicht eines …
Eines Mer? Eines Menschen? Es ist eine Mischung aus Mer und Mensch. Seine Augen sind dunkel, ohne den silbrigen Glanz von Mer-Augen.
»Wer bist du?«, frage ich.
Ein glatter Wasserumhang hüllt den Körper des Kraken ein und verdeckt ihn halb.
»Ich will schlafen«, sagt er.
»Schlafen?«, wiederhole ich.
»Cusca, cusca, cusca«, stöhnt der Mensch-Mer-Krake. »Ich habe nie jemand wehgetan. Ich habe nichts getan. Ich will jetzt wieder schlafen.«
»Dann schlaf«, sagt Conor. »Schlaf tausend Jahre lang, Krake.«
»Aber vielleicht habe ich schlimme Träume«, stöhnt der Krake.
»Die Vogelbeeren werden dich einschlafen lassen«, sage ich. Die Wörter kommen mir über die Lippen wie Wiegenlieder, die ich vor Jahren vergessen hatte. »Du wirst keine Albträume haben. Du wirst hier sicher im Dunkeln sein. Cusca cusca cusca, Krake. Zeit, um zu schlafen.«
Ich verleihe meiner Stimme einen so sanften Klang, als würde ich ein kleines Kind ins Bett bringen. Die Vogelbeeren leuchten heller als je zuvor und brennen in meiner Handfläche. Ich strecke meine Hand weiter aus und berühre den Kraken mit den Vogelbeeren.
Das Maul des Kraken weitet sich zu einem schwarzen Loch. Es ist eine riesige, dunkle Öffnung ohne Inhalt. Ein Nichts. Das kreisförmige Maul weitet sich. Es ist jetzt so groß wie ein Fußball, stülpt sich nach außen und nimmt alle monströsen Gestalten des Kraken in sich auf. Eine schwarze Höhle, die vom Rest des Kraken wie von einem dünnen Rand umgeben wird. Dünner und dünner wird dieser Rand, wie ein Gummiband, das zum Zerreißen gespannt ist. Schließlich fängt das große, schwarze Maul an zu beben, ehe es den Kraken verschluckt.
Wird er noch mal zurückkommen? Wir rechnen schon damit, dass jeden Moment die grässliche Garnele erscheint, um uns erneut zu verhöhnen.
Sekunden vergehen. Dann verschmilzt das schwarze Maul ganz langsam mit der Finsternis, die es umgibt. Der letzte Schimmer des Kraken verlischt. Wir befinden uns wieder im absoluten, tröstlichen Dunkel der Tiefe.
»Er ist weg«, sagt Conor.
»Ja, er ist weg«, bestätigt Faro.
Nach einer langen Pause fügt Faro mit veränderter Stimme hinzu: »Ich hoffe, dass er welche kriegt.«
»Was meinst du?«
»Na, Albträume! Ich hoffe, er kriegt jede Menge Albträume.«
Conor und ich sagen kein Wort. Wir haben keine Energie mehr. Der Krake ist verschwunden, doch noch können wir unseren Triumph nicht genießen – noch nicht. Wir sind allein in der Tiefe, Hand in Hand. Das einzige Licht kommt von den Vogelbeeren in meiner Hand, doch als ich einen Blick auf sie werfe, hören sie auf zu leuchten, als wüssten sie, dass ihre Arbeit erledigt ist. In tiefstem Dunkel bleiben wir zurück.