Fünftes Kapitel
Es ist ein grauer Abend und schon fast dunkel, als ich Indigo wieder verlasse. Frierend stolpere ich über die Felsen. Faro ist verschwunden, und die düstere raue See verbirgt alles unter ihrer Oberfläche.
Warum habe ich nicht ein paar trockene Kleider zwischen den Steinen deponiert? Weil du nicht wusstest, dass du nach Indigo gehen würdest, du Idiotin! Zitternd und bibbernd klettere ich über den grasbewachsenen Felsvorsprung und betrete den Pfad, der zu unserem Haus hinaufführt. Die dornigen Brombeerzweige des vergangenen Jahres stechen in meine Hände. Was erwartet mich zu Hause? Ich war stundenlang unterwegs. Ich saß in der Sonne, als Morlader uns abholte, und jetzt ist es Abend.
Ich erreiche das Eingangstor, drücke mich an der Eberesche vorbei und öffne die Haustür. Wir machen uns nie die Mühe, sie abzuschließen, wenn wir weggehen.
Ich hoffe, es hat niemand gesehen, wie ich mit tropfenden Klamotten hierher gelaufen bin.
»Conor? Mum? Roger?«, rufe ich. Doch ich weiß, dass sie nicht da sind. Man spürt immer sofort, wenn das Haus leer ist, weil es dann eine ganz andere Atmosphäre hat. Meine Stimme erzeugt ein Echo, als wäre das Haus eine Muschel. Ich laufe hinauf ins Badezimmer, ziehe rasch meine Sachen aus, nehme mir ein Handtuch und rubbele mich von Kopf bis Fuß ab, bis meine Haut prickelt. Dann muss ich mir welche von den gebrauchten Klamotten anziehen, die ich nicht ausstehen kann. Und rasch das Salz aus den nassen Kleidern spülen, ehe diese einlaufen.
Mum darf davon nichts erfahren. Ich ziehe eine abgetragene Jeans an, die mir ein wenig zu groß ist, und ein grünes Oberteil, das von den Secondhandteilen noch mit das Beste ist. Mit dem nassen Kleiderbündel in der Hand stapfe ich wieder die Treppe hinunter, stopfe es rasch in die Waschmaschine und drücke auf Spülen und Schleudern.
Conor und Sadie sind wahrscheinlich immer noch bei Rainbow und Patrick. Mum und Roger sind schon seit Stunden in Porthnance, vermutlich kaufen sie die ganze Stadt leer. Oder sie genießen die »Zeit für sich«. Das sagt Roger jedenfalls manchmal: Deine Mum und ich brauchen ein bisschen Zeit für uns. Ich finde das extrem irritierend, wenn man bedenkt, dass Conor und ich sowieso den Großteil des Tages nicht zu Hause sind. Wie viel Zeit für sich brauchen sie denn noch?
Ich mache mir einen Becher Tee und ein Bananensandwich und stelle beides auf den Tisch. Mein Körper ist taub vor Müdigkeit. Es ist nicht das Schwimmen, das mich so ausgelaugt hat. Ich kann viele Kilometer in Indigo zurücklegen, ohne müde zu werden. Aber der Tunnel, meine Angst, die Anspannung während der Versammlung und die Auseinandersetzung mit Ervys haben mich doch ziemlich mitgenommen. Zumindest blieb es Faro und mir erspart, ein zweites Mal den Tunnel durchqueren zu müssen. Wir haben denselben Rückweg genommen wie die meisten Mer. Er nimmt zwar mehr Zeit in Anspruch, ist aber sehr viel angenehmer. Eine zweite Konfrontation mit dem Tunnel hätte ich nicht durchgestanden. Es ist leichter, gewisse Dinge das erste Mal zu tun, solange man noch nicht weiß, wie schwierig sie sind.
Oh, nein! Conors Korallenfigur ist immer noch in der Reißverschlusstasche meiner Hose. Ich unterbreche den Waschgang der Maschine und ziehe meine Sachen heraus. Auf dem Fußboden bildet sich eine Wasserlache, aber das ist mir jetzt egal. Ich öffne den Reißverschluss und habe im nächsten Moment den Talisman in der Hand. Vorsichtig lege ich ihn auf den Tisch. Dann stopfe ich die Kleider in die Maschine zurück, schalte sie wieder ein und wische den Boden auf.
Ich setze mich hin. Im elektrischen Licht sieht die kleine geschnitzte Figur hübscher aus als je zuvor. Verträumt betrachte ich sie, bewundere die geschwungene Schwanzflosse, die fließende Bewegung der Haare und die elegante Linie des Körpers. Ich weiß genau, wie sie sich fühlt, wenn sie in Indigo eintaucht und die Wasseroberfläche durchschneidet wie ein Rasiermesser ein seidenes Tuch. Obwohl Rasiermesser das falsche Wort ist. Indigo heißt dich willkommen, doch ein Seidentuch würde ein Rasiermesser niemals willkommen heißen. Manchmal habe ich das merkwürdige Gefühl, dass Indigo sich genauso nach mir sehnt, wie ich mich nach Indigo sehne. Als würden wir nur gemeinsam ein Ganzes ergeben. Ich muss mit Faro darüber reden …
Dann bleiben meine Augen an der Schlagzeile der Zeitung hängen, die irgendjemand auf dem Tisch ausgebreitet hat.
»Neuer Aktionsplan gegen weitere Flutkatastrophen in St. Pirans«, lese ich. Als wären die Menschen in der Lage, die Gezeiten in Schach zu halten. Ich ziehe die Zeitung zu mir heran, um mehr zu lesen. Dann wird mir klar, dass es sich um den Cornishman handelt. Der Cornishman erscheint jeden Donnerstag, doch heute ist Mittwoch. Das muss die Ausgabe von letzter Woche sein.
Ich werfe einen Blick auf das Datum. Das ist unmöglich. Ich zwinkere, doch die Zahlen bleiben dieselben. Ich habe eine Zeitung vor mir, die erst morgen erscheint.
Wie lange war ich fort? Ich muss mit Conor sprechen. Aber die Flut hat ihm sein Handy genommen, und im Moment hat er kein Geld, um sich ein neues zu kaufen. Ich muss unbedingt mit ihm reden, bevor ich mit Mum rede – dann weiß ich, was passiert ist. Falls ich tatsächlich für anderthalb Tage verschwunden war, wird Mum in der Zwischenzeit die Polizei und die Küstenwache alarmiert und Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben. Aber bis jetzt gibt es dafür keine Anzeichen. Das Haus ist unverändert. Ich weiß noch, wie es aussah, nachdem Dad verschwunden war. Da haben sich hier ständig Nachbarn und Männer in Uniform aufgehalten, und in einer Tour hat das Telefon geklingelt.
Es liegt nicht einmal eine Nachricht für mich auf dem Tisch. Und Mum hätte mir natürlich eine Nachricht hinterlassen. Sie hätte nicht einfach gedacht: Tja, Sapphy ist zwar seit sechsunddreißig Stunden verschwunden, aber es wird schon nichts passiert sein. Jetzt brauchen Roger und ich erst mal ein bisschen Zeit für uns.
Ich weiß genau, dass Conor bei Rainbow und Patrick ist. Vielleicht wissen sie etwas. Irgendwo haben wir ihre Nummern notiert. Die Festnetzleitung wird nach der Flutkatastrophe wohl kaum schon wieder funktionieren. Aber die Handys …
Ich finde Rainbows Nummer in der Anrufliste unseres Telefons, und Gott sei Dank höre ich nach dem Wählen sofort ein Freizeichen. Nach sechs Signalen hebt jemand ab.
»Hallo?«, sage ich.
»Hier ist Rainbow.«
»Rainbow? Hier ist Sapphy. Ist Conor immer noch bei euch?«
»Oh, hallo, Sapphy.« Ihre Stimme klingt entspannt, freundlich, sorglos. »Was ist, kommst du noch zu uns rüber?«
»Äh, nein, im Moment … ich wollte nur kurz mit Conor reden.«
»Warte mal …«
Im Hintergrund höre ich Conors Stimme. »Oh, danke … Ich gehe mal eben in die Küche, ja?«
Ich höre Schritte, dann eine Tür, die geschlossen wird. Er ist in die kleine Teeküche bei Patrick und Rainbow gegangen. Ich halte die Verbindung und warte ab. Conor sagt nichts, doch ich weiß, dass er da ist, weil ich ihn atmen höre.
»Ich bin’s«, sage ich schließlich. »Alles okay bei dir?«
»Ob alles okay ist bei mir?«, zischt Conor wütend. »Sag mal, hast du sie noch alle? Du bist seit gestern verschwunden!«
»Mir geht’s gut, Conor. Ich war in …«
»Ich weiß, wo du warst.«
»Hat Mum irgendwas mitgekriegt?«
»Die ist jetzt bei der Arbeit. Sie denkt, dass du auch hier bist. Ich habe sie gestern angerufen und gesagt, dass du uns beim Aufräumen und Saubermachen geholfen hast. Und dass wir beide hier übernachtet haben, weil es so spät geworden ist. Das war das absolut letzte Mal, Sapphy, dass ich für dich gelogen habe. Nächstes Mal kannst du dir selbst eine Lüge ausdenken.«
»Conor, ich …«
»Ich will nichts mehr hören. Rainbow und Patrick wissen nichts von der ganzen Sache. Wenn sie Mum zufällig treffen und die sie darauf anspricht, werden sie uns beide für Lügner halten. Warum denkst du nie nach, bevor du etwas tust? Warum springst du einfach ins Wasser und lässt alles zurück?«
Ich weiß jetzt keine Antwort darauf. Ich betrachte den Talisman, der auf dem Tisch liegt.
»Elvira hat mir etwas für dich mitgegeben«, sage ich leise. Ich höre, wie er nach Luft schnappt.
»Was ist es?«
»Ich kann es nicht richtig beschreiben. Ich muss dich sehen, Con.«
Plötzlich höre ich wildes Bellen im Hintergrund. Eine Tür wird aufgerissen. Rainbow entschuldigt sich: »Tut mir leid, Conor, aber Sadie wollte unbedingt zu dir. Ich konnte sie nicht zurückhalten.«
Das Bellen wird lauter und lauter.
»Ist schon gut, kleines Mädchen. Ich bin ja nicht weggegangen. Sitz, Sadie!«
»Lass mich mit ihr reden, Conor.«
»Sie weiß, dass ich mit dir rede, deswegen spielt sie auch so verrückt. Hier, Sadie.«
Sadie kläfft so laut, dass ich den Hörer vom Ohr nehmen muss, bis sie sich ein wenig beruhigt hat. Dann sage ich: »Ist ja gut, Sadie, ich bin ja da. Ich komme bald und hole dich ab.«
Sie versteht mich, ich weiß es ganz genau. Sie fiept und winselt. Es klingt flehentlich und erleichtert zugleich.
»Hör zu, Conor. Ich komme jetzt zu euch. Ich nehme dein altes Fahrrad. Ich muss unbedingt mit dir reden.«
»Würd ich an deiner Stelle auch tun«, sagt Conor grimmig, »und mach bloß dein Licht an.«
Fast hätte ich den Fehler begangen, Mum eine Nachricht zu hinterlassen, wo ich bin. Mir fällt gerade noch rechtzeitig ein, dass ich angeblich ja schon die ganze Zeit dort bin. Aber meine Kleider sind in der Waschmaschine. Das würde Mum bestimmt nicht entgehen, und dann wüsste sie auch, dass ich hier in unserem Haus und nicht die ganze Zeit in St. Pirans war …
Ich muss nachdenken. Mum ist bei der Arbeit, Roger irgendwo – ich muss es so aussehen lassen, als wäre ich gar nicht hier gewesen. Ich werfe einen prüfenden Blick in das Badezimmer, trinke dann meinen kalt gewordenen Tee aus, esse den Rest des Bananensandwichs, wasche die Beweisstücke gründlich ab und stelle Becher und Teller wieder an ihren Platz zurück. Währenddessen ist das Programm der Waschmaschine fast fertig. Ich warte ungeduldig, bis der Schleudergang endlich seine letzten schlappen Umdrehungen absolviert hat. Schließlich geht das rote Licht aus und ich kann die Tür öffnen. Ich stopfe die Klamotten in eine Plastiktüte und verstecke sie im Garten unter einem Stachelbeerstrauch, falls Mum in meinem Zimmer nachsehen sollte. Morgen werde ich sie zum Trocknen aufhängen.
Jetzt muss ich darüber nachdenken, wie ich nach St. Pirans komme. Ich kann zwar Conors altes Fahrrad nehmen, darf aber nicht mitten durch den Ort fahren. Mum könnte mich sehen, falls sie im Pub gerade mal aus dem Fenster guckt. Und selbst wenn sie mich nicht selbst sieht, könnte ihr jemand erzählen, dass ich gerade durch St. Pirans geradelt bin.
Es ist schon fast dunkel. Wahrscheinlich wird es genügen, wenn ich einen Kapuzenpullover anziehe und mich dicht über das Lenkrad beuge. Unter den neuen Kleidern, die ich bekommen habe, befindet sich irgendwo ein grauer Kapuzenpullover. Darin wird mich niemand erkennen.
Jedenfalls hoffe ich das. Hier in Senara Churchtown kennt jeder jeden. Mum sagt immer, dass du nicht an einem Ende des Orts niesen kannst, ohne dass jemand am anderen Ende dich fragt, ob du dich erkältet hast.
Ich muss nur schnell genug fahren. Um die Küstenstraße zu nehmen, ist es zu dunkel. Ich schließe die Haustür hinter mir, rolle das Fahrrad aus dem Schuppen und mache mich auf den Weg.
*
Ich radele am Pub und an der Kirche vorbei, lasse die Reihe der Häuser, die sich am Friedhof entlangziehen, hinter mir und biege auf den ansteigenden Weg ein, der direkt nach St. Pirans führt. Die Dämmerung schreitet fort. Es ist jetzt fast ganz dunkel. Das Fahrradlicht schwankt vor mir her, wirft auf den schmalen Weg und die dichten Hecken ein spärliches Licht. Ich trete heftig in die Pedale, doch es ist ein langer, steiler Anstieg, der aus Senara hinausführt, und so kann ich das Tempo nicht durchhalten. Wenigstens hat mich bis jetzt noch keiner gesehen …
Von einem auf den anderen Moment steht sie vor mir, Granny Carne. Sie tritt so unvermittelt auf den Weg, als hätte sie in der Hecke auf mich gewartet. Als hätte sie gewusst, dass ich genau hier vorbeikomme. Sie hebt die Hand und ich halte an.
»Wohin so spät, mein Mädchen?«
»Och, ich … will nur nach St. Pirans … ein paar Freunde besuchen.«
Granny Carne mustert mich. Ihre Augen leuchten wie die einer Eule bei Nacht.
»Wie merkwürdig«, sagt sie schließlich. »Deine Mutter hat mir erzählt, dass du seit gestern in St. Pirans bist. Und jetzt sehe ich dich hier, das Haar voller Salz und die Haare verfilzt wie Tang. Gloria Fortune sagte, sie hätte dich auf dem Weg beobachtet, als du von Indigo zurückgekehrt bist.«
»Das kann sie nicht gesagt haben! Gloria weiß doch gar nicht, dass Indigo existiert.«
»Sie kennt den Namen nicht, das stimmt. Sie sagte, du hättest so seltsam ausgesehen, als wärst du direkt aus einem Traum gekommen. Sie war sich ganz sicher, dass du von der Bucht kamst. Sie sehnt sich selbst nach der Bucht, Sapphire. Tag für Tag sehnt sie sich mehr danach, und wäre ihr Bein wieder in Ordnung, wäre sie längst selbst die Felsen hinuntergeklettert. Du weißt, warum. Aber ich arbeite mit den Bienen daran, dass sie hierbleibt, wo sie hingehört. Also komm mir bei meiner Arbeit nicht in die Quere, Sapphire.«
Das ist so ungerecht. Granny Carne kann doch nicht wirklich glauben, dass ich versuche, Gloria Fortune nach Indigo zu locken. Ich habe immer gut aufgepasst. Ihr gegenüber nie ein Wort verloren. Nicht nur, weil ich Indigo vor ihr verbergen will, aber ihr Leben wird nie wieder dasselbe sein, wenn sie erst einmal entdeckt, dass auch sie Mer-Blut besitzt. Was ist, wenn sie verschwindet, so wie Dad?
Granny Carnes bernsteinfarbener Blick durchdringt die Dunkelheit, als wäre es helllichter Tag.
»Was hast du aus Indigo mitgebracht, mein Mädchen?«
»Was … was meinst du, Granny Carne?«
»Du hast etwas bei dir. Ich spüre es. Etwas, das nicht von menschlicher Hand gemacht ist.«
Natürlich meint sie die Koralle, aus der Elvira die kleine Figur geschnitzt hat. Die Mer-Figur für Conor. Aber wie kann sie das wissen? Sie ist doch in meiner Tasche versteckt. Als hätte Granny Carne tatsächlich im Gefühl, dass ein Gegenstand in der Nähe ist, der nicht zur Erde gehört.
»Zeig es mir!«, sagt Granny Carne mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet.
Ich steige vom Fahrrad und lehne es auf dem Grasstreifen gegen mein Bein. Der Lenker schwingt in meine Richtung und die Lampe beleuchtet meine Hände, als ich in die Tasche greife und vorsichtig den Talisman herausziehe, den ich in eines von Dads alten Taschentüchern eingeschlagen habe. Behutsam falte ich es auseinander. Wenn ich den Talisman hier im hohen Gras verliere, finde ich ihn vielleicht nicht wieder.
Da ist die kleine Mer-Figur. Sie sieht lebendiger aus als je zuvor. Das Licht der Lampe fängt die geschwungene Schwanzflosse und die gestreckten Arme ein. Ein plötzlicher Windstoß setzt das Gras in Bewegung. In der Ferne heult eine Eule.
»Zeig es mir, Sapphire«, wiederholt Granny Carne.
Ich strecke ihr die Figur entgegen.
Ich höre, wie sie den Atem einzieht. Sie beugt sich über die Figur, um besser sehen zu können. Ich nehme ihren Geruch nach Honig, Lavendel und Holzrauch wahr. Ihr zerfurchtes Gesicht ist ernst, als sie den Talisman betrachtet.
»Willst du sie behalten, Granny Carne?«
»Nein, mein Mädchen. Das ist nichts für mich. Du brauchst mir nicht zu erzählen, woher das kommt. Es genügt dir also nicht mehr, nach Indigo zu gehen und Luft und Erde und alles, was dazugehört, zu vergessen. Jetzt musst du Indigo auch noch bei dir tragen, wenn du zu uns zurückkehrst. Merkst du denn nicht, wie weit du dich von uns entfernst?«
Ich hätte Granny Carne am liebsten erklärt, dass die geschnitzte Figur nicht für mich, sondern für Conor ist, doch irgendetwas hält mich davon ab. Granny Carne sieht die Erdseite von Conor. Sie vertraut ihm. Sie hat ihn sogar mit den Bienen sprechen lassen. Sie würde verhindern wollen, dass ich ihm Elviras Talisman gebe, damit Indigo ihn nicht stärker an sich binden kann. Aber ich habe Conor schon davon erzählt, und ich weiß, dass er ihn haben will, weil Elvira den Talisman für ihn angefertigt hat. Da ist es besser, Granny Carne in dem Glauben zu lassen, er gehöre mir.
Aber ich werde sie nicht anlügen. Ihre Augen würden die Lüge sofort durchschauen. Ich schließe meine Finger wieder um die Figur und stecke sie in die Tasche zurück. Ich mache mir nicht die Mühe, sie erneut in das Taschentuch einzuwickeln; ich will den Talisman bloß so schnell wie möglich Granny Carnes Blicken entziehen.
»Du warst also wieder in Indigo, und offenbar hat dir nicht gefallen, was du dort vorgefunden hast«, fährt Granny Carne fort. Obwohl ich ihr den Zweck der Figur verschwiegen habe, fühle ich mich durch die Dunkelheit und die Stille veranlasst, ihr zu vertrauen.
»Granny Carne, jemand hat mir eine Geschichte von einem Monster erzählt, das auf dem Grund … der Erde lebt. Man muss ihm etwas opfern, sonst wird es alles zerstören. Niemand kann es aufhalten. Und so müssen die Leute … obwohl sie es nicht wollen …«
»Ja«, sagt Granny Carne ruhig. »Ich kenne diese Geschichte.«
»Du kennst sie? Aber woher?« Wie kann Granny Carne denn von dem Kraken erfahren haben? Sie ist durch und durch ein Erd- und Luftwesen. Ich bin mir so sicher, wie man nur sein kann, dass sie noch nie in Indigo war. Das entspricht nicht ihrer Natur. Granny Carne ist das Gegenteil von Indigo.
»Es war vor langer Zeit«, fährt sie fort. Im fahlen Licht der Fahrradlampe scheinen die Furchen in ihrem Gesicht noch tiefer zu sein. »Er lebte in den Eingeweiden der Erde. Manche sagten, er sei ein Mann, andere sagten, er sei ein Bulle. Oder halb Mann, halb Bulle. Angeblich klang sein Grollen wie ein unterirdischer Donner. Ob er vor Zorn oder vor Schmerz grollte, wusste keiner zu sagen. Manchmal war jahrelang nichts von ihm zu hören, doch dann brüllte er plötzlich nach einem Opfer. Und solange das Opfer ausblieb, brachte er die Erde so zum Beben, dass Häuser einstürzten und Familien unter den Trümmern begraben wurden. Es war so, wie du sagst, Sapphire. Die Leute mussten etwas tun, auch wenn sie das eigentlich nicht wollten. Sie mussten das Untier besänftigen, und es gab nur einen einzigen Weg, das zu erreichen.«
Ich bekomme eine Gänsehaut. So wie Granny Carne die Geschichte erzählt, könnte man glauben, sie spiele sich in diesem Moment ab.
»Man legte Steine in einen Korb«, sprach sie weiter. »Einen Stein für jedes Kind der Stadt. Alle Steine waren weiß bis auf einen einzigen, der war rot. Dann breitete man ein Tuch über den Korb. Die Eltern traten nacheinander vor, ein Vater oder eine Mutter von jeder Familie. Einer nach dem anderen steckte die Hand unter das Tuch und wählte einen Stein aus. Wer den roten Stein erwischte, musste sein Kind opfern.«
Während Granny Carne spricht, tritt das Bild der Vergangenheit deutlich hervor, wie eine Landschaft, über der sich der Nebel lichtet. Die Eltern zitterten vor Angst, als sie ihre Hand unter das Tuch steckten. Wagten kaum, den Stein in ihrer Hand zu betrachten. Die einen weißen Stein in ihrer Hand hielten, hätten vor Freude und Erleichterung am liebsten einen Luftsprung gemacht, doch sie taten es nicht, weil sie wussten, dass ein anderes Kind geopfert werden würde.
»Aber warum haben sie sich nicht zusammengetan und gemeinsam gegen das Monster gekämpft?«
Granny Carne schüttelt den Kopf. »Gegen ein Wesen, das die Erde zum Beben bringt, konnten sie nichts ausrichten. Hätten sie es versucht, wären alle Häuser eingestürzt und hätten die Kinder unter sich begraben. Doch opferte man ein einziges Kind auf dem Altar, war das Monster zufrieden und legte sich wieder schlafen, tief unter der Erde.«
Ihre Worte wirbeln durch meinen Kopf. Opferte man ein Kind auf dem Altar! »Aber das bedeutet doch … das bedeutet, dass die Menschen ihre eigenen Kinder getötet haben!«
»Es stimmt, dass eine menschliche Hand das Messer gehalten hat«, sagt Granny Carne. »Es war ein Mann, der selbst keine Kinder hatte. Doch niemand machte ihm einen Vorwurf. Es war das Monster, das für den Tod des Kindes verantwortlich war. Das Monster hatte das Opfer schließlich gefordert.«
»Aber wie konnten sie das tun, Granny Carne? Wie können Eltern es zulassen, dass ihre eigenen Kinder getötet werden?«
Granny Carne richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. »Sei dir nicht so sicher, dass die Gegenwart stärker und klüger ist als die Vergangenheit. Sie haben getan, was sie tun mussten. Hättest du die Gesichter all der Mütter und Väter gesehen, dann würdest du sie verstehen.«
Hättest du die Gesichter gesehen? Ich starre Granny Carne an. Erneut klingt es so, als sei sie ebenso sehr in der Vergangenheit wie in der Gegenwart zu Hause. Als hätte sie all diese Gesichter mit eigenen Augen gesehen. Vielleicht hat sie das auch. Ich schaudere bei dem Gedanken, dass sich Granny Carne, deren Eulenblick nichts entgeht, mühelos durch die Zeiten bewegt.
»Aber die Mer würden das niemals tun«, sage ich laut und denke daran, wie zärtlich Mellina ihr Mer-Baby betrachtet hat. »Sie opfern ihre eigenen Kinder nicht. Es ist der Krake, der sie nimmt.«
»Ja«, sagt Granny Carne nachdenklich, »und was ich dir erzähle, ist weit entfernt und lange her, Sapphire. Und jetzt bist du aus Indigo zurückgekehrt und redest von dem Kraken. Er ist erwacht, nicht wahr, mein Mädchen?« Sie sagt das so beiläufig, als wäre der Krake ein Hund, der neben einer Feuerstelle geschlafen hat.
»Ja.«
»Er hat sehr lange geschlafen. Ich denke, es war wieder mal an der Zeit.« Sie seufzt müde. »So müssen wir also alles noch einmal durchmachen. Und diesmal wollen sie, dass du ein Teil davon wirst. Aber denk daran, Sapphire, dass du eine Wahl hast. Niemand kann dich auf einen Weg führen und dich zwingen, ihn auch zu benutzen. Nein, mein Mädchen. So sehr dich die Mer auch bezaubert haben mögen, denke immer daran, dass dein Blut zwei gleiche Teile besitzt. Du bist halb Mer und halb Luftwesen, und deine Füße sind in der Erde verwurzelt. Es ist ein süßer Gesang, den sie in Indigo anstimmen, aber lass nicht zu, dass deine eigene Stimme ertrinkt.«
Erneut läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Es ist kalt hier draußen und mein Fahrrad ist schwer. Ich bin müde und will nach Hause. Aber ich kann jetzt nicht nach Hause gehen. Wenn ich es tue, wird Mum erfahren, dass ich niemals in St. Pirans war. Ich muss in die Stadt fahren und dem wütenden Conor begegnen.
»Du kannst mit zu mir kommen, Sapphire«, schlägt Granny Carne vor, als könne sie meine Gedanken lesen.
Aber das kann ich nicht tun. Ich habe schon einmal in Granny Carnes Haus geschlafen, das sich eng an die Hügel schmiegt. Es ist zu viel Erdmagie in den weißen Räumen, den Bienenstöcken und Gemüsebeeten, dem Feuer, das niemals erlischt, und dem Buch des Lebens, dessen Wörter einem wie zornige Bienen entgegenschwirren, wenn man sie aufschreckt. Dort gehöre ich nicht hin.
»Ich muss jetzt zu Conor fahren, Granny Carne.«
Granny Carne begleitet mich bis zur St. Pirans Road. Das Fahrrad quietscht, der Kies unter unseren Füßen knirscht. In der Ferne bellt ein Fuchs, während das Rauschen der Brandung zu uns heraufdringt.
»Jetzt beeil dich, mein Mädchen, bevor es stockdunkel ist«, sagt Granny Carne. Dann greift sie in die Tasche ihres abgenutzten, erdfarbenen Rocks. »Ich hab hier noch etwas für dich«, sagt sie, öffnet ihre Hand und zeigt mir ein paar vertrocknete Beeren.
»Was ist das?«
»Das sind Vogelbeeren. Die Früchte der Eberesche.«
»Von letztem Herbst?«
»Vielleicht von letztem Herbst. Vielleicht sind sie aber auch schon viel älter. Ich kann mich nicht genau daran erinnern. Nimm sie, mein Mädchen. Ich habe dir doch schon erzählt, dass die Eberesche dich beschützt. Conor soll seinen Talisman bekommen.«
Am liebsten hätte ich protestiert, denn so ist es verkehrt herum. Conor hat etwas aus Indigo bekommen, das Elvira selbst angefertigt hat. Aber Conor ist stärker an die Erde gebunden als ich das bin. Und jetzt bekomme ich etwas, das Erdmagie in sich trägt, das mir in Indigo aber kaum von Nutzen sein kann.
»Nimm die Beeren, Sapphire.«
Sogar meine Hand zuckt zurück. Die Eberesche stößt mich ab, so wie in unserem Garten. Ich will sie nicht anfassen.
»Nimm sie!«
Ich kann mich Granny Carne nicht widersetzen. Ich zwinge mich, die Hand auszustrecken, und plötzlich ist die Barriere verschwunden. Die dunklen, verschrumpelten Vogelbeeren liegen so warm in meiner Hand, als hätten sie die Hitze der Sonne gespeichert. Das ist so, weil sie in Granny Carnes Tasche waren, sage ich mir rasch. Jetzt stecke ich sie mir selbst in die Tasche, obwohl ich es eigentlich nicht will. Ich kann sie ja immer noch wegwerfen, wenn Granny Carne außer Sichtweite ist.
»Pass gut auf die Beeren auf und nimm sie stets mit, wo auch immer du bist.«
»Auch nach Indigo?«
»Auch nach Indigo. Frag mich nicht nach dem Grund. Verwahre sie gut und halte sie versteckt. Lass niemand wissen, dass du sie hast.«
»Aber werden sie in Indigo nicht völlig nass?«
Granny Carne lacht. »In ihnen ist so viel Leben, mein Mädchen, dass ihnen ein bisschen Salzwasser nichts anhaben kann.«
»Darf ich sie Conor zeigen?«
»Nein, zeig sie niemand, nicht einmal Conor. Halte sie gut versteckt.«
Sie hebt eine Hand zum Abschiedsgruß. Und schon im nächsten Moment wird sie von der Dunkelheit verschluckt. Der Weg ist immer noch steil, also muss ich heftig in die Pedale treten. Ich blicke nicht mehr zurück. Die Beeren scheinen in meiner Tasche zu brennen, doch weiß ich bereits, dass ich mich nicht trauen werde, sie wegzuwerfen.