Achtzehntes Kapitel
Saldowr muss sich ausruhen. Faro begleitet ihn in seine Höhle. Wenig später erscheint eine Gestalt am schummrigen Eingang der Höhle. Zunächst glaube ich, es ist Faro, der zurückkommt, doch Conor erkennt sofort, um wen es sich handelt.
»Elvira!«
Sie gleitet auf uns zu, wiegt etwas in ihren Armen. Es ist ein Baby. Ein Mer-Baby, das sich zusammengerollt hat, sodass seine winzige Schwanzflosse auf Elviras Arm liegt.
Ich bin verwirrt. Elvira hat doch kein Baby … oder doch?
»Elvira!«, wiederholt Conor. Auf seinem Gesicht zeichnet sich ein irritierender Eifer ab. Sie lächelt ihn mit ebenso eifriger Wärme an, als sie uns entgegenschwimmt.
»Wessen Baby ist das?«, frage ich sie. Doch sobald ich die Frage gestellt habe, kenne ich schon die Antwort. Flaumige schwarze Haare, große Augen und ein Blick, der mir absolut vertraut ist, geben mir das Gefühl, als drücke jemand mein Herz mit aller Kraft zusammen.
Es ist das Baby, das ich letztes Jahr in Saldowrs Spiegel gesehen habe. Es lag in einer steinernen Wiege, und Mellina beugte sich über … über meinen Bruder.
»Mein Bruder«, sage ich laut und bin selbst überrascht, dass ich ihn anlächle. Nicht dass ich ihn mögen würde oder so was, aber Babys muss man einfach anlächeln.
Elvira ist direkt neben mir. Das Baby streckt sein dickes Patschhändchen nach mir aus, will mich begrüßen. Nur das Baby, Elvira und ich sind auf der Welt, alles andere hat sich in Luft aufgelöst.
»Wo ist seine Mutter?« Ich will Mellinas Namen nicht aussprechen. Das würde sie zu einer realen Person machen.
»Die sammelt Kelp, deshalb passe ich auf ihn auf.«
Hmm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Baby-Bruder hier zufällig aufgetaucht ist. Außerdem war allgemein bekannt, dass wir uns gerade in den Wäldern aufhalten. Mellina muss gewollt haben, dass wir das Baby sehen. Und Saldowr muss es auch gewollt haben, sonst hätte er nicht zugelassen, dass Elvira es zu seiner Höhle bringt.
Ich will nicht einmal daran denken, was Dad gewollt haben könnte. Das hat doch keinen Sinn. Ich klammere mich an Saldowrs Versprechen. Die Zeit wird kommen, in der wir wissen werden, was Dad wirklich will.
»Möchtest du ihn mal halten?«, fragt Elvira in ihrer sanften, einschmeichelnden Stimme. Elvira gleicht so sehr einer klassischen Meerjungfrau aus einem Märchen, dass sie einen fast unwirklichen Eindruck macht. Conor kann den Blick gar nicht von ihr abwenden. Ich bin immer noch misstrauisch.
»Ich … ich weiß nicht.«
»Er wird bestimmt nicht weinen. Er wird sehr gern im Arm gehalten.«
Er ist mein Bruder, nicht deiner, denke ich. Also erzähl mir nichts über ihn.
»Na gut, gib ihn her«, sage ich widerwillig.
Ich weiß nicht genau, wie man ein Baby hält. Ich kann mich gar nicht erinnern, je eins auf dem Arm gehabt zu haben, obwohl das bestimmt schon mal geschehen ist. Und dieses Baby hat auch noch eine Flosse, was die Sache nicht einfacher macht. Ich versuche, meine Arme genau so zu halten, wie Elvira das gemacht hat. Sie lächelt immer noch ihr irritierend-strahlendes Lächeln.
»Nicht so, Sapphire. Du musst die Unterarme ein bisschen mehr anwinkeln und näher an deinen Körper halten, dann kann er dir nicht ins Wasser gleiten. Er kann ja noch nicht besonders gut schwimmen. Ja, halt deine Arme genau so, dann gebe ich ihn dir.«
Für einen Moment gerate ich fast in Panik, als Elvira das Baby sanft emporhebt und in meine Arme legt. Was tue ich, wenn er mir wegschwimmt? Wenn er total glitschig ist? Wenn er mich nicht mag und zu schreien anfängt?
Doch nichts dergleichen geschieht. Mein kleiner Bruder sieht mich ernst und ein bisschen unsicher an, bleibt aber ganz ruhig. Ich lächle probehalber. Er ist viel schwerer als erwartet. Seine Schwanzflosse ist glatt und weich, nicht wie die Flosse eines erwachsenen Mer. Ich lasse sie auf meinem Arm ruhen, wie auch Elvira das getan hat. Das Ganze kommt mir so unwirklich vor. Zu wissen, dass man einen kleinen Mer-Bruder besitzt, ist das eine – ihn im Arm zu halten, etwas ganz anderes. Er wirkt so stabil, so real.
Mein Bruder. Seine kleine Flosse zuckt. Es fühlt sich so an, als wäre sie aus Seide. Er sieht aus wie … wie ein Mer. Wüsste ich es nicht besser, würde ich niemals vermuten, dass er auch nur einen Tropfen menschliches Blut in sich hat. Dennoch ist er mein kleiner Baby-Bruder.
Manchmal, als ich noch klein war, habe ich Mum in den Ohren gelegen, dass ich so gern ein kleines Geschwisterchen hätte. Ich wollte die große Schwester sein. Dann stellte ich mir vor, wie es wäre, ein Baby in unserem Haus zu haben, das in seinem Hochstuhl sitzt, durch die Gegend krabbelt und an meiner Hand laufen lernt. Doch Mum sagte immer, zwei Kinder seien ihr wirklich genug, und mit der Zeit begriff ich, dass es keinen Zweck hatte zu quengeln, weil es ja doch nie passieren würde.
Jetzt ist es passiert, aber ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Mein kleiner Bruder wird niemals krabbeln oder laufen. Er wird nicht die Dinge tun, die Conor und ich getan haben. Er wird nie über die Steine an der Bucht klettern, ein Lagerfeuer am Strand machen und darüber Würstchen braten. Er wird niemals zur Schule gehen, mit dem Boot rausfahren, Pommes essen oder Fußball spielen. Er ist ein Mer. Also wird er das machen, was Mer-Kinder machen, wenn sie aufwachsen. Ich muss Faro mal fragen, was es heißt, ein kleiner Mer-Junge zu sein. Was für Spiele sie spielen, wovor sie Angst haben. Er wird niemals Süßigkeiten oder Eiskreme probieren. Ich frage mich wirklich, was Mer-Kinder für Angewohnheiten haben.
Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Ist das nicht unglaublich? Ich habe einen Bruder und kenne seinen Namen nicht.
»So, mein kleiner Mordowrgi«, sagt Elvira zu dem Baby. »Sag Hallo zu deiner großen Schwester.«
»Mordowrgi, ist das sein Name?«
Elvira schüttelt den Kopf. »Nein, das ist nur sein Kosename. Seinen richtigen Namen bekommt er später. Den können wir ihm doch erst geben, wenn wir wissen, wie er sich entwickelt, oder?«, sagt sie lachend, als hätte ich eine äußerst alberne Frage gestellt.
»Wir bekommen unsere Namen direkt nach der Geburt«, entgegne ich.
»Wie seltsam euer Leben manchmal ist. Was für einen Sinn hat ein Namen, der nicht zu der Person passt? Schau, er lächelt dich an.«
Es stimmt. Das Baby – Mordowrgi – schenkt mir ein breites, zahnloses Lächeln und greift nach meinen Haaren.
»Lass ihn nicht an deinen Haaren ziehen, das tut echt weh«, warnt sie mich. »Er ist ziemlich stark.«
Ich drehe mich aufgeregt zu Conor um. »Guck mal, Conor, er lächelt mich an. Vielleicht weiß er, wer ich bin.«
Doch Conor zuckt nur die Schultern. »Babys lächeln doch jeden an.«
»Willst du ihn mal halten, Con?«
»Nein.«
Das Lächeln des Babys wird noch breiter. Er sieht mich so vertrauensvoll an, als würde er mich schon lange kennen. Die Sache ist die: Wenn ein Baby dich so anlächelt, dann musst du einfach zurücklächeln.
Ich blicke zu Conor auf, doch sein Gesicht ist so kalt und abweisend, dass ich regelrecht erschrecke.
»Vorsicht, Sapphire, du erdrückst ihn ja.«
Oh nein, das Gesicht des Babys zieht sich zusammen. Gleich wird es losplärren.
»Nicht weinen, Mordowrgi, ich wollte dir nicht wehtun. Bitte nicht weinen.«
Mordowrgi schluckt und sieht mich weinerlich an, aber jedenfalls heult er nicht. Ich gebe ihn wieder Elvira zurück, und sie wiegt ihn sogleich in ihren Armen, während sie behutsam hin und her schwimmt. Conor starrt sie fortwährend an.
»Jedenfalls haben wir Saldowrs Versprechen, Conor.«
»Äh … was?«
»Das Versprechen, dass Dad sich frei entscheiden kann, ob er ein Mensch oder ein Mer sein will.«
»Ja.«
»Du klingst ja nicht gerade sehr begeistert. Das war doch der einzige Grund, warum wir in der Tiefe waren.«
»Wirklich?«
»Natürlich, Conor! Wir waren doch absolut einer Meinung. Wir wollten, dass Dad sich frei entscheiden kann. Das war nicht nur meine Idee, es war auch deine …«
»Hör zu, Saph«, sagt Conor. »Ich weiß, dass es unsere gemeinsame Idee war. Aber jetzt bin ich mir irgendwie nicht mehr sicher. Weißt du, als wir im Maul des Wals waren, da habe ich gedacht, dass alles vorbei ist. Dass wir unser Zuhause und Mum nie mehr wiedersehen werden. Und das war so …« Conor hält kurz inne und denkt nach. »Das Gefühl war unerträglich. Dass Mum glauben könnte, ich hätte sie ebenfalls verlassen, so wie Dad. Wir müssen uns damit abfinden, dass Dad sich schon entschieden hat, Saph. Er hat sich entschieden, uns zu verlassen. Es hat ihn ja niemand dazu gezwungen. Du hast bestimmt recht, dass er hinterher ein schlechtes Gewissen hatte und seine Entscheidung vielleicht sogar bedauert hat, doch er hat seine Wahl getroffen.«
»Aber, Conor, Dad hat doch niemals eine richtige Wahl gehabt! Er wusste nicht … er dachte bestimmt, er könnte zu uns zurückkommen.«
»So, meinst du? Und was ist dann mit ihm?« Conor macht eine Kopfbewegung in Richtung des Babys, das in Elviras Armen liegt.
»Wie meinst du das?«
»Er ist Dads Sohn. Dad wollte ihn haben. Er hat sich für seine Mer-Frau und seinen Mer-Sohn entschieden. Sieh das doch ein, Saph. Diese Entscheidung lässt sich nicht mehr rückgängig machen.«
»Aber wir waren uns doch einig, dass man Dad nicht fair behandelt hat. Dass er eben niemals eine richtige Wahl treffen konnte.«
»Fair!«, stößt Conor mit bitterer Stimme aus. »Nein, es war nicht fair. Gar nichts ist fair gewesen, aber es passiert eben trotzdem.«
Ich glaube nicht, dass Conor recht hat. Er hat Dad nicht gesehen und mit ihm gesprochen, so wie ich. Er hat nicht den Schmerz und die Zweifel in seinen Augen gesehen.
»Das Baby lässt sich nicht ungeschehen machen, Saph. Überleg doch mal, was es bedeutet, wenn Dad zurückkommen würde. Willst du, dass er auch noch dieses Kind allein lässt?«, fragt Conor. »Dann würde es sich eines Tages genauso schlecht fühlen wie wir jetzt. Es hat doch keinen Sinn, noch mehr Leben durcheinanderzubringen. Dad ist jetzt hier zu Hause. Und Mum hat Roger. Und wir … wir haben uns doch irgendwie daran gewöhnt, oder? Ich hoffe nur, dass Dad glücklich ist mit seiner Entscheidung.«
»Du weißt, dass er das nicht ist.«
»Ich weiß gar nichts. Ich weiß nur, dass Dad sich schon vor langer Zeit hätte bremsen sollen, bevor er sich in diese … diese Frau verliebt hat.«
Obwohl mir Conors Worte einen Stich geben, will ich sie nicht wahrhaben. Es gibt immer noch Hoffnung. Wer hätte gedacht, dass wir den Kraken besiegen? Wenn das möglich ist, ist alles möglich. Außerdem hat uns Saldowr sein Wort gegeben.
Elvira schwimmt immer noch hin und her und singt meinem Baby-Bruder ein Wiegenlied vor. Das Problem mit Babys besteht darin, dass man stets denkt, sie müssten an erster Stelle kommen. Aber warum eigentlich? Schließlich waren Conor und ich zuerst da. Wir waren Dads Babys, lange bevor Mordowrgi auf der Bildfläche erschien. Soll Conor doch aufgeben und sich damit abfinden, dass Dad verschwunden ist, ich werde das nicht tun. Ich finde mich mit gar nichts ab. Ich werde weiterkämpfen.
Conors Blick ist immer noch auf Elvira geheftet. Ich habe ein mulmiges Gefühl dabei. Ausgerechnet Conor, der meint, dass Dad sich schon vor langer Zeit hätte bremsen sollen, bevor er sich in diese Frau verliebt hat. Es ist ja in Ordnung, im Nachhinein zu wissen, wie Dad sich hätte verhalten sollen, aber vielleicht sollte Conor auch mal über sein eigenes Verhalten nachdenken. Elvira ist genauso eine Mer wie Mellina, und Conor scheint sich auch nicht gerade zu bremsen …
Dann musst du ihn eben aufhalten, Sapphire. Ich lächle in mich hinein. Wenn ich in der Tiefe überleben und den Kraken besiegen kann, dann sollte ich auch in der Lage sein, meinen Bruder von Elvira zurückzugewinnen.
*
Bevor wir uns mit Faro auf den Heimweg machen, verbringen wir noch ein paar Minuten in Saldowrs Höhle. Es herrscht eine eigenartige Stimmung, wie nach dem Ende einer großen Party. Ich muss über vieles nachdenken, aber das kann ich nur zu Hause. Der Begriff »zu Hause« wird wieder realistischer. Die Zeit vergeht, Mum wartet sicher schon auf uns …
Saldowr sieht sehr müde aus, doch nicht mal Ervys würde es jetzt wagen, die Vermutung zu äußern, er sei reif für Limina. Natürlich wird Saldowr leben. Vielleicht wird er nie wieder so stark sein wie zuvor, doch dort, wo sich die offene Wunde befunden hat, ist jetzt eine große Narbe. Die sieht zwar hässlich aus, aber die Wunde hat sich eindeutig geschlossen.
Vielleicht geht es Saldowr besser, weil auch Indigo sich selbst geheilt hat. Der Gezeitenknoten hat sich ebenfalls wieder geschlossen. Die Verwüstungen in Indigo waren genauso schlimm wie an Land, doch nach und nach werden auch hier die Schäden verschwinden. Alles wird wieder so sein wie früher. Und der Krake schläft. Vielleicht kehrt in Indigo wieder Ruhe und Frieden ein, denke ich hoffnungsvoll, doch dann erinnere ich mich an Ervys’ Zorn und bin mir nicht ganz sicher. Ervys ist noch nicht besiegt.
Faro sitzt auf dem sandigen Boden der Höhle, seine geschwungene Schwanzflosse ist unter ihm. Mit einer Fischgrätennadel und einem Faden aus seidigem Seegras flickt er einen Riss in Saldowrs Mantel. Die Nadel gleitet mit Leichtigkeit hin und her. Faro scheint äußerst fachkundig zu sein, wie ein erfahrener Fischer, der sein Netz flickt. Ich wusste gar nicht, dass Faro nähen kann. Nach wie vor gibt es so vieles, das ich von ihm und den übrigen Mer nicht weiß. Aber sie machen es einem auch wirklich nicht leicht, an ihrem Leben teilzuhaben.
Die Zeit zum Aufbruch ist gekommen. Ich habe das Gefühl, hundert Jahre in Indigo gewesen zu sein, aber vielleicht waren es nur hundert Minuten.
»Ich habe das Baby auf den Arm genommen«, sage ich zu Saldowr, obwohl ich sicher bin, dass er es schon weiß. »Es hat mich angelächelt.«
»Du hast Großes geleistet, mein Kind«, sagt Saldowr sanft. »Du, Conor und mein Faro. Den Mer zuliebe habt ihr den Schrecken der Tiefe getrotzt, und die Mer werden sich stets daran erinnern, so wie sie sich an Mab Avalon erinnern.« Seine lobenden Worte lindern ein wenig die schmerzhafte Leere in mir. Ich fühle mich immer noch von Conor getrennt, und bald werde ich auch von Faro getrennt sein. Ich frage mich, ob je der Tag kommen wird, an dem wir alle vereint sein können.
»Saldowr, glaubst du … glaubst du, dass Dad für immer hier sein wird?«
Saldowr schüttelt bedächtig den Kopf. »Das kann ich nicht sagen.«
»Aber warum denn nicht?«, frage ich ungehalten. »Du kannst doch in die Vergangenheit und in die Zukunft sehen. Du musst doch wissen, was mit Dad geschehen wird.«
»Die Zeit hat ihre Geheimnisse, selbst für mich. Du denkst, dass die Mer deinen Vater gefangen halten, aber so einfach ist das nicht. Ein Häftling kann von seinem Gefängniswärter entlassen werden. Aber wenn du dein eigener Wärter bist, wer entlässt dich dann?«
Ich verstehe nicht genau, wovon er redet, deshalb sage ich nichts. Conor sieht zornig und aufsässig aus, schweigt jedoch ebenfalls.
»Ich gebe nur selten Versprechen ab«, fährt Saldowr fort, »aber ich kann euch versprechen, dass ihr euren Vater wiedersehen werdet, und zwar schon bald.«
»Wann?«
»Wo?«
»Bei der nächsten Versammlung, wenn sich die jungen Mer vorstellen, die glauben, für die große Reise bereit zu sein. Alle Mer werden dort sein, auch dein Vater. Ich weiß es in meinem Herzen, dass er stark genug sein wird. Eine Zeremonie, die so wichtig für uns ist, wird er sich nicht entgehen lassen.«
Die große Reise. Die Worte klingen vertraut. Ja, natürlich habe ich sie schon mal gehört. Der Wal hat zu mir gesagt, dass ich ihre Tochter vielleicht auf dem Grund der Welt treffen könne, wenn ich alt genug sei, um die große Reise anzutreten. Aber wie kann ich das tun? Ich bin keine Mer. Ich weiß nicht, was die große Reise ist oder warum ich solch eine große Angst und Erregung verspüre.
»Saph und ich werden an der Versammlung aber nicht teilnehmen«, sagt Conor. »Wir sind keine Mer.«
Saldowr schweigt für eine geraume Zeit. Jetzt bin ich es, die sich aufsässig vorkommt. Conor kann nicht einfach für mich antworten. Ich blicke auf meine nackten Zehen hinunter. Mein Körper ist zu einhundert Prozent der eines Menschen. Was mein Bewusstsein angeht, bin ich da nicht so sicher. Mein Mer-Blut ist stark. Warum sollte ich nicht an der Versammlung teilnehmen?
Ich sehe Faros Fischgrätennadel in den Umhang hinein- und wieder hinausfahren. Die große Reise … die große Reise. Sehnsucht überwältigt mich. Ich muss einfach dort sein. Conor irrt sich, wenn er glaubt, dass wir mit den Mer nichts zu tun haben. In meinem Inneren bin ich mehr und mehr eine Mer geworden, seit ich Faro einst in der Bucht kennengelernt habe.
Und es muss schon viel früher angefangen haben, ohne dass ich es bemerkt habe. Ich wollte nach Indigo, ehe ich wusste, dass Indigo existiert.
Ich muss an dieser Versammlung teilnehmen. Dad wird auch dort sein, aber das ist nicht der einzige Grund. Ich bin es mir selbst schuldig, dort zu erscheinen. Ich muss mich selbst testen, sonst werde ich mein ganzes Leben lang nicht herausfinden, wie stark mein Mer-Blut eigentlich ist. Werde nie erfahren, wo ich wirklich hingehöre.
»Faro«, sage ich leise, »willst du die große Reise machen?«
»Das kann ich nicht entscheiden, Sapphire«, antwortet er, indem er zu mir aufblickt. »Ich werde mich auf der Versammlung vorstellen und meinen Willen und meine Bereitschaft erklären. Dann muss die Versammlung eine Entscheidung treffen. Manche werden ausgewählt, andere nicht. Einige bewerben sich Jahr für Jahr, ohne je ausgewählt zu werden.«
Faros Gesicht spricht Bände. Er braucht nicht zu sagen, wie wichtig ihm diese Sache ist. Er will unbedingt ausgewählt werden, jetzt erst recht, da er weiß, dass er nicht zu hundert Prozent ein Mer ist. Ich bin mir inzwischen ganz sicher, dass er auch menschliches Blut besitzt, das vielleicht aus ferner Vergangenheit stammt. All die Dinge, die mir früher so rätselhaft waren, ergeben jetzt einen Sinn. Faro war stets viel häufiger am Ufer als die anderen Mer. Er hält es lange an der Luft aus. Und dann diese Neugier, was die Menschenwelt betrifft. Er hat mir immer so viele Fragen gestellt. Zwar hat er sich auch darüber lustig gemacht, wie die Menschen leben, doch dass er fasziniert war, war unverkennbar.
Seine dunklen Augen haben keinen silbrigen Schimmer, und seine Haut hat nicht diese typische blaue Färbung, wie bei den anderen Mer. Die Erklärung liegt auf der Hand.
Doch weiß ich genau, dass Faro jeden einzelnen Tropfen seines menschlichen Bluts hasst. Er sieht darin nichts, das uns verbindet, sondern eine persönliche Schwäche. Ich will es nicht riskieren, ihn danach zu fragen. Faro will ausschließlich zu Indigo gehören.
»Faro …«, sage ich zögernd und habe Angst, dass er mir die Bitte abschlägt. »Wenn du zu der Versammlung gehst, kann ich dich dann begleiten?«
Faro lässt seine Fischgrätennadel sinken. Er schaut mich so intensiv an, als könne er meine Gedanken lesen. Vielleicht tut er das auch, und ich lasse es zu.
Ein breites Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab.
»Ja, kleine Schwester«, antwortet er. »Du kannst mich begleiten.«