28
Der schlimmste
Geburtstag aller Zeiten
Mit einem hysterischen Kichern, das meine Nervosität überspielen sollte, schimpfte ich Ren aus: »Das ist nicht lustig, Ren. Was soll das heißen, wer bin ich?«
»So sehr mir deine Liebkosungen gefallen, glaube ich, dass du dir bei deinem Kampf mit Lokesh den Kopf angeschlagen hast. Du musst mich mit jemandem verwechseln.«
»Dich mit jemandem verwechseln? Nein, natürlich nicht. Du bist doch Ren, oder?«
»Ja. Ich heiße Ren.«
»Schön. Ren. Dann bist du der Mann, in den ich unsterblich verliebt bin.«
»Wie kannst du mir deine Liebe gestehen, wo ich dich vorher noch nie gesehen habe?«
Ich sank in mich zusammen. »Wie kann es sein, dass du dich nicht an mich erinnerst?«, flüsterte ich unter Tränen.
»Wahrscheinlich weil wir uns noch nie zuvor begegnet sind.«
Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein! Das kann nicht wahr sein! »Wir kennen uns seit gut einem Jahr. Du bist mein … Freund. Lokesh muss etwas mit dir angestellt haben! Mr. Kadam! Kishan!«, schrie ich.
Kishan kam ins Zimmer gerannt, als stünde sein Fell in Flammen. Er schubste Ren beiseite und baute sich zwischen uns auf. Hastig hob er mich hoch und lud mich in dem Sessel ab, der Ren gegenüberstand. »Was ist los, Kells? Hat er dir etwas getan?«
»Nein, nein. Nichts dergleichen. Er kennt mich nicht! Er erinnert sich nicht an mich!«
Schuldbewusst blickte Kishan weg.
»Das wusstest du! Das wusstest du und hast es vor mir verheimlicht?«
Mr. Kadam betrat den Raum. »Wir wussten es beide.«
»Was? Warum haben Sie mir nichts gesagt?«
»Wir wollten Sie nicht unnötig beunruhigen. Wir hielten es für ein vorübergehendes Problem, das sich von selbst lösen würde«, erklärte Mr. Kadam, »sobald seine Wunden verheilen.«
»Dann war das mit der Baiga …« Inzwischen weinte ich haltlos, Kishan reichte mir ein Taschentuch und strich mir unbeholfen das Haar aus der Stirn.
»Er wollte eine von ihnen zur Frau nehmen«, druckste er herum.
»Natürlich! Jetzt ergibt alles Sinn!«
Mr. Kadam setzte sich neben Ren. »Du kannst dich immer noch nicht an sie erinnern?«
Ren zuckte mit den Achseln. »Ich habe die junge Dame zum ersten Mal in meinem Leben zu Gesicht bekommen, als sie – oder wahrscheinlich war es in Wirklichkeit Kishan – vor meinem Käfig stand und mich befreit hat.«
»Richtig! Ein Käfig. In einem Käfig sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Erinnerst du dich? Du warst im Zirkus, ein Zirkustiger, und ich habe dich gemalt und dir vorgelesen. Mit meiner Hilfe konntest du dich befreien.«
»Ich erinnere mich, im Zirkus gewesen zu sein, aber du warst nicht dort. Ich weiß, dass ich mich selbst befreit habe.«
»Nein. Das konntest du gar nicht. Wenn du dich befreien konntest, warum ist es dir dann die ganzen Jahrhunderte über nicht gelungen?«
Er runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Ich erinnere mich lediglich daran, dass ich aus dem Käfig ausgebrochen bin, Kadam angerufen und auf ihn gewartet habe, damit er mich nach Indien zurückbringt.«
Mr. Kadam unterbrach ihn. »Erinnerst du dich, zu Phet in den Dschungel gegangen zu sein? Dass du dich mit mir gestritten hast, ob wir Miss Kelsey mitnehmen sollen?«
»Ich weiß, dass wir uns gestritten haben, aber das war nicht ihretwegen. Ich war fest entschlossen, Phet einen Besuch abzustatten, doch du wolltest nicht, dass ich meine Zeit vergeude.«
Aufgewühlt und ungläubig fragte ich: »Was ist mit Kishkindha? Ich war auch dort.«
»In meiner Erinnerung war ich allein.«
»Wie kann das sein?«, flüsterte ich. »Du erinnerst dich an Mr. Kadam? Kishan? Nilima?«
»Ja.«
»Dann bin also nur ich aus deinem Gedächtnis gestrichen?«
»Es scheint so.«
»Was ist mit dem Valentinstanz, dem Kampf gegen Li, den Schoko-Erdnussbutter-Cookies, den Filmen, dem Popcorn, Oregon, der Uni, Tillamook? All den Dingen, die wir zusammen gemacht haben? Ist das einfach … weg?«
»Nicht ganz. Ich erinnere mich, gegen Li gekämpft und Cookies gegessen zu haben, an Tillamook, die Filme und Oregon, aber an dich erinnere ich mich nicht.«
»Dich hat es also aus purem Zufall nach Oregon verschlagen?«
»Nein. Ich war da an der Uni.«
»Und mit wem hast du deine Freizeit verbracht?«
Er legte die Stirn in Falten, als müsste er sich konzentrieren. »Am Anfang allein, und dann ist Kishan gekommen.«
»Erinnerst du dich an den Streit mit Kishan?«
»Ja.«
»Und weswegen habt ihr euch gestritten?«
»Keine Ahnung. O doch! Cookies. Wir haben uns um Cookies gestritten.«
»Das ist ein schlechter Witz«, jammerte ich. »Wie konnte das geschehen?«
Mr. Kadam erhob sich und streichelte mir die Hand. »Ich bin nicht sicher. Vielleicht handelt es sich nur um eine vorübergehende Amnesie.«
»Das glaube ich nicht«, schniefte ich wütend. »Es ist zu spezifisch. Er kann sich bloß an mich nicht erinnern. Dafür ist allein Lokesh verantwortlich.«
»Ich vermute, Sie haben recht, aber lassen Sie uns nicht die Hoffnung verlieren. Gönnen wir ihm etwas Zeit, damit er sich von seinen Verletzungen erholen kann, bevor wir uns den Kopf zermartern. Er muss sich ausruhen, und dann konfrontieren wir ihn mit Dingen, die sein Gedächtnis anregen. Währenddessen werde ich Phet zu Rate ziehen, ob er ein Heilmittel kennt.«
Ren hielt eine Hand hoch. »Bevor ihr mich lauter Tests unterzieht, mit Kräutern vollstopft und mich in Erinnerungen schwelgen lasst, würde ich mich gerne ein wenig zurückziehen.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
Wieder schossen mir Tränen in die Augen. »Ich denke, ich wäre jetzt auch lieber allein«, stammelte ich und humpelte davon. Als ich bis zur Treppe gehinkt war, musste ich wegen der Schmerzen in meinem Knöchel innehalten. Tränenblind klammerte ich mich mit aller Gewalt am Geländer fest. Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich um und vergrub mein feuchtes Gesicht schluchzend an Kishans Brust. Ich wusste, es war unfair, Trost bei ihm zu suchen und in seiner Gegenwart um seinen Bruder zu weinen, aber ich konnte nicht anders.
Er legte mir den Arm unter die Knie, hob mich hoch und trug mich die Treppe empor. Nachdem er mich auf mein Bett gelegt hatte, ging er ins Bad, kam mit einer Taschentuch-Box zurück und stellte sie mir auf den Nachttisch. Kishan murmelte ein paar Worte auf Hindi, strich mir das Haar aus dem Gesicht, drückte mir einen Kuss auf die Augenbraue und ließ mich allein.
Am späten Nachmittag sah Nilima nach mir.
Ich saß in dem weißen Sessel, den Plüschtiger fest an mich gepresst. Den ganzen Vormittag über hatte ich abwechselnd geweint und geschlafen. Nilima umarmte mich und setzte sich aufs Sofa.
»Er kennt mich nicht«, flüsterte ich.
»Sie müssen ihm Zeit lassen. Hier, ein kleiner Imbiss.«
»Ich bin nicht hungrig.«
»Sie haben auch Ihr Frühstück nicht angerührt.«
»Ich bringe einfach keinen Bissen herunter.«
»Na schön.« Sie ging ins Bad und kam mit meiner Bürste zurück.
»Alles wird gut, Miss Kelsey. Er ist wieder bei uns, und er wird sich an Sie erinnern.«
Sie löste meine Frisur und bürstete mir in langen, gleichmäßigen Strichen das Haar. Es war beruhigend und erinnerte mich an meine Mutter.
»Denken Sie das wirklich?«
»Ja. Selbst wenn er sein Gedächtnis nicht zurückbekommt, wird er sich zwangsläufig wieder in Sie verlieben. Meine Mutter hat ein Sprichwort: Ein tiefer Brunnen versiegt nie. Seine Gefühle für Sie sind zu stark, als dass sie jemals ganz verschwinden könnten, selbst während einer Trockenzeit wie dieser.«
Ich lachte mit Tränen in den Augen. »Ich würde Ihre Mutter gerne mal kennenlernen.«
»Vielleicht werden Sie das.«
Kurz darauf ließ sie mich allein, und da ich mich etwas besser fühlte, hinkte ich langsam die Treppe hinunter.
Kishan schritt nervös in der Küche auf und ab. Er blieb wie angewurzelt stehen, als ich hereinkam, und half mir mich hinzusetzen.
»Dein Knöchel sieht besser aus«, sagte er nach einem kurzen Blick auf meinen Fuß.
»Ich habe Mr. Kadams Rat befolgt und den Knöchel den ganzen Vormittag mit Eis gekühlt und hochgelegt.«
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.
»Ja. Mir geht’s gut. Es ist nicht das Wiedersehen, das ich mir erhofft hatte, aber immer noch besser, als ihn tot vorzufinden.«
»Ich werde dir helfen. Wir können gemeinsam mit ihm arbeiten.«
Diese Worte mussten ihm schrecklich schwergefallen sein. Und dennoch wusste ich, dass sie aus tiefstem Herzen kamen. Er wollte, dass ich glücklich war, und wenn mein Glück an Ren hing, würde er mir helfen, dass ich wieder mit ihm zusammenkam.
»Vielen Dank. Das weiß ich wirklich zu schätzen.«
Ich machte einen Schritt auf ihn zu und wäre beinahe gefallen. In letzter Sekunde fing er mich auf und zog mich zögerlich an sich. Er erwartete wohl, dass ich ihn wegschieben würde, wie mir das in letzter Zeit zur Gewohnheit geworden war, doch stattdessen legte ich ihm die Arme um den Hals.
Er streichelte mir den Rücken, seufzte und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Genau in diesem Augenblick spazierte Ren in die Küche. Ich versteifte mich, fürchtete ich doch, er würde mit einem Wutanfall reagieren, weil Kishan mich berührte, aber er würdigte uns keines Blickes, schnappte sich eine Flasche Wasser und verschwand wortlos.
Kishan hob mein Kinn mit dem Finger. »Er wird schon wieder zu sich kommen, Kells.«
»Na klar.«
»Willst du einen Film anschauen?«
»Das hört sich gut an.«
»Okay. Aber einen Actionfilm. Keines von deinen Musicals.«
Ich lachte. »Action, hm? Irgendwie habe ich das Gefühl, dir würde Indiana Jones gefallen.«
Er legte mir einen Arm um die Taille und half mir in den kleinen Kinosaal.
Erst am späten Abend sah ich Ren wieder, der auf der Veranda saß und den Mond betrachtete. Ich blieb stehen und fragte mich, ob er lieber allein sein wollte. Dann entschied ich, dass er mich jederzeit wegschicken könnte, falls dem so wäre.
Als ich die Tür aufschob und ins Freie trat, neigte er den Kopf, rührte sich ansonsten jedoch nicht.
»Störe ich?«, fragte ich.
»Nein. Möchtest du dich setzen?«
»Danke.«
Er erhob sich und half mir höflich, mich ihm gegenüber hinzusetzen. Ich musterte Rens Gesicht. Seine blauen Flecke waren fast verschwunden, und sein Haar war gewaschen und geschnitten. Er trug lässige Designerklamotten, doch seine Füße waren nackt. Bei ihrem Anblick keuchte ich erschrocken auf. Sie waren immer noch bläulich und geschwollen, was bedeutete, dass er schreckliche Schmerzen haben musste.
»Was hat er mit deinen Füßen gemacht?«
Seine Blicke folgten meinen, und er zuckte mit den Schultern. »Er hat sie mir immer wieder gebrochen, bis sie sich wie aufgequollene Sitzsäcke angefühlt haben.«
»Oh«, sagte ich mit leichtem Unbehagen. »Darf ich deine Hände sehen?«
Er streckte sie aus. Ich nahm sie zärtlich in meine und begutachtete sie eingehend. Seine goldene Haut war makellos, seine Finger lang und gerade. Die Nägel, die bis vor Kurzem eingerissen und blutig gewesen waren, waren nun gesund und nachgewachsen. Ich drehte seine Hand um und betrachtete die Innenflächen. Abgesehen von einer tiefen Schnittwunde, die an seinem Handgelenk endete, waren sie unversehrt. Ein normaler Mensch, dem die Hand so oft mit roher Gewalt gebrochen worden war, hätte wahrscheinlich jegliches Gefühl in ihnen verloren. Zumindest wären die Knöchel geschwollen und steif. »Was ist damit?«, fragte ich und fuhr sanft den Schnitt nach.
»Die stammt von einem Experiment, bei dem er mir mein ganzes Blut abgepumpt hat, um zu sehen, ob ich überlebe. Die gute Nachricht lautet, ich habe überlebt. Allerdings war er ziemlich verärgert, dass seine Kleidung blutverschmiert war.« Abrupt löste er die Hände von meinen und breitete die Arme auf der Lehne der Hollywoodschaukel aus.
»Ren, ich …«
Er hielt eine Hand hoch. »Du musst dich nicht entschuldigen, Kelsey. Es ist nicht deine Schuld. Kadam hat mir alles erklärt.«
»Wirklich? Was hat er gesagt?«
»Er hat mir erzählt, dass Lokesh in Wirklichkeit hinter dir her war, weil er Kishans Amulett wollte, das du jetzt trägst, und dass er uns alle geschnappt hätte, wäre ich nicht zurückgeblieben.«
»Ich verstehe.«
Er lehnte sich vor. »Ich bin froh, dass er mich an deiner statt gefangen hat. Du wärst auf schreckliche Art gestorben. Niemand verdient einen solchen Tod. Es ist besser, dass ich oder Kishan gefangen werden als du.«
»Das war sehr ritterlich von dir.«
Er zuckte mit den Schultern und blickte zu den Lichtern im Pool.
»Ren, was hat er dir … angetan?«
Er drehte sich wieder zu mir um und senkte den Blick auf meinen geschwollenen Knöchel. »Darf ich?«
Ich nickte.
Er hob behutsam mein Bein und legte es sich in den Schoß. Sanft strich er mit dem Finger über die purpurfarbenen blauen Flecken und schob ein Kissen darunter. »Es tut mir leid, dass du verletzt wurdest. Leider heilst du nicht so schnell wie wir.«
»Du weichst meiner Frage aus.«
»Manches sollte ungesagt bleiben. Es ist schlimm genug, wenn ein Mensch davon weiß.«
»Reden hilft.«
»Wenn ich mich bereit fühle, darüber zu reden, werde ich mich Kishan oder Kadam anvertrauen. Sie sind abgehärtet. Sie haben in ihrem Leben schon viele schlimme Dinge gesehen.«
»Ich bin auch abgehärtet.«
Er lachte. »Du? Nein, du bist viel zu zerbrechlich, um die Gräuel zu hören, die ich durchlebt habe.«
Ich verschränkte die Arme. »Ich bin nicht so zerbrechlich.«
»Tut mir leid. Ich habe dich beleidigt. Zerbrechlich ist das falsche Wort. Du bist zu … rein, zu unschuldig, um solche Dinge zu hören. Ich will deine Gedanken nicht mit all den Grausamkeiten belasten, die Lokesh mir angetan hat.«
»Aber es könnte helfen.«
»Du hast schon genug für mich getan.«
»Alles, was dir widerfahren ist, ist geschehen, weil du mich beschützt hast.«
»Daran erinnere ich mich nicht, aber selbst wenn ich mich erinnern könnte, würde ich mich trotzdem weigern, mit dir darüber zu sprechen.«
»Wahrscheinlich. Du kannst ziemlich stur sein.«
»Ja. Manche Dinge ändern sich nicht.«
»Fühlst du dich gut genug, um ein paar Erinnerungen aufzufrischen?«
»Wir können es versuchen. Wo willst du anfangen?«
»Warum fangen wir nicht mit dem Anfang an?«
Er nickte, und ich erzählte ihm, wie ich ihn zum ersten Mal im Zirkus gesehen und mit ihm gearbeitet hatte. Wie er aus seinem Käfig geflohen war und ich mir Vorwürfe gemacht habe, die Tür nicht richtig verschlossen zu haben. Ich trug ihm das Katzengedicht vor und beschrieb ihm das Bild, das ich von ihm in mein Tagebuch gemalt hatte. Es war sonderbar, aber er erinnerte sich an das Gedicht. Er konnte mir sogar einen Teil auswendig aufsagen.
Als ich endete, war eine Stunde verstrichen. Ren hatte mir die ganze Zeit aufmerksam gelauscht und genickt. Am meisten schien er sich für mein Tagebuch zu interessieren.
»Dürfte ich es lesen?«, fragte er zögerlich.
Ich rutschte verlegen hin und her. »Vielleicht würde das helfen. Ich habe ein paar unserer Gedichte eingeklebt, und es beschreibt fast alles, was wir unternommen haben. Es könnte sein, dass meine Erinnerungen irgendetwas in dir auslösen. Du musst dich aber auf viel gefühlsduseligen Mädchenquatsch gefasst machen.«
Er hob eine Augenbraue. Hastig fügte ich hinzu: »Beziehungstechnisch hatten wir einen eher holprigen Start. Am Anfang habe ich dich abblitzen lassen, dann meine Meinung geändert und mich schließlich noch mal von dir getrennt. Es waren nicht die klügsten Entscheidungen meines Lebens, aber damals hielt ich es für das Beste.«
Er lächelte. »›Nach allem, was ich jemals las und jemals hört in Sagen und Geschichten, rann nie der Strom der treuen Liebe sanft.‹«
»Wann hast du den Sommernachtstraum gelesen?«
»Habe ich nie. Ich habe in der Schule ein Buch mit den berühmtesten Shakespeare-Zitaten auswendig lernen müssen.«
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Nun, zumindest etwas, das ich weiß und du nicht.« Er seufzte. »Diese Situation ist sehr verwirrend für mich. Ich entschuldige mich zutiefst, falls ich dich verletzt haben sollte. Es war nie meine Absicht. Mr. Kadam hat mir erzählt, deine Eltern sind verstorben. Stimmt das?«
Ich nickte.
»Stell dir vor, du könntest dich an deine Eltern nicht erinnern. Du hast Geschichten von dem Mann und der Frau gehört, aber sie sind dir fremd. Sie haben Erinnerungen an Dinge, die du getan hast, ebenso wie sie Erwartungen an dich haben, aber du kannst dich einfach nicht erinnern. Sie haben Träume für deine Zukunft, die sich vielleicht nicht mit denen decken, die du hast.«
»Das muss hart sein. Vielleicht würde ich sogar anzweifeln, was mir erzählt wird.«
»Genau. Insbesondere dann, wenn du monatelang physisch und psychisch gefoltert wurdest.«
»Ich verstehe.« Ich erhob mich, und es zerbrach mir erneut das Herz.
Ren berührte meine Hand. »Ich will deine Gefühle nicht verletzen. Es gibt weitaus Schlimmeres, als erzählt zu bekommen, dass man eine süße, nette Freundin hat, an die man sich nur leider nicht erinnern kann. Ich brauche Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen.«
»Ren? Denkst du …? Ich meine, besteht die Möglichkeit? Könntest du lernen, mich wieder zu … lieben?«
Er sah mich eine Weile nachdenklich an und sagte: »Ich werde es versuchen.«
Ich nickte stumm. Er ließ meine Hand los, und ich schloss mich in meinem Zimmer ein.
Er wird es versuchen.
Eine Woche verging ohne nennenswerte Verbesserung. Trotz angestrengter Bemühungen von Kishan, Mr. Kadam und Nilima konnte Ren sich an nichts erinnern, was mit mir zu tun hatte. Abgesehen von Nilima konnte er keinen von uns lange ertragen und verbrachte seine Zeit am liebsten mit ihr. Sie kannte mich am wenigsten und redete wahrscheinlich über Dinge, an die sie sich beide erinnerten.
Ich bereitete ihm jedes Gericht zu, das ihm in Oregon geschmeckt hatte, einschließlich meiner Schoko-Erdnussbutter-Cookies. Beim ersten Mal, war er begeistert, aber nachdem ich ihm von der Bedeutung der Cookies erzählt hatte, verschlang er sie beim zweiten Mal nicht mehr mit demselben Enthusiasmus. Er wollte nicht, dass ich enttäuscht war, da sie ihm keine Erinnerung entlockten. Kishan nutzte Rens Zurückhaltung schamlos aus und verputzte jeden übrig gebliebenen Krümel. Bald darauf stellte ich meine Kochversuche ein.
Eines Abends, als ich zum Essen die Treppe hinabgeschlurft kam, warteten die anderen gespannt an der Tür zum Esszimmer auf mich, das mit pfirsich- und cremefarbenen Luftschlangen dekoriert war. Eine große Sahnetorte thronte in der Mitte des wunderschön geschmückten Tisches.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Miss Kelsey!«, rief Mr. Kadam.
»Mein Geburtstag? Den hatte ich völlig vergessen!«
»Wie alt bist du jetzt, Kells?«, fragte Kishan.
»Äh … Neunzehn.«
»Sie ist noch ein Baby. Nicht wahr, Ren?«
Ren nickte und lächelte höflich.
Kishan umarmte mich stürmisch. »Hier. Setz dich, während ich deine Geschenke hole.«
Mr. Kadam hatte die Goldene Frucht benutzt, um mein Lieblingsgericht herbeizuzaubern: Cheeseburger, Pommes frites und einen Schokoladen-Milchshake. Alle anderen durften sich auch ihr Lieblingsessen wünschen, und wir lachten und amüsierten uns über die Wahl unseres Nachbarn. Es war das erste Mal seit geraumer Zeit, dass ich lachte.
Nachdem wir das Abendessen beendet hatten, verkündete Kishan, dass nun die Geschenke an der Reihe wären. Zuerst öffnete ich Nilimas Geschenk. Sie hatte mir ein teures französisches Parfum gekauft, das ich gleich ausprobierte und herumreichte.
Kishan schnupperte daran und schnaubte. »Kelsey riecht viel besser.«
Als es bei Ren angelangt war, lächelte er Nilima an und sagte: »Ich mag es.«
Mein unbeschwertes Lächeln war wie weggewischt.
Mr. Kadam reichte mir einen Briefumschlag und zwinkerte mir zu, als ich einen Finger unter die Lasche schob. Im Innern befand sich das Bild eines Autos.
Ich hielt es hoch. »Was ist das?«
»Ein neues Auto.«
»Ich brauche kein neues Auto. Zu Hause wartet der Boxster auf mich.«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Ich habe den Wagen und das Haus über einen Mittelsmann verkaufen lassen. Lokesh wusste davon, und ich musste unsere Spuren verwischen.«
Grinsend winkte ich mit dem Bild. »Und was für ein Auto ist das hier?«
»Nichts Spektakuläres. Nur eines, das Sie von A nach B bringt.«
»Und zwar?«
»Es ist ein McLaren SLR 722 Roadster.«
»Wie groß ist es?«
»Es ist ein Cabrio.«
»Passt ein Tiger hinein?«
»Nein. Es ist ein Zweisitzer, doch die Jungs sind jetzt die meiste Zeit über in Menschengestalt.«
»Kostet es mehr als 30000 Dollar?«
Er wand sich betreten. »Ja, aber …«
»Wie viel mehr?«
»Viel mehr.«
»Wie viel mehr?«
»Ungefähr 400000 Dollar mehr.«
Meine Kinnlade klappte herunter. »Mr. Kadam!«
»Miss Kelsey, ich weiß, das klingt verschwenderisch, aber wenn Sie darin fahren, werden Sie merken, dass es jeden einzelnen Cent wert ist.«
Ich faltete die Hände vor der Brust. »Ich werde ihn nicht fahren.«
Meine Worte schienen Mr. Kadam zu kränken. »Dieser Wagen ist ein Geschenk der Götter«, wollte er mich überreden.
»Dann fahren Sie damit. Ich nehme den Jeep.«
Er war versucht. »Wenn es Sie glücklich machen würde, könnten wir ihn uns teilen.«
Kishan klatschte in die Hände. »Ich kann es kaum erwarten.«
Mr. Kadam drohte ihm mit dem Zeigefinger. »O nein! Du nicht. Für dich besorgen wir einen hübschen Sedan. Gebraucht.«
»Ich bin ein guter Fahrer!«, protestierte Kishan.
»Du brauchst Übung.«
Kichernd unterbrach ich sie. »Okay. Wenn der Wagen geliefert wird, können wir noch mal darüber reden.«
»Der Wagen ist längst hier, Miss Kelsey. Er wartet in der Garage auf Sie. Vielleicht können wir später eine Spritztour machen.« Seine Augen funkelten vor Vorfreude.
»Also schön, nur Sie und ich. Vielen Dank für mein wunderbar verschwenderisches, völlig übertriebenes Geschenk.«
Er nickte glücklich.
»Okay.« Ich lächelte. »Ich bin bereit für mein nächstes Geschenk.«
»Dann wäre wohl ich an der Reihe«, sagte Kishan und reichte mir eine große weiße Schachtel mit einer blauen Samtschleife. Ich öffnete sie, schob das hauchdünne Einschlagpapier beiseite und strich über blauen Seidenstoff. Ich stand auf und nahm das Geschenk aus der Schachtel.
»Oh, Kishan! Es ist wunderschön!«
»Ich habe es extra anfertigen lassen, damit es uns an das Kleid erinnert, das du im Traumhain getragen hast. Ganz offensichtlich hat das Göttliche Tuch die echten Blumen, die in dem Stoff verwoben waren, nicht nachbilden können, aber es hat stattdessen Blumen aufgenäht.«
Zierliche blaue Kornblumen mit weichen grünen Stielen und Blättern zierten den Saum und die Seite des Kleides hinauf zur Taille, wo sie dann auf der anderen Seite bis zur Schulter führten. Geflügelte lila- und orangefarbene Feen saßen munter auf den Blättern.
»Vielen Dank! Ich liebe es!«
Ich umarmte ihn und küsste ihn flüchtig auf die Wange. Seine goldenen Augen strahlten vor Freude.
»Vielen Dank euch allen!«
»Äh, da wäre immer noch mein Geschenk. Es ist aber definitiv nicht so interessant wie die anderen.« Ren schob mir ein lieblos eingepacktes Geschenk hin und verpasste mein schüchternes Lächeln, da er lieber auf seine Hände starrte.
In dem Päckchen war etwas Weiches, Biegsames. »Was ist das? Lass mich raten. Eine neue Kaschmirmütze und passende Handschuhe? Nein, die würde ich in Indien nicht brauchen. Ah, ich weiß, ein Seidentuch?«
»Öffne es schon!«, drängte Nilima.
Ich riss das Geschenk auf und blinzelte mehrmals.
Mr. Kadam beugte sich vor. »Was ist es, Miss Kelsey?«
Eine Träne lief mir über die Wange. Hastig wischte ich sie mit dem Handrücken fort und lächelte. »Was für ein wunderbares Paar Socken.« Ich wandte mich an Ren. »Vielen Dank. Du musst gewusst haben, dass ich Socken brauche.«
Ren nickte und schob eine Gabel mit Essen auf seinem Teller hin und her. Nilima drückte mich aufmunternd und sagte dann: »Wer hat Lust auf Kuchen?«
Ich lächelte gespielt fröhlich, um die Stimmung nicht weiter zu trüben. Nilima schnitt den Kuchen an, während Mr. Kadam riesige Kugeln Eiscreme danebengab.
»Pfirsich! Ich hatte noch nie einen Pfirsichkuchen. Wer hat ihn gemacht? Die Goldene Frucht?«
Mr. Kadam war schwer damit beschäftigt, die nächste perfekte Kugel zu formen. »Ehrlich gesagt, Nilima und ich haben ihn gebacken«, gestand er.
»Und das Eis«, grinste ich, »ist Pfirsich mit Sahne?«
Mr. Kadam lachte. »Ja. Es ist die Marke, die Sie so lieben. Tillamook, wenn ich mich recht entsinne.«
Ich nahm einen zweiten Bissen vom Kuchen. »Ich wusste, dass ich den Geschmack kenne. Mein Lieblingseis. Vielen Dank für all den Aufwand.«
Mr. Kadam setzte sich, um sein eigenes Stück zu probieren, und sagte: »Nun ja, das war ich nicht allein. Das hier wurde schon vor langer Zeit geplant …« Seine Worte erstarben, als er seinen Fehler erkannte. Er hustete verlegen und stammelte: »Nun, nur so viel sei gesagt, es war nicht meine Idee.«
»Oh.«
Er redete in einem fort weiter, wahrscheinlich in dem Versuch, mich von dem Gedanken abzulenken, dass mein alter Ren schon vor Monaten eine Pfirsich-und-Sahne-Geburtstagsfeier für mich geplant hatte. Hastig erklärte mir Mr. Kadam, dass der Pfirsich in China ein Symbol für ein langes Leben wäre und Glück brächte.
Ich hörte ihm längst nicht mehr zu. Der Kuchen war mir in der Kehle stecken geblieben. Ich nippte an meinem Wasser.
Ren stocherte in seinem Pfirsicheis. »Ist noch etwas von dem Schokoladen-Erdnussbutter-Eis übrig? Ich bin kein großer Fan von Pfirsich-Sahne.«
Ich riss den Kopf hoch und sah ihn halb enttäuscht, halb entsetzt an, während ich Mr. Kadam sagen hörte, dass es in der Gefriertruhe war. Ren schob seinen Teller zur Seite und eilte aus dem Zimmer. Ich saß wie erstarrt da. Meine Gabel schwebte knapp vor meinem Mund. Im nächsten Moment brach eine überwältigende Welle der Verzweiflung über mich herein. Inmitten von etwas, das mein Himmel hätte sein können, umgeben von den Menschen, die ich am meisten liebte, während wir den Tag meiner Geburt feierten, durchlebte ich meine ganz eigene Hölle. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich entschuldigte mich, stand auf und drehte mich rasch weg. Verwirrt erhob sich Kishan.
In einem gescheiterten Versuch, meiner Stimme Enthusiasmus zu verleihen, fragte ich Mr. Kadam, ob wir die Spritztour auf morgen verschieben könnten.
»Natürlich«, sagte er leise.
Während ich nach oben ging, hörte ich, wie Kishan seinem Bruder drohte: »Was hast du jetzt schon wieder getan?«
Rens leise Antwort war kaum mehr zu vernehmen. »Ich weiß es nicht.«