25

Rens Rettung

Mein Mund wurde trocken, als ich den Bissen Fisch hinunterschluckte. Ich hustete, und Kishan schob ein Glas Wasser in meine Richtung. Ich nippte an dem kalten Getränk, räusperte mich und sagte nervös: »Was für Neuigkeiten?«

»Wir haben die Baiga gefunden, und etwas stimmt da nicht. Der Stamm hält sich in einem Dschungelgebiet auf, das weit entfernt von jedem Dorf liegt. Weiter, als sie in den letzten hundert Jahren gewandert sind. Sogar weiter, als das Gesetz erlaubt. Aber eines ist noch sonderbarer. Die Satellitenbilder zeigen in ihrer Nähe Technologie.«

»Was für Technologie?«, erkundigte sich Kishan.

»Mehrere große Fahrzeuge parken nahe der Siedlung, und die Baiga besitzen keine Autos. Ein großes Gebäude wurde ebenfalls dort errichtet. Es ist viel größer als alles, was die Baiga normalerweise bauen. Ich vermute, es handelt sich um eine Art Militärlager.« Er schob den Teller beiseite. »Den Berichten zufolge gibt es dort bewaffnete Wachen, die den Wald absuchen. Es macht den Anschein, als würden sie die Baiga vor einem Angriff beschützen.«

»Aber wer würde die Baiga im Dschungel angreifen?«, fragte ich.

»Das ist die spannende Frage. Es gibt keinerlei Streitigkeiten oder Kampfhandlungen zwischen den Baiga und anderen Volksgruppen. Die Baiga haben keine Krieger und besitzen nichts, was für die Außenwelt von Wert wäre. Sie haben keinen Grund, einen Angriff zu fürchten. Außer, sie haben einen wertvollen …« Er blickte zu Kishan. »Tiger.«

Kishan schnaubte. »Das hört sich wirklich an, als wäre da was im Busch.«

»Aber warum die Baiga?«, fragte ich. »Warum hält er Ren nicht in der Stadt oder einem richtigen Militärlager gefangen?«

Mr. Kadam zog einen Stapel Papiere heraus. »Darauf habe ich vielleicht auch eine Antwort. Ich habe mit einem Freund telefoniert, der Professor für Alte Geschichte an der Bangalore-Universität ist und die Baiga eingehend studiert hat. Sie haben schreckliche Angst vor bösen Geistern und Hexen und glauben, dass jedes schlimme Ereignis – Krankheit, eine verlorene Ernte, Tod – auf das Konto eines bösen Geists geht. Sie glauben an Magie und verehren ihren Gunia, ihren Medizinmann. Wenn Lokesh vor ihren Augen einen Zauber angewandt hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Menschen alles für ihn tun würden. Sie betrachten sich als Hüter des Waldes. Lokesh könnte sie zum Umzug bewegt haben, indem er sie davon überzeugt hat, dass der Dschungel in Gefahr ist. Den anderen Punkt, den mein Freund angesprochen hat, erscheint mir indes als noch interessanter. Den Gerüchten zufolge sollen die Gunia die Fähigkeit haben, Tiger zu kontrollieren.«

Ich keuchte auf. »Was? Wie soll das möglich sein?«

»Das vermag ich Ihnen nicht zu sagen, aber irgendwie gelingt es ihnen, ihre Dörfer vor Tigerangriffen zu schützen. Vielleicht hat Lokesh herausgefunden, dass in dem Mythos ein Fünkchen Wahrheit steckt.«

»Sie glauben, sie benutzen eine Art Magie, um Ren dort festzuhalten?«

»Ich weiß es nicht, doch es scheint mir die Mühe wert, dieser Spur nachzugehen.«

»Worauf warten wir dann noch? Brechen wir auf!«

»Ich brauche etwas Zeit, um einen Plan auszuarbeiten, Miss Kelsey. Unser Ziel lautet, dass wir alle überleben. Und da wir gerade davon sprechen: Ich muss Ihnen beiden mitteilen, dass meine Informanten verschwunden sind. Die Männer, die ich geschickt habe, um das Penthouse des höchsten Gebäudes in Mumbai zu durchsuchen, sind wie vom Erdboden verschluckt. Sie haben mich nicht kontaktiert, und ich fürchte das Schlimmste.«

»Denken Sie, sie sind tot?«

»Sie sind nicht die Sorte Menschen, die sich lebend gefangen nehmen lassen«, erwiderte er trocken. »Ich kann mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, dass noch mehr Menschen für unsere Sache sterben. Von nun an sind wir auf uns allein gestellt.« Er blickte zu Kishan. »Wir befinden uns im Krieg gegen Lokesh.«

Kishan ballte die Fäuste. »Dieses Mal werden wir nicht mit eingezogenem Schwanz davonlaufen.«

»Allerdings.«

Nach einem leisen Räuspern sagte ich: »Das ist toll für euch beide, aber ich bin keine Kriegerin. Wie sollen wir gewinnen? Wir drei gegen die Übermacht von Lokeshs Männern?«

Kishan legte eine Hand auf meine. »Du bist eine gute Kriegerin, Kells. Mutiger als viele, mit denen ich je gefochten habe. Und Mr. Kadam war berühmt für seine Strategien, mit denen wir gegen jede noch so große Übermacht gewonnen haben.«

»Wenn ich im Laufe meiner vielen Lebensjahre eines gelernt habe, Miss Kelsey, dann, dass ein sorgfältig ausgearbeiteter Plan fast zwangsläufig zu einem positiven Endergebnis führt.«

Kishan unterbrach ihn: »Und vergiss nicht, wir haben viele Waffen zur Verfügung.«

»Lokesh auch.«

Mr. Kadam tätschelte mir die Hand. »Wir haben mehr.« Er zog ein Satellitenfoto heraus, nahm einen roten Stift zur Hand und begann, wichtige Punkte einzukreisen. Dann reichte er mir ein Blatt Papier und einen Stift. »Sollen wir anfangen?«

Als Erstes stellten wir eine Liste mit all unseren Fähigkeiten zusammen und überlegten, wie wir sie am besten einsetzen könnten. Einige Ideen waren albern, andere wiederum vielversprechend. Ich notierte einfach alles, denn im Vorhinein konnten wir nicht wissen, was sich später als nützlich erweisen würde.

Mr. Kadam markierte den Punkt auf der Karte, wo er Ren vermutete. Ihm zufolge waren die einfachsten Pläne die besten, und unser Plan war theoretisch ein Kinderspiel: Hineinschleichen. Ren finden. Verschwinden.

Trotzdem bestand Mr. Kadam darauf, den Plan von allen nur erdenklichen Blickwinkeln aus zu betrachten, und berechnete jede noch so unvorhersehbare Eventualität ein. Er stellte unzählige Was-wenn-Fragen: Was, wenn Kishan das Lager nicht betreten kann, weil er ein Tiger ist? Was, wenn es Tigerfallen im Dschungel gibt? Was, wenn es mehr Soldaten gibt, als wir angenommen haben? Was, wenn wir nicht vom Dschungel aus hineinkommen? Was, wenn Ren nicht dort ist?

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Zu jedem Problem zeigte Mr. Kadam eine Lösung auf, die uns dennoch zum Erfolg führen würde. Dann ließ er mehrere Probleme gleichzeitig auftreten und drillte Kishan und mich mit den verschiedenen Lösungen. Wir mussten uns einbläuen, wie wir unser Verhalten dem jeweiligen Problem anpassen würden. Ich kam mir vor, als würde ich jeden möglichen Ausgang in einem interaktiven Spielbuch auswendig lernen.

Mr. Kadam ließ uns mehrere Probedurchläufe absolvieren. Wir mussten die Grenzen der Goldenen Frucht und des Göttlichen Tuchs austesten sowie unzählige komplizierte Techniken mit unseren Waffen durchführen. Den restlichen Tag verbrachten wir mit Nahkampfübungen und der Kombination verschiedener Fertigkeiten. Als Mr. Kadam am ersten Abend endlich das Ende einläutete, war ich völlig erschöpft. Jeder Muskel schmerzte, mein Gehirn war platt und ich mit einer Schicht Ahornsirup und Baumwollfusseln überzogen – ein kombinierter Angriff mit der Frucht und dem Tuch, der nach hinten losgegangen war.

Nachdem ich ihnen eine Gute Nacht gewünscht hatte, stieg ich müde die Treppe hinauf, nahm Fanindra vom Arm und legte sie auf ihr Kissen. Mr. Kadam hatte sogar einen Plan für sie ausgetüftelt, aber sie hatte sich bei seiner Erläuterung nicht gerührt.

Wir wussten nicht, ob sie überhaupt etwas tun würde, aber sie würde auf jeden Fall mitkommen. Sie hatte mir schon mehrfach das Leben gerettet, weshalb sie es verdiente, zumindest dabei zu sein. Ihr goldener Körper drehte und wand sich, bis ihr Kopf bequem auf der obersten Windung ruhte. Ihre smaragdgrünen Augen funkelten einen Moment und erloschen dann.

Irgendetwas flatterte draußen vor dem Fenster. Meine Feenkleidung! Anscheinend gab es in dieser Welt keine Feen, weshalb die Sachen wohl oder übel in die Maschine mussten. Ich legte sie in meinen Wäschekorb, bevor ich unter die heiße Dusche stieg. Während sich meine geschundenen Muskeln entspannten, dachte ich darüber nach, ob ich die Feenkleidung in kaltem oder heißem Wasser waschen sollte. Beinahe wäre ich im Stehen eingeschlafen, so beruhigend war die Dusche.

Eine Woche lang ließ uns Mr. Kadam ein erbarmungsloses Training absolvieren, bevor er der Meinung war, dass wir zum Dorf der Baiga aufbrechen konnten.

Wir drei standen im dunklen Dschungel am Fuß eines großen Baums, reichten das Göttliche Tuch herum und nahmen die uns jeweils zugedachte Gestalt an.

Kurz bevor sich Mr. Kadam verwandelte, flüsterte er: »Ihr wisst, was zu tun ist. Viel Glück.«

Ich schlang ihm das Göttliche Tuch um den Hals, band es fest und flüsterte: »Treten Sie in keine Falle.«

Lautlos glitt er in den Dschungel.

Kishan umarmte mich kurz und verschwand ebenfalls. Seine Schritte waren kaum zu hören. Schon bald befand ich mich allein im finsteren Dschungel. Ich spannte den Bogen und schob Fanindra den Arm hoch, während ich auf das Signal wartete.

Ein lautes Fauchen hallte durch den Wald, gefolgt vom Rufen mehrerer Männer. Das war mein Signal. Ich bahnte mir einen Weg zwischen den Bäumen hindurch in Richtung des Lagers, das etwa eine Meile entfernt lag. Als ich mich näherte, zog ich die Goldene Frucht heraus und murmelte meine Befehle. Meine Aufgabe lautete, die zwei Wachtürme am Rand des Lagers und die Flutlichter auszuschalten.

Lichter zuerst. Ich suchte das Gebiet mit den Augen ab und machte die verschiedenen Gebäude aus. Wir hatten die Satellitenbilder eingehend studiert und uns den Grundriss fest eingeprägt. Die Hütten der Baiga waren in einem Halbkreis am äußeren Rand des Lagers angeordnet, hinter den Militärbunkern und einigen Geländewagen, auch M-ATVs genannt. Mr. Kadam hatte erklärt, dass das M für MRAP stand, oder Mine Resistant Ambush Protected, was bedeutete, dass sie schrecklich schwer zu zerstören waren.

Die Hütten der Baiga waren aus geflochtenem Stroh gefertigt. Unter keinen Umständen wollte ich ihre Behausungen treffen, die ansonsten sofort in Flammen aufgehen würden.

Die Kommandozentrale bestand aus vier Gebäuden, jedes von der Länge eines Sattelschleppers, aber doppelt so hoch. Sie waren paarweise angeordnet, mit einer Metalllegierung beschichtet und wirkten äußerst robust. Zwei Wachtürme flankierten das Lager. Jeweils drei Soldaten beobachteten die Gegend von oben, während zwei Männer unten Wache schoben. Neben dem südlichen Turm ragte ein Pfosten mit einer Satellitenschüssel in die Höhe. Ich zählte vier Flutlichter, die beiden Suchscheinwerfer an jedem Wachturm nicht eingerechnet.

In meinen Aufgabenbereich fiel es, den Generator zu finden, aber ich konnte ihn nirgends entdecken. Vielleicht ist er in einer der Baiga-Hütten versteckt? Ich entschied, die Lichter einfach der Reihe nach zu zerstören. Ich hielt die Hand hoch und zielte. Wärme pulsierte durch meinen Arm, bis meine Finger in der Dunkelheit rot glühten. Energie schoss in einem langen weißen Zucken aus mir heraus. Ein Flutlicht nach dem anderen explodierte mit einem lauten Knall.

Jemand sprang in einen der Geländewagen und schaltete die Scheinwerfer an. Das ATV stotterte und ging gleich wieder aus. Das Benzin war wahrscheinlich von dem Biskuitboden aufgesaugt worden, mit dem ich dank der Göttlichen Frucht den Tank gefüllt hatte. Die Elektrizität funktionierte allerdings noch, und starke Suchscheinwerfer tasteten die Bäume nach mir ab. Mit voller Wucht zielte ich auf das Auto und sandte eine Extraportion Energie durch meine Handfläche, wusste ich doch, dass das Militärfahrzeug nur schwer zu zerstören war.

Krachend schlug mein Blitzstrahl in den Wagen ein und schleuderte ihn zehn Meter in die Luft. Er explodierte in einem Feuerball und landete mit einem lauten Scheppern von verbeultem Metall auf einem der anderen Wagen. Ich beschoss einen weiteren Wagen, der sich laut quietschend dreimal überschlug und gegen einen riesigen Baum prallte. Es kostete mich nur ein paar Sekunden, um die anderen Scheinwerfer auszuschalten.

Als Nächstes sollte ich mich um die beiden Wachtürme kümmern. Im Vergleich zu den anderen Gebäuden waren diese von einfacher Bauart. Auf vier hölzernen Streben, die die Kommandozentrale um ein Stockwerk überragten, befand sich eine Art Plattform, auf der drei bewaffnete Männer mit Suchscheinwerfern standen. Der einzige Weg hinauf war eine Holzleiter, die wahrscheinlich von den Baiga gebaut worden war.

Währenddessen hatten die Soldaten meine Position ausgemacht. Scheinwerfer drehten sich in meine Richtung, suchten nach mir. Ich schoss ein paar goldene Pfeile ab und hörte ein Grunzen und ein dumpfes Poltern, als ein Körper auf die Holzplanken sackte. Ich musste hier weg. Bolzen schwirrten surrend in das Gebüsch, in dem ich mich versteckte. Sie sollen uns lebend gefangen nehmen.

Ich rannte in die Dunkelheit. Fanindras Augen glühten sanft, spendeten mir gerade genügend Licht, um meinen nächsten Unterschlupf zu erreichen. Hinter einen dichten Busch gekauert, beschwor ich meinen Blitzstrahl herauf und schaltete den nächstgelegenen Turm aus, der in einem riesigen Feuerball explodierte und die Umgebung in grelles Tageslicht hüllte. Verängstigte Menschen stoben in alle Richtungen.

Im Schutz der aufgeschreckten Menschenmenge bahnte ich mir einen Weg zu dem anderen Wachturm. Ich versteckte mich zwischen zwei Gebäuden, als eine Gruppe Soldaten an mir vorbeirannte, und erledigte zwei der Männer von hinten. Mr. Kadam wandte sich währenddessen laut rufend und wild gestikulierend an die Baiga, scharte sie um sich und bat sie für den Kampf um Hilfe. Seine Theatralik zauberte mir für einen kurzen Moment ein Lächeln aufs Gesicht. Dann legte ich die Gada an die Stelle, an der Mr. Kadam sie finden würde.

Back to business. Im Schatten des Gebäudes stahl ich mich zum nächsten Turm und besah ihn mir genau. Als Erstes musste ich die Satellitenschüssel zerstören. Ich legte einen Pfeil auf, durchdrang ihn mit meinem Blitz und ließ ihn durch die Luft surren. Mit einem lauten Knall bohrte er sich in die Satellitenschüssel, die elektrisch aufgeladen knisterte und knackte, bevor sie explodierte. Mittlerweile waren die Soldaten des zweiten Turms dahintergekommen, wo ich war. Gerade noch rechtzeitig machte ich einen Satz hinter ein paar Kisten, da hörte ich schon das Zischen mehrerer Bolzen, die sich genau an der Stelle in den Boden bohrten, an der ich gerade noch gesessen hatte.

Mein Herz pochte laut vor Angst. Wenn mich einer ihrer Bolzen traf, war ich erledigt. Ich konnte weder Kishan helfen noch Ren befreien. Als ich das Rufen von Männern hörte, die nach mir suchten, nahm ich all meinen Mut zusammen und zog einen weiteren Pfeil aus dem Köcher. Der goldene Pfeil glitzerte im Mondlicht und flirrte, als ich ihn mit meinem Blitzschlag auflud. Dieses Mal war ich meinem Ziel zu nah, und als der Turm detonierte, war die Druckwelle so stark, dass ich in die Luft geschleudert wurde und beim Landen mit dem Kopf gegen ein Gebäude knallte. Schwere Holzklötze von dem zerstörten Wachturm regneten herab, und brennende Splitter trafen mich, als ich mich schwankend auf die Beine zog. Vorsichtig betastete ich meinen Hinterkopf. Ich blutete.

Auf einmal kam ein Soldat auf mich zugelaufen und griff mich an. Wir rollten über den Boden. Ich boxte ihm in den Magen und sprang auf. Als er sich ebenfalls aufrappelte, klammerte ich mich an seinem Rücken fest, wie Ren es mich gelehrt hatte, und versuchte, ihm die Luft abzuschnüren. Er taumelte nur kurz, bevor er sich mit einem Ruck drehte und mich gegen einen Felsen knallte. Mein Schädel knackte, und ich spürte, wie mir Blut von der Schläfe die Wange herablief.

Ich lag reglos vor dem Felsen und keuchte, erschöpft, benommen und blutend. Der Soldat stand höhnisch grinsend vor mir und bückte sich, um mich zu erwürgen. Ich hob die Hand, starrte aus verengten Augen sein rußgeschwärztes Gesicht an und traf ihn mit einem Blitz in die Brust. Er flog mehrere Meter, knallte gegen die Kommandozentrale und sackte mit hängendem Kopf auf dem Erdboden zusammen.

Jetzt musste ich Ren finden. Ich schlängelte mich wankend zwischen ein paar Hütten hindurch, und als ein zweiter Soldat auf mich zukam, duckte ich mich zur Seite, ließ mich fallen und brachte mich mit einer Rolle vor dem Betäubungsbolzen in Sicherheit, den er auf mich abfeuerte. Rasch setzte ich mich auf und erledigte den Mann mit einem leichten Blitzschlag.

Die Tür zum Hauptgebäude wurde von zwei kampfbereiten Soldaten bewacht. Während ich mich näherte, riefen sie mir ein paar Worte in einer mir fremden Sprache zu. Ich nickte kurz, und einer von ihnen sperrte auf und ließ mich eintreten. Diesmal kam ich ungeschoren davon. Sie kannten mein Gesicht und hatten mich nicht in Aktion gesehen.

Leise schlüpfte ich in das Gebäude. Zu meinem Pech schloss sich die Tür hinter mir und verriegelte sich automatisch. Ich schob das Problem beiseite, könnte ich mir doch später schlimmstenfalls mit dem Blitz einen Weg aus der Kommandozentrale brennen. Meine Schläfen pochten schrecklich, doch abgesehen davon hatte ich Glück gehabt. Ich hatte mehrere schlimme Abschürfungen und Schnittwunden, eine fette Beule am Hinterkopf und war wahrscheinlich am ganzen Körper mit blauen Flecken übersät, hatte aber keine lebensbedrohliche Verletzung abbekommen. Ich hoffte inständig, dass es Mr. Kadam und Kishan gut ging.

Im Innern der Kommandozentrale war es dunkel. Ich befand mich in einer Art Lagerhalle voller Kisten und Vorräte. Ich durchsuchte das Gebäude und fand die Schlafräume der Soldaten. Ein sonderbarer Moment folgte, als ich der Person über den Weg lief, deren Gestalt ich angenommen hatte. Sein überraschter Gesichtsausdruck verwandelte sich rasch in Entsetzen, als ich auf ihn feuerte. Ein kurzes Aufflackern von Licht erhellte den Raum, und mein Gegenüber sank zu Boden.

Obwohl das Gebäude nur spärlich möbliert war, stolperte ich in der Dunkelheit mehrmals über Kisten, während ich ein Zimmer nach dem anderen durchkämmte. Fanindras grüne Augen begannen zu glühen, und ich konnte meine Umgebung nun deutlicher ausmachen. Da hörte ich auf einmal Lokesh und Kishan im Nebenzimmer. Die Situation schien zu eskalieren. Die Zeit lief uns davon. Laut unserem Plan hätte ich Ren längst gefunden haben müssen.

Hätte ich gleich zu Beginn den Generator ausgeschaltet, hätte ich mir viel Zeit gespart, doch stattdessen musste ich jeden einzelnen Suchscheinwerfer zerstören und gegen mehr Soldaten kämpfen als erwartet. Der Plan musste leicht abgeändert werden. Zuerst musste ich Kishan zu Hilfe eilen. Glücklicherweise hatte uns Mr. Kadam auf jede Eventualität gedrillt. Widerstrebend brach ich die Suche nach Ren ab.

Ich schlich in den hinteren Teil der Kommandozentrale und kletterte auf mehrere Kisten. Nun überschaute ich einen Raum von der Größe einer kleinen Lagerhalle. In Metallregalen lagen Waffen und Vorräte gestapelt. Eine Menge lebloser Soldaten bewies, dass Kishan Lokeshs Wachen erfolgreich ausgeschaltet hatte. Aber jetzt hatte Lokesh ihn in seinem Büro in die Enge getrieben.

Für militärische Verhältnisse war das Büro äußerst luxuriös. Ein dicker Teppich bedeckte den Boden, ein ausladender Schreibtisch stand in einer Ecke, und an einer Wand hingen mehrere Monitore, auf denen die chaotischen Szenen außerhalb der Kommandozentrale aufblitzten. Eine andere Wand war mit elektronischen Geräten und Apparaturen bedeckt, die mich an ein U-Boot denken ließen. Mehrere rote Lichter blinkten leise, wahrscheinlich eine Art Alarm.

Drei Deckenlampen summten über unseren Köpfen, flackerten, als würden sie nur noch ungenügend mit Energie versorgt werden. In einer Glasvitrine neben dem Schreibtisch war ein Sammelsurium an glänzenden Waffen ausgestellt. Kishan spielte seine Rolle gut. Ich legte einen Pfeil auf und wartete, dass er einen Schritt zur Seite und aus meiner Schusslinie trat. Hochmütig und von Selbstsicherheit durchdrungen versuchte Lokesh, Kishan einzuschüchtern.

Im Gegensatz zu seinen Soldaten trug Lokesh keine Uniform, sondern einen schicken schwarzen Anzug mit blauem Seidenhemd. Er sah jünger aus als Mr. Kadam, aber sein Haar war an den Schläfen bereits ergraut und mafiosomäßig mit einer Schicht Gel aus dem Gesicht gekämmt. Erneut fiel mir auf, dass er an jedem Finger einen Ring trug, die er beim Reden beiläufig drehte. Eine gehässige Bemerkung ließ mich aufhorchen.

»Ich kann dich mit einem einzigen Wort in Stücke reißen, aber ich genieße es, Menschen leiden zu sehen. Und dich hier bei mir zu haben, ist mir eine besondere Freude, auf die ich schon sehr, sehr lange gewartet habe. Ich kann mir nicht erklären, was du hier erreichen wolltest. Ihr könnt unmöglich gewinnen. Auch wenn ich eingestehen muss, dass ich beeindruckt bin von der Art, wie du meine Elitesoldaten ausgeschaltet hast. Es sind perfekte Kämpfer.«

Kishan grinste unverschämt, während die beiden einander umkreisten. »Wie es scheint, nicht perfekt genug.«

»Ja.« Lokesh kicherte hämisch. »Vielleicht kann ich dein Interesse wecken, und du stimmst zu, für mich zu arbeiten? Du bist offensichtlich recht einfallsreich und gewieft, und ich belohne jene gut, die mir dienen. Allerdings sollte ich nicht verschweigen, dass ich jene mit dem Tod bestrafe, die sich mir widersetzen.«

»Im Moment bin ich nicht auf der Suche nach einem Job, und irgendetwas sagt mir, dass die Zufriedenheit deiner Leute nicht besonders groß ist.«

Kishan rannte auf Lokesh zu, sprang in die Luft und traf ihn mit einem gezielten Tritt mitten ins Gesicht.

Lokesh spuckte Blut. Er lächelte, als ihm ein feines purpurrotes Rinnsal aus dem Mund lief. Grazil wischte er sich mit einem Finger über die Unterlippe, leckte ihn ab und lachte. Er schien den Schmerz zu genießen. Angewidert lief mir ein Schauder den Rücken herab.

»Das hier war eine nette Ablenkung«, fuhr er fort, »aber Schluss mit dem Geplänkel. Du hast ein Amulett, ich die Macht dreier anderer. Gib es mir, und du kannst mit dem Tiger verschwinden. Ich würde euch zwar nicht weit kommen lassen, aber zumindest hättet ihr eine faire Chance. Das würde die Jagd umso erquicklicher machen.«

»Ich denke, ich verschwinde mit dem Tiger und dem Amulett. Und wenn ich schon dabei bin, werde ich dich wohl töten und mir auch deine drei Teile des Amuletts unter den Nagel reißen.«

Lokesh lachte meckernd. »Du wirst mir geben, was ich will. Genau genommen wirst du es schon sehr bald zutiefst bereuen, mein großzügiges Angebot derart brüsk abgelehnt zu haben. Du wirst mir alles geben, was ich verlange, nur damit der Schmerz aufhört.«

»Wenn du das Amulett willst, warum kommst du dann nicht und holst es dir? Mal sehen, ob du genauso gut kämpfen wie drohen kannst. Oder überlässt du das Kämpfen heutzutage lieber anderen … alter Mann?«

Das Lächeln erstarb auf Lokeshs Mund, und er hob die Hände. Elektrizität funkelte zwischen seinen Fingern.

Kishan wollte sich wieder auf Lokesh stürzen, wurde aber von einer unsichtbaren Barriere aufgehalten. Lokesh murmelte Zaubersprüche, öffnete die Handflächen und reckte die Arme. Mehrere Gegenstände wurden in die Luft emporgehoben und kreisten wie bei einem Wirbelsturm, schneller und immer schneller. Ganz langsam brachte Lokesh seine Hände zusammen, und der Wirbelwind näherte sich Kishan. Die Gegenstände drehten sich um ihn und streiften seinen Körper. Eine Schere brachte ihm eine tiefe Schnittwunde an der Stirn ein, die sich jedoch sofort wieder schloss.

Lokesh sah, wie die Wunde verheilte, und starrte gierig auf das Amulett. »Gib es mir! Es ist meine Bestimmung, alle Teile zu vereinen!«

Kishan fing nun die größeren Gegenstände auf und zermalmte sie. »Warum versuchst du nicht, es mir vom Leichnam zu reißen?«, rief er.

Lokesh lachte entzückt – ein widerlich hämisches Wiehern. »Dein Wunsch sei mir Befehl.« Er klatschte in die Hände und rieb sie aneinander. Der Boden begann zu beben. Die Kisten, auf denen ich saß, schwankten gefährlich. Kishan stürzte und wurde mit einer Armada an Gegenständen bombardiert, darunter auch tödlichen Dingen wie Tackern, Scheren und Kugelschreibern sowie größeren Objekten wie Schubladen, Büchern und Computermonitoren.

Ich zitterte vor Furcht. Dieser Mann jagte mir mehr Angst ein als alles, was mir in meinem bisherigen Leben begegnet war. Lieber wäre ich von einer Horde Kappa gejagt worden, als diesem Mann in die Augen zu sehen. Das Böse floss geradezu auf ihm heraus, schwärzte alles um ihn. Seine Dunkelheit erstickte mich. Obwohl ihm meine Anwesenheit noch gar nicht bewusst war, hatte ich das Gefühl, als würden finstere Finger in meine Richtung kriechen, die mir das Leben aus dem Körper pressen wollten.

Ich hob eine zitternde Hand und schoss einen Blitzstrahl ab. Er verfehlte Lokesh um einen halben Meter, der jedoch so auf Kishan fixiert war, dass er den Lichtstrahl hinter sich überhaupt nicht bemerkte. Ihm entging zwar der heftige Aufprall auf der Glasvitrine mit seinen Waffen nicht, aber vermutlich führte er ihn auf das Erdbeben zurück, das er heraufbeschworen hatte. Das Glas explodierte. Die Splitter wurden vom Wirbelwind mitgerissen und schlitzten Kishan auf. Schon bald gesellte sich eine Flut an Waffen hinzu. Lokesh lachte vergnügt auf, als er beobachtete, wie Kishan von scharfen Glasscherben geschnitten wurde und im selben Moment wieder heilte. Eine große Scherbe bohrte sich in Kishans Arm. Er zog sie heraus. Blut strömte seinen Arm hinab und vermischte sich mit dem todbringenden Wirbelwind.

Ich war außer mir vor Angst. Meine Hände zitterten wie Espenlaub. Ich kann das! Ich muss mich zusammenreißen! Kishan braucht mich!, versuchte ich mir einzureden. Ich hob den Bogen und zielte auf Lokeshs Herz.

Währenddessen hörte ich draußen das Rufen von Menschen. Ich vermutete, dass es die Dorfbewohner waren und alles nach Plan verlief. Wenn nicht, konnten Kishan und ich uns auf gewaltige Schwierigkeiten gefasst machen, und das schon sehr bald. Ein mächtiges Donnern hallte in dem Saal wider, und ich lächelte vor Erleichterung. Das musste Mr. Kadam sein. Nichts konnte so laut wie die Gada dröhnen. Das Fundament des Gebäudes bebte. Die Zeit drängte. Wenn sie das Gebäude angriffen, hatten sie die Soldaten überwältigt und gefangen genommen. Mr. Kadams Überzeugungskraft musste überwältigend gewesen sein. Entweder das oder Lokesh hatte die armen Leute derart drangsaliert, dass sie ohnehin kurz vor einer Revolte standen.

Ich zielte direkt auf Lokeshs Herz, der sich jedoch im letzten Augenblick, als er das Grollen der Gada hörte, wegdrehte, und der Pfeil bohrte sich stattdessen tief in seine Schulter. Der Wirbelwind, der Kishan umgab, legte sich jäh, und alle Gegenstände fielen in einem tückischen Schauer zu Boden. Ein schwerer Metallsafe landete auf Kishans Fuß. Schmerzgepeinigt stöhnte er auf und schob das sperrige Monstrum zur Seite. Sein Fuß war gewiss gebrochen.

Lokesh drehte sich rasend vor Wut um und entdeckte mich. Elektrizität schoss aus seinen Fingerspitzen, und sein Atem ließ die Luft gefrieren. Ein eisiger Windhauch traf mich. Ich erstarrte und spürte, wie mir das Blut in den Adern gerann. Ich keuchte, verängstigter als je zuvor in meinem Leben.

»Du!«

Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper. Unter abscheulichen, bösen Verwünschungen in der Sprache, von der Lokesh annahm, dass ich ihrer mächtig wäre, zerrte er sich den blutigen Pfeil aus der Schulter und schoss ihn zu mir zurück. Mein Selbsterhaltungstrieb entfachte schlagartig ein inneres Feuer in mir, und ich konnte mich wieder bewegen. Meine Hände flogen schützend vor mein Gesicht, und der Pfeil blieb Zentimeter vor meine Nase stehen. Ich streckte die Hand aus, und er glitt langsam herab. Verärgert klatschte Lokesh in die Hände und rieb sie boshaft aneinander, um die Kiste, auf der ich saß, zum Schwanken zu bringen. Ich purzelte auf den Boden, knallte bei meinem Fall gegen mehrere scharfe Kanten. Ich stöhnte und schob Kisten von meinem Körper. Mein Knöchel war schmerzhaft verdreht und unter einer Kiste eingeklemmt, meine Schulter war stark geprellt.

Kishan riss seine Chakram heraus, die er unter seinem Hemd versteckt hatte, und schleuderte sie zu den Deckenleuchten. Der Raum versank in Dunkelheit, während ich das metallische Schwirren der Waffe hoch oben hörte. Er warf die Chakram noch mehrere Male, konnte Lokesh jedoch nicht treffen, weil ein plötzlicher Sturm durch den Saal peitschte und den Diskus aus seiner vorhergesehenen Bahn lenkte. Nur mit größter Mühe gelang es mir, zu einem neuen Versteck zu kriechen. Da fing Kishan die Chakram auf und stürzte sich auf Lokesh. Ein erbitterter Kampf begann.

Lokesh schrie nach seinen Soldaten. Seine Stimme war laut und wurde immer lauter, während sie vom Wind nach draußen getragen wurde. Sie dröhnte derart markerschütternd, als würde er in ein Mikrofon rufen, doch all seine Soldaten waren außer Gefecht gesetzt. Niemand kam zu seiner Rettung. Die beiden Männer rollten wütend ineinander verkeilt in meine Richtung. Lokesh murmelte ein paar Worte, und eine Luftblase schob sich zwischen sie, drängte Kishan ab, sodass Lokesh aufspringen konnte.

Mühsam stand ich auf und hob die Hand. Mein ganzer Arm zitterte, als ich all meinen Mut zusammennahm. Doch das Feuer wollte nicht kommen. Mein Inneres fühlte sich kalt an, als wären die Flammen ausgetreten worden. In der Sekunde, als Lokesh aus den Augenwinkeln meine Bewegung gewahrte, wirbelte er herum. Er lachte über meinen erbärmlichen Versuch, und sein Murmeln setzte wieder ein. Ich erstarrte, konnte mich nicht rühren. Eine Träne rollte mir die Wange herab und gefror.

Kishan nutzte die Zeit, packte Lokesh am Arm und verdrehte ihn auf den Rücken. Im nächsten Moment presste er Lokesh die Chakram an die Kehle. Die funkelnde Klinge glitt in das zarte Fleisch, und ein blutiges Rinnsal tropfte an dem Metall hinab auf Lokeshs blaues Seidenhemd.

Lokesh schnaubte und flüsterte leise: »Willst du, dass er stirbt? Ich kann ihn auf der Stelle töten. Ich lasse sein Blut gefrieren, und sein Herz hört auf zu schlagen.«

Kishan blickte zu mir und hielt inne. Er hätte Lokesh mühelos enthaupten können, aber er konnte sich nicht durchringen. Er zögerte meinetwegen. Lokesh kicherte heiser, atmete schwer vor Anstrengung. Ein tiefer Donner ertönte, und die Wände erzitterten, als Mr. Kadam und die Dorfbewohner gegen das Gebäude hämmerten und es in seinem Fundament erschütterten.

Lokesh drohte erneut: »Wenn du mich nicht sofort loslässt, werde ich ihn töten. Entscheide dich!« Ein wütendes Funkeln brannte in seinen Augen, ein schwelendes Feuer, das nie ganz ausging.

Kishan ließ ihn los. Ich stöhnte innerlich, weil ich mich nicht bewegen konnte. Wir hatten schon fast gewonnen. Jetzt waren wir schutzlos einem Monster ausgeliefert.

Lokeshs Murmeln erscholl, und im nächsten Augenblick war Kishan ebenso starr wie ich. Lokesh richtete sich auf und klopfte sich übertrieben feierlich den Staub vom Aufschlag seines Jacketts, bevor er sich ein blütenweißes Taschentuch an seine blutende Kehle drückte. Dann lachte er, machte einen Schritt auf Kishan zu und tätschelte ihm liebevoll die Wange.

»Na also. Es ist doch immer eine weise Entscheidung zu kooperieren, nicht wahr? Erkennst du jetzt, wie sinnlos und unnütz es ist, sich gegen mich aufzulehnen? Vielleicht habe ich dich unterschätzt. Zumindest war dies der beste Kampf, den ich seit Jahrhunderten ausgefochten habe. Ich freue mich schon darauf, deinen Willen zu brechen.«

Er zog ein sehr altes, böse anmutendes Messer aus seinem Jackett und wedelte damit beinahe liebevoll vor Kishans Gesicht. Dann kam er noch näher und glitt mit der stumpfen Seite über seine Wange. »Dies ist die Klinge, mit der ich vor all den vielen Jahren deinen Prinzen verletzt habe. Sieh nur, wie ich sie im Laufe der Zeit gehegt und gepflegt habe, in welch hervorragendem Zustand sie ist. Wahrscheinlich bin ich ein sentimentaler, alter Narr. Aber insgeheim hatte ich immer gehofft, dass ich sie noch einmal benutzen könnte, um zu vollenden, was ich vor all den vielen Jahren begonnen habe. Ist es nicht angemessen, dass ich sie nun auch bei dir einsetze? Vielleicht ist sie genau für diesen einen Zweck bestimmt.

Aber wo soll ich nur anfangen? Eine kleine Narbe würde dein Gesicht ein bisschen weniger hübsch aussehen lassen, nicht wahr? Natürlich müsste ich dazu erst das Amulett entfernen. Ich habe gesehen, wie es dich heilt. Ich warte schon so lange auf deinen Teil des Schmuckstücks. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich nach der Macht gesehnt habe, die in deinem Amulett steckt.« Er spitzte die Lippen. »Wie schade, dass mir keine Zeit für ein paar kleine chirurgische Experimente bleibt. Ich würde es von tiefstem Herzen genießen, dir eine Lektion in Sachen Disziplin zu erteilen. Das Einzige, was mir noch mehr Freude bereiten würde, als dir mit dem Messer die Haut zu zerschneiden, wäre dich vor deinem Prinzen zu entstellen. Aber auch so wird er mein handwerkliches Können zu würdigen wissen.«

Entsetzen überkam mich. Wäre ich nicht längst zur Reglosigkeit verdammt gewesen, wäre ich jetzt vor Angst erstarrt. Es spielte keine Rolle, wie sehr ich mich auf diesen Augenblick vorbereitet hatte. Gegen jemanden zu kämpfen, der die Inkarnation des Bösen war, stellte sich als unsäglich schwierig heraus. Die Vögel, die Affen und die Kappa hatten nur ihre Aufgabe erledigt. Sie hatten die magischen Gaben beschützt, und das war in Ordnung. Aber Lokesh gegenüberzutreten und ihm zusehen zu müssen, wie er das Messer an Kishans Kehle drückte, war schrecklich.

Als er darüber zu sprechen begann, wie er Kishan Scheibe um Scheibe zerstückeln wollte, versuchte ich, seine Worte auszublenden. Es war widerlich. Hätte ich mich übergeben können, hätte ich es getan. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ein Mensch so abartig böse sein konnte. Ich wünschte, ich könnte mir die Ohren zuhalten. Mein armer Ren war monatelang von diesem Untier gefoltert worden. Bei dem Gedanken zerriss es mir das Herz.

Lokesh besaß die verschlagene Art von Imperator Palpatine, gepaart mit der sadistischen Grausamkeit eines Hannibal Lecter. Wie Lord Voldemort strebte er um jeden Preis nach Macht und legte wie Ming, der Unbarmherzige, der gleich ihm seine Tochter auf dem Gewissen hatte, eine erbarmungslose Brutalität an den Tag. Mein Körper zitterte vor Panik. Ich durfte nicht zusehen, wie er Kishan verletzte. Das hätte ich einfach nicht ertragen.

Er packte Kishan am Kinn und wollte gerade das Messer ansetzen, als mir schlagartig einfiel, dass, obwohl ich mich nicht mehr bewegen konnte, die Goldene Frucht dennoch funktionierte. Ich wünschte das Erstbeste herbei, das mir in den Sinn kam: Wunderkugeln, steinharte, riesige Bonbons. Und die bekam ich auch. Einen regelrechten Hagelsturm. Sie zerschlugen Bildschirme, ein Fenster zerbrach. Bei dem dröhnenden Hämmern zerplatzte mir fast das Trommelfell. Es klang, als würden Tausende von Murmeln auf einen spiegelglatten See prasseln. Alles um uns herum zerbrach, Kishan und ich schwankten und stürzten, als der Bonbonhagel uns traf. Ich verdankte es allein meinem Rucksack, dass ich mir nicht das Genick brach. Kishan musste bei meiner Aktion schwer verletzt worden sein, aber zum Glück heilte er rasch. Ich wäre schon dankbar, wenn auch nur einer von uns diesen Tag überlebte.

Schon bald war der Boden mit einer bunten Bonbonschicht bedeckt, die uns bis zu den Knien reichte. Auch Lokesh war nicht verschont geblieben, hatte das Gleichgewicht verloren und war in die Knie gegangen. Während er sich wieder aufrappelte und herauszufinden versuchte, woher der Sturm kam, stieß er mehrere Flüche in seiner Muttersprache aus. Dann erkannte er, dass ihm das Messer aus der Hand geglitten war, und wühlte aufgeregt in den Süßigkeiten. Zu diesem Zeitpunkt waren Kishan und ich fast vollständig begraben.

Das Gebäude erzitterte, und ein Teil der Mauer krachte auf die Zwischenwand neben uns. Nachdem Lokesh das Messer gefunden hatte, stürzte er vor, packte das Amulett um Kishans Hals und zerrte daran, biss die Kette riss. Ein roter Striemen blieb auf Kishans Haut zurück.

Hastig beugte sich Lokesh über ihn und berührte mit dem Messer sein Gesicht. »Wir sehen uns wieder«, flüsterte er mit einem widerlichen Grinsen, »und zwar bald.« Er zog eine blutige Linie von Kishans Wange bis zu seiner Kehle, was eine schreckliche Narbe, jedoch nicht seinen Tod bedeuten würde. Dann, mit einem gepeinigten Zischen, riss sich Lokesh von seinem Opfer los, watete durch die Bonbons zu einem versteckten Knopf an der Wand. Die Vertäfelung öffnete sich, und im nächsten Moment war Lokesh verschwunden.

Ein paar Dorfbewohner stürzten in Begleitung von Mr. Kadam ins Büro und kamen uns zu Hilfe. Kishan heilte bereits wieder, aber sein Hemd war blutgetränkt. Der Schnitt war tief. Ein Motor heulte auf, und ein Fahrzeug schoss aus einer verborgenen Garage unter dem Gebäude auf die Schotterstraße, die vom Dorf wegführte. Ich hätte die Goldene Frucht benutzen können, um seinen Tank zu verkleben, aber ich entschied mich dagegen.

Ich schämte mich entsetzlich, doch ich wollte ihm nicht gegenübertreten. Ich wollte, dass ihm die Flucht gelang. Ich wollte ihn nie mehr wiedersehen. Ich stand steif da, verzweifelte an meiner eigenen Feigheit. Ich war schwach. Hätte ich mich bewegen können, hätte ich mich in der hintersten Ecke des Zimmers versteckt und jämmerlich gewimmert. Lokesh war zu mächtig. Wir konnten nicht gewinnen.

Uns blieb nichts anderes, als darauf zu hoffen, dass wir uns vor ihm verbergen konnten. Ich wusste, Kishan und Mr. Kadam wären von mir enttäuscht. Was für eine Kriegerin ich abgab! Riesige Eisenvögel? Kein Problem. Kappa? Ich hatte Fanindra und Ren. Affen? Ein paar Bisse und blaue Flecke brachten mich nicht um. Aber Lokesh? Bei dem drehte ich mich auf dem Absatz um und rannte wie ein Angsthase davon.

Nach ein paar Minuten verlor der Zauberspruch, mit dem Lokesh Kishan und mich belegt hatte, an Kraft. Vorsichtig rieben wir unsere steifen Arme und Beine. Als sich Kishan genügend erholt hatte, watete er durch das Meer aus Bonbons auf mich zu. Mr. Kadam erteilte den Dorfbewohnern Anweisungen, während Kishan mich stützte und mit mir auf die Suche nach Ren ging.

Da entschloss sich auch Fanindra, endlich aufzuwachen und uns zu helfen. Sie rührte sich und wuchs, glitt zu Boden und schlängelte sich an Waffenkisten und Vorräten vorbei. Dann verharrte sie und schnupperte an einer Stelle in die Luft. Geschmeidig glitt sie unter ein paar Kisten hindurch, und Kishan untersuchte die Boxen genauer. In Wirklichkeit waren es nur Attrappen, und er schob sie hastig beiseite. Dahinter befand sich eine verschlossene Tür. Wir kamen gerade rechtzeitig, um einen letzten Blick auf Fanindras goldenen Schwanz zu werfen, der unter dem Spalt verschwand. Kishan versuchte vergeblich, die Tür aufzustemmen. Schließlich musste ich das Schloss mit meinem Blitzstrahl aufsprengen. Es kostete mich mehrere Sekunden, bis ich wieder genug Kraft hatte. Erst der Gedanke an Ren, der immer noch schrecklich litt, ließ mich meine Starre überwinden.

Die Tür schwang auf, und Kishans Nasenflügel blähten sich. Der feuchtkalte, süßliche Geruch von Blut und menschlichem Schweiß überdeckte alles. Ich wusste, wo ich war. Hier war ich schon einmal gewesen. Es war die Kammer, in der Lokesh Ren gefoltert hatte. Widerliche Werkzeuge hingen an den Wänden und lagen aufgereiht auf glänzenden Operationstischen. Der Anblick all der scharfen Instrumente und die Vorstellung, welchen Schmerz Lokesh dem Mann, den ich liebte, zugefügt hatte, ließen mir den Atem stocken.

Die modernen chirurgischen Gerätschaften lagen fein säuberlich auf Chromtabletts, während die älteren Instrumente in den Ecken verstaut waren oder an Haken hingen. Ich konnte nicht anders. Ich musste die Hand ausstrecken und das fransige Ende einer Peitsche berühren. Als Nächstes strich ich über den Griff eines großen Hammers und begann zu zittern, als ich mir vorstellte, wie er Rens Knochen zersplittert hatte. Unzählige Messer in verschiedenen Größen und Längen hingen griffbereit nebeneinander.

Da gab es Holzklötze, Schrauben, Nägel, Zangen, Eispickel, Lederriemen, einen eisernen Maulkorb, einen modernen Bohrer, ein mit Nägeln versehenes Halsband, eine Daumenschraube und sogar eine Lötlampe. Rasch fuhr ich mit den Fingern über die Gegenstände und brach in bitterliches Weinen aus. Sie zu berühren, war das Einzige, was ich tun konnte, um wahrhaft nachempfinden und verstehen zu können, was Ren alles hatte erleiden müssen.

Sanft nahm mich Kishan am Arm. »Sieh da nicht hin, Kelsey. Sieh einfach mich an oder schau auf den Boden. Das solltest du dir nicht antun. Es wäre besser, wenn du draußen wartest.«

»Nein. Ihm zuliebe muss ich hierbleiben. Das muss ich einfach.«

Rens Käfig stand in der hintersten Ecke des Raumes, in dem ich eine gebrochene Gestalt und ein Stück davon entfernt eine zusammengerollte glitzernde Schlange ausmachen konnte. Nachdem ich Fanindra hochgehoben hatte, ging ich einen Schritt zurück und jagte das Schloss in die Luft. Dann schob ich die Tür auf.

»Ren?«, rief ich leise.

Er erwiderte nichts.

»Ren? Bist du … wach?«

Die Gestalt rührte sich schwach, und ein blasses, ausgemergeltes Gesicht wandte sich mir zu. Seine blauen Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Er sah zu Kishan, riss die Augen auf und kroch zur Käfigtür. Kishan winkte ihn zu sich und streckte eine helfende Hand aus.

Zögerlich umklammerte Rens zitternde Hand den Metallstab in der Ecke des Käfigs. Seine Finger waren erst kürzlich gebrochen worden und blutüberströmt. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und meine Sicht verschwamm, als ich einen Schritt zurückwich, um ihm Platz zu machen. Kishan eilte herbei und half ihm auf die Beine. Als Ren schließlich stand, keuchte ich auf. Er musste vor nicht allzu langer Zeit schrecklich verprügelt worden sein. Das hatte ich erwartet. Und seine Wunden verheilten bereits.

Erschreckender war der Umstand, wie dürr er war. Lokesh hatte ihn verhungern lassen. Wahrscheinlich war er auch dehydriert. Sein starker Körper war hager, viel dünner, als ich mir das je hätte vorstellen können. Seine leuchtenden blauen Augen waren eingesunken. Seine Wangenknochen standen hervor, und sein seidig schwarzes Haar hing stumpf und strähnig herab. Er kam einen Schritt auf mich zu.

»Ren?«, sagte ich und streckte die Hand nach ihm aus.

Er sah mich mit schmalen Augen an, ballte die Faust und ließ sie mit einer Wucht hervorschnellen, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Ich spürte einen scharfen Schmerz im Kiefer und dann nichts mehr.