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Ein Weihnachtsgeschenk

Nun, da Halloween hinter mir lag, konzentrierte ich mich auf die Vorbereitungen für die Abschlussprüfungen und darauf, Artie aus dem Weg zu gehen. Es war ihm irgendwie gelungen, meine Handynummer herauszubekommen, und er rief mich jeden Tag um Punkt fünf an. Manchmal lauerte er mir auch nach dem Kurs auf. Der Typ wollte einfach nicht verstehen, egal wie groß der Zaunpfahl war, mit dem ich winkte.

Auch Jason, so nett er war, schien es nicht besonders zu stören, dass wir nicht zusammenpassten. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass meine Beziehung mit Jason keine Zukunft hatte, doch er war eine willkommene Ablenkung. Ich traf mich gern hin und wieder mit ihm. Außerdem arbeiteten wir im Anthropologiekurs gut zusammen.

Gerade in dem Moment, als ich das unverbindliche Daten zu schätzen gelernt hatte, entschied sich Li, mein Leben zu verkomplizieren. Wir plauderten angeregt im Studio, als er auf einmal verstummte. Nervös rollte er seine Wasserflasche zwischen den Handflächen hin und her. Schließlich sagte er: »Kelsey …, ich wollte dich fragen, ob du Lust hättest, mal mit mir auszugehen. Allein. Ein richtiges Date.«

Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. »Oh. Äh, ja, sicher«, stotterte ich. »Ich verbringe gerne Zeit mit dir. Du bist lustig, und man kann sich wunderbar mit dir unterhalten.«

Er verzog das Gesicht. »Schön, aber die Frage ist doch: Magst du mich oder magst du mich?«

Ich dachte eine Weile über meine nächsten Worte nach. »Hm, um ehrlich zu sein, ich finde dich toll und mag dich sehr. Genau genommen stehst du ganz oben auf meiner Liste mit Lieblingsmenschen. Aber ich weiß nicht, ob ich mich im Moment ernsthaft auf jemanden einlassen kann. Ich habe mich erst vor Kurzem von jemandem getrennt, und es tut immer noch furchtbar weh.«

»Oh. Das verstehe ich. Ich würde dich trotzdem gerne öfter sehen.«

Ich überlegte einen Augenblick. »Okay, das wäre schön.«

»Wie wäre es, wenn wir mit einem Kung-Fu-Film anfangen? Da gibt’s ein Kino, das freitags um Mitternacht alte Filme zeigt? Wie wär’s?«

»Okay, aber nur, wenn du mir versprichst, mir dann eine der coolen Techniken aus dem Film zu zeigen«, fügte ich hinzu, erleichtert, die Sache geregelt zu haben. Zumindest fürs Erste, dachte ich, als wir uns trennten.

Li und ich sahen uns nun regelmäßig außerhalb der Spieleabende und dem Studio. Er war ein Gentleman der alten Schule, und unsere Dates waren immer lustig und interessant.

Trotz all der Aufmerksamkeit, die mir entgegengebracht wurde, fühlte ich mich einsam. Es war nicht die Art von Einsamkeit, über die man sich mit anderen Menschen hinwegtrösten kann. Meine Seele fühlte sich einsam. Die Nächte waren am schlimmsten, weil ich ihn dann spürte, selbst über Ozeane hinweg. Ein unsichtbares Seil umschloss mein Herz, versuchte unablässig, mich zu ihm zurückzuziehen. Vielleicht, mit etwas Glück, wäre es eines Tages durchgewetzt und würde schließlich reißen.

Die Wushu-Stunden waren das perfekte Ventil für die Wut, die ich aufs Leben hatte. Ich wurde allmählich richtig gut. Meine Arme und Beine bauten Muskeln auf, und ich fühlte mich stärker. Wenn mich jetzt jemand angreifen würde, wäre ich vielleicht sogar in der Lage, ihn abzuwehren – ein berauschender Gedanke. Wer brauchte da noch einen Tiger? Ich würde meine Feinde einfach mit einem Tritt ins Gesicht das Fürchten lehren.

Als Kampfsportschüler durfte man solche Gedanken eigentlich nicht haben, aber die meisten anderen Menschen mussten sich im Gegensatz zu mir auch nicht mit unsterblichen Kappa-Affen herumschlagen, die einen bei lebendigem Leib auffressen wollten. Deshalb stellte ich mir meine unzähligen möglichen Gegner im Kopfkino vor und trat mit aller Kraft zu. Selbst Li machte eine Bemerkung darüber, dass meine Tritte besser wurden.

Li hielt sein Versprechen und zeigte mir eine Angriffsbewegung aus dem Film. Ich vermasselte es, und wir fielen lachend auf die Matte.

»Kelsey, bei dir alles in Ordnung? Habe ich dir wehgetan?«

Ich konnte nicht aufhören zu lachen. »Nein, mir geht’s gut. Tolle Technik, nicht wahr?«

Li lehnte über mir, das Gesicht nah an meinem. »Nicht schlecht. Zumindest habe ich dich jetzt genau dort, wo ich dich will.« Er beugte sich noch ein wenig weiter zu mir herab, beobachtete meine Reaktion. Ich erstarrte. Eine Woge der Traurigkeit spülte über mich hinweg. Ich drehte leicht den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Ich konnte ihn nicht küssen. Die Vorstellung war zwar nett, hätte bei mir aber keine Gänsehaut verursacht. Es wäre einfach nicht richtig gewesen.

»Es tut mir leid, Li.«

Er stupste mich sanft ans Kinn. »Mach dir keinen Kopf. Lass uns lieber einen Milchshake holen. Was meinst du?« In seinen Augen lag Enttäuschung, aber er schien fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen.

Mitten in meinem Dating-Tief meldete sich Mr. Kadam mit erfreulichen Neuigkeiten. Er hatte eine bedeutungsvolle Passage in Durgas Prophezeiung entschlüsselt und bat mich, ihm bei der Recherche zu helfen, was ich liebend gerne tat. Ich zog einen Notizblock hervor und fragte: »Was haben Sie für mich?«

»Die Prüfungen der Vier Häuser. Genau genommen sind es das Haus des Kürbis, das Haus der Versuchung und das Haus der geflügelten Geschöpfe.«

»Was für geflügelte Geschöpfe?«, fragte ich und musste schlucken.

»Das vermag ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu sagen.«

»Was ist mit dem vierten Haus?«

»Allem Anschein nach gibt es zwei Häuser mit geflügelten Tieren. Bei dem einen handelt es sich wohl um eine Art Vogel, auch wenn später in der Prophezeiung von Metall und Eisen die Rede ist. Das andere Tier ist mit dem Symbol für ›groß‹ versehen, und dasselbe Symbol taucht auch später wieder in der Prophezeiung auf. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie alle Mythen recherchieren könnten, bei denen es darum geht, Häuser zu durchschreiten oder eine Prüfung in Häusern abzulegen.«

»Gern. Ich melde mich bei Ihnen.«

»Sehr schön.«

Die restliche Unterhaltung über ging es um banale Dinge, und obwohl ich froh war, dass er mich in die Suche einbezog, drehte sich mir bei dem Gedanken, irgendwann wieder nach Indien reisen zu müssen, der Magen um. Auf Gefahren, Magie und das Übernatürliche war ich vorbereitet, aber eine Rückkehr würde ebenfalls bedeuten, ihm wieder unter die Augen zu treten. Ich war gut darin, den Schein eines normalen Lebens zu wahren, aber unter der Oberfläche, wo meine geheimsten Gefühle verborgen waren, brodelte es. Ich war fehl am Platz, kam mir wie ein Fremdkörper vor. Indien rief nach mir, manchmal leise, manchmal mit wildem Gebrüll, aber das Flehen setzte nie aus, und ich fragte mich, ob es mir überhaupt je gelingen würde, ein ganz normales Leben zu führen.

Thanksgiving bedeutete ein Tofu-Truthahnfest bei Sarah und Mike. Während des Essens glitt mein Blick immer wieder zu der Fülle an festlichen Kürbissen, ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, wie solch freundlich anmutende Gewächse zu einer Gefahr werden konnten, und bekam die Frage nicht aus dem Kopf, welche Rolle sie bei der nächsten Aufgabe spielen könnten.

Es war ein kalter, regnerischer Tag, aber im Kamin meiner Pflegeeltern prasselte ein hübsches Feuer. Anders als erwartet schmeckten ein paar der Gemüsegerichte richtig lecker. Von dem zucker- und glutenfreien Kuchen hingegen nahm ich lieber Abstand.

»Und, was gibt’s Neues? Irgendwelche heißen Typen im College, von denen du uns erzählen möchtest?«, neckte mich Sarah.

Ich blickte von meinem Teller auf. »Äh, nun ja, ich habe wirklich Dates«, räumte ich schüchtern ein. »Mit Li und Jason. Nichts Ernstes. Wir waren erst ein paarmal aus.«

Sarah war begeistert, und sie und Mike löcherten mich beide mit unzähligen Fragen, die ich geschickt umging.

Zum Glück hatte Jennifer Li und mich ebenfalls zum Thanksgiving-Essen eingeladen, und ich nutzte die Gelegenheit, um mich frühzeitig von meinen Pflegeeltern zu verabschieden und zu Jennifer zu flüchten. Sie wohnte in einem hübschen Haus in West Salem. Ich brachte eine Zitronen-Baisertorte mit, die erste, die ich je zu backen gewagt hatte, und war stolz auf das Ergebnis. Ich hatte das Baiser zwar einen Hauch zu lange im Ofen gelassen, aber abgesehen davon sah die Torte gut aus.

Lis Gesicht hellte sich auf, als er mich an der Tür sah, und er sagte zu Jennifer: »Siehst du? Ich hatte das größere Stück des Truthahnknochens, und mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen!«

Er gab zu, dass er sich bereits beim Thanksgiving-Essen bei seiner Familie vollgestopft, aber noch ein Plätzchen für meinen Kuchen freigelassen hatte. Und Li stand zu seinem Wort und verputzte die Hälfte meiner Torte.

Jennifer hatte einen Kürbis-, einen Brombeer- und einen Käsekuchen gebacken. Ich nahm mir von jedem ein kleines Stück und war im Himmel. Li stöhnte und beschwerte sich, dass sein Magen so voll war, dass er sich nicht bewegen könnte und hier schlafen müsste. Bei der Vorstellung hüpften Jennifers Kinder begeistert auf und ab, wobei ihnen die Pilgerhüte vom Kopf rutschten, aber sie beruhigten sich augenblicklich, als Jennifer ihnen die Erntedankfest-Folge der Peanuts in den DVD-Player steckte.

Während ich Jennifer beim Aufräumen der Küche half, wollte sie wissen: »Und? Wie läuft’s mit …«, sie senkte absichtlich die Stimme, »Li?«

»Hm, ganz gut.«

»Seid ihr zwei, du weißt schon, zusammen?«

»Das ist schwer zu sagen. Ich denke, es wäre zu früh, das so zu bezeichnen.«

Sie runzelte die Stirn und schaute nachdenklich ins Spülwasser. »Liegt es immer noch an dem anderen, an dem, über den du nie reden willst, dass du dich nicht durchringen kannst?«

Meine Hand mit dem Geschirrtuch, gerade hatte ich ihre hübsche Truthahnplatte trocken reiben wollen, erstarrte in der Luft. »Tut mir leid, falls ich zu geheimniskrämerisch war. Es ist einfach nur so hart, über ihn zu reden. Was willst du wissen?«

Sie nahm einen Teller, schrubbte ihn und spülte ihn mit sauberem Wasser ab. »Okay, wer ist er? Wo ist er? Warum seid ihr zwei nicht zusammen?«

»Nun, er ist in Indien. Und wir sind nicht zusammen, weil …«, flüsterte ich, »weil … ich ihn verlassen habe.«

»War er gemein zu dir?«

»Nein, nein. Nichts in der Richtung. Er war … perfekt

»Er wollte also nicht, dass du fährst?«

»Nein.«

»Wollte er dich denn nicht begleiten?«

Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. »Ich musste ihn anflehen, dass er mir nicht folgte.«

»Dann verstehe ich das nicht. Warum hast du ihn verlassen?«

»Er war zu … Ich war zu …« Ich seufzte. »Es ist kompliziert.«

»Hast du ihn geliebt?«

Ich stellte die Platte ab, die ich seit fünf Minuten trocken rieb, und drehte das Handtuch in den Händen. Sanft flüsterte ich: »Ja.«

»Und jetzt?«

»Und jetzt … Wenn ich allein bin …, habe ich manchmal das Gefühl, ich kriege keine Luft.«

Sie nickte und wusch noch ein paar Teller ab. Das Besteck klirrte leise im schaumigen Wasser. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, fragte sie: »Wie heißt er?«

Ich starrte ins Küchenfenster. Draußen war es dunkel, und in der Scheibe sah ich mein Spiegelbild, meine herabhängenden Schultern und die toten Augen.

»Ren. Er heißt Ren.«

Seinen Namen laut auszusprechen, versetzte meinem gebrochenen Herzen einen Stich. Eine Träne kullerte mir die Wange herab, und im Fenster sah ich Li hinter mir stehen. Er wirbelte herum und marschierte aus der Küche, aber ich hatte gerade noch einen Blick auf seinen Gesichtsausdruck erhascht. Seine Gefühle waren verletzt.

Jennifer beugte sich zu mir und tätschelte mir den Arm. »Geh und rede mit ihm! Es ist besser, solche Dinge sofort zu klären. Andernfalls wird aus einer Mücke ein Elefant.«

Die Situation kam mir bereits jetzt wie ein Elefant vor, doch sie hatte recht. Ich musste mit Li reden.

Er war bereits aus dem Haus gestürmt. Als ich hastig meine Sachen zusammengesammelt und mich bei Jennifer bedankt hatte, eilte ich aus der Haustür. Ich traf ihn an seinem Auto, gegen das er mit verschränkten Armen lehnte. »Li?«

»Ja?«

»Es tut mir leid, dass du das mitanhören musstest.«

Er seufzte tief. »Ist schon in Ordnung. Du hast mich ja vorgewarnt, dass es schwierig wird. Aber ich habe eine Frage.«

»Nur zu.«

Er drehte sich zu mir und sah mir tief in die Augen. »Bist du immer noch in ihn verliebt?«

»Ich … denke schon.«

Er sank sichtlich in sich zusammen.

»Aber Li, das spielt keine Rolle. Er ist fort. Er lebt auf einem anderen Kontinent. Hätte er mit mir zusammen sein wollen, hätte er es tun können, hat er aber nicht. Er ist nicht hier. Um ehrlich zu sein, er hat nicht mal angerufen. Ich brauche einfach … Zeit. Ein bisschen mehr Zeit …, um diese Gefühle abzuschütteln. Und das will ich wirklich.« Ich streckte den Arm aus und nahm seine Hand. »Ich weiß, es ist dir gegenüber nicht fair. Du verdienst es, mit jemandem auszugehen, der nicht diese Art von Ballast mit sich herumträgt.«

»Kelsey, jeder trägt Ballast mit sich herum.« Er trat gegen den Reifen seines Wagens. »Ich mag dich, und ich möchte, dass du mich auch magst. Vielleicht klappt es ja, wenn wir es langsam angehen. Wenn wir zuerst eine Weile befreundet sind.«

»Reicht dir das denn?«

»Mir bleibt keine andere Wahl, außer dich nicht mehr zu sehen, und das kommt für mich nicht infrage.«

»Okay, dann gehen wir’s langsam an.«

Li lächelte und beugte sich vor, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. »Du bist es wert, dass man auf dich wartet, Kelsey. Und nur fürs Protokoll, der Kerl ist verrückt, wenn er dich einfach gehen lässt.«

Obwohl ich stapelweise Bücher ausgeliehen und unzählige Stunden im Internet verbracht hatte, hatte ich noch keine brauchbaren Ergebnisse über die Prüfung der Vier Häuser gefunden. Ich hoffte, die geflügelten Geschöpfe in diesem Teil der Suche würden sich als harmlose Schmetterlinge herausstellen, aber irgendwie bezweifelte ich das. Zumindest haben wir jetzt eine Ahnung, wie das Element Luft ins Bild passt, dachte ich.

Mit dem Kopf tief in die Bücher vergraben, ging Thanksgiving nahtlos in die Vorweihnachtszeit über. Hell erleuchtete Weihnachtsdekorationen blinkten überall in der Nachbarschaft und den Schaufenstern. Ich hatte weiterhin Dates mit Li und Jason, und Mitte Dezember nahm mich Li auf die Hochzeit seines Cousins mit.

Während der vergangenen zwei Wochen hatte ich mir immer wieder eingeredet, dass ich eine Beziehung mit Li wirklich wollte, dass es in Ordnung wäre, wenn ich ihm mein Herz schenkte. Er sah umwerfend aus in seinem dunklen Anzug, als er mich abholen kam, und mein Herz hüpfte bei seinem Anblick. Vielleicht nicht aus Liebe, aber zumindest aus tiefer Freude, mit ihm zusammen zu sein.

»Wow, Kelsey. Du siehst toll aus!«

Ich hatte meinem verbotenen Wandschrank einen Besuch abgestattet und war mit einem pfirsichfarbenen Prinzessinnenkleid aus Satin und Organza wieder aufgetaucht. In das Oberteil war ein Korsett eingearbeitet, das in einen pfirsichfarbenen, bis zu den Knöcheln reichenden Blumenrock überging.

Die Hochzeit fand in einem Country Club statt. Als die Zeremonie vorbei war, tauchten Löwentänzer und Musiker auf, und wir folgten der Parade zum Hochzeitsempfang. Einer der Musiker spielte auf einer Mandoline, die der Gitarre ähnelte, die an der Wand von Mr. Kadams Musikzimmer hing.

Rote Papierschirmchen, goldene chinesische Fächer und kunstvolle Origami-Werke schmückten den Speisesaal, was – wie mir Li erklärte – bei chinesischen Hochzeiten Tradition war. Die Braut trug ein rotes Kleid, und anstatt aufwendig verpackter Geschenke übergaben die Gäste dem Paar rote Umschläge mit Geld.

Li zeigte auf eine Gruppe junger Männer, die alle schwarze Anzüge und Sonnenbrillen trugen. Überrascht riss ich die Augen auf und musste ein Kichern unterdrücken, als ich in ihnen die Mitglieder unseres Spieleabends erkannte. Sie grinsten und winkten mir zu. Einem von ihnen war mit Handschellen eine prall gefüllte Brieftasche ans Handgelenk gekettet worden.

»Warum sind sie so angezogen?«, fragte ich. »Und was hat es mit dem Geldbeutel auf sich?«

Er lachte. »Eintausend Dollar in druckfrischen Ein-Dollar-Scheinen. Später werden sie dem Bräutigam die Handschellen anlegen. Es ist ein Witz. Mein Cousin war früher auch in unserer Spielegruppe, bis er in seinem Job zu viel zu tun hatte. Er ist der Erste von uns, der heiratet, weshalb er die Brieftasche bekommt.«

Schließlich rückten wir in der endlos langen Empfangsreihe vor, und Li stellte mich seinem Cousin und dessen Angetrauter vor. Sie war zierlich und sehr schön und wirkte etwas schüchtern. Dann suchten wir unsere Plätze an den Esstischen, wo sich schon bald Lis Freunde zu uns gesellten. Sie neckten ihn, weil er seine Sonnenbrille nicht trug.

Im Kerzenschein vollzogen die Braut und der Bräutigam eine Zeremonie, um ihrer Ahnen zu gedenken, und anschließend wurde das Abendessen serviert: Fisch als Symbol für den Wohlstand, einen ganzen Hummer als Symbol für Vollständigkeit, Pekingente für Glück und Freude, Haifischflossensuppe für Reichtum, Nudeln für ein langes Leben und Seegurkensalat für eine harmonische Ehe. Li wollte mich überreden, von den süßen Lotussamenbrötchen zu probieren, die Fruchtbarkeit symbolisierten.

»Äh … nein danke«, sagte ich zögerlich, »ich glaube, ich passe.«

Nach guten Wünschen von beiden Seiten der Familie tanzte das Paar den ersten Tanz.

Li drückte meine Hand und stand auf. »Kelsey, darf ich bitten?«

»Sicher.«

Er wirbelte mich einmal um die Tanzfläche, bevor seine Freunde ihn ablösten. Mehr als ein Lied schaffte ich nie mit Li. Eine Handvoll Tänze später wurde eine dreistöckige Torte hereingetragen. Das Innere war orange, außen war sie mit einer nach Mandeln duftenden Glasur überzogen und mit schimmernden Zuckerperlen und wunderschönen Marzipanorchideen verziert.

Als Li mich an diesem Abend zu Hause absetzte, war ich glücklich. Ich hatte es wirklich genossen, ein Teil dieser Welt zu sein. Ich umarmte ihn und gab ihm einen Gutenachtkuss auf die Wange, und er lächelte, als hätte er den Weltmeistertitel in Wushu gewonnen.

Weihnachten verbrachte ich bei meiner Pflegefamilie. An einer heißen Schokolade nippend, sah ich den Kids beim Aufreißen ihrer Geschenke zu. Sarah und Mike hatten mir einen Jogginganzug geschenkt. Sie gaben die Hoffnung nicht auf, mir das wahre Glück des Laufens schmackhaft zu machen. Die Kids hatten Handschuhe und einen Schal für mich besorgt, was ich, wie ich ihnen versicherte, dringend brauchte. Ich hatte geplant, den Morgen bei ihnen zu verbringen und dann den Rest des Tages mit Li, der mich um zwei für ein Nachmittagsdate abholen würde.

Mein Geschenk für ihn, eine Kung-Fu-DVD-Box, lag im Wohnzimmer auf meinem Couchtisch. Ich war fest entschlossen, ihn zu küssen, falls er bis zum Ende des Dates nicht selbst die Initiative ergriff. Ich hatte sogar einen Mistelzweig über meine Tür gehängt. Ein irratonaler Teil von mir sagte, dass ein Kuss mit ihm womöglich der Schlüssel war, um das Band zu zerschneiden, das mich immer noch an den Mann kettete, den ich verlassen hatte. Ich wusste, dass es dazu wahrscheinlich mehr bedurfte, aber es war der erste Schritt.

Die Kids spielten mit ihren neuen Spielsachen, Sarah und Mike saßen beim Weihnachtsbaum, hörten Weihnachtslieder und unterhielten sich leise, als es an der Tür läutete.

»Erwartest du jemanden, Sarah?«, fragte ich und stand auf. »Vielleicht ist es ein Paket von Mr. Kadam. Er meinte, ich könnte mich auf eine Überraschung freuen.«

Ich öffnete die Tür.

Auf der obersten Treppenstufe stand der schönste Mann der Welt. Mein Herz setzte aus und galoppierte dann donnernd in meiner Brust. Kobaltblaue Augen erforschten verunsichert jeden Winkel meines Gesichts. Mit einem Schlag waren seine Sorgenfalten und sein angespannter Ausdruck wie weggewischt, und er machte einen tiefen Atemzug wie ein Mensch, der zu lange unter Wasser gewesen war.

Zufrieden lächelte er sein sanftes, süßes Lächeln und streckte zögerlich die Hand aus, um meine Wange zu berühren. Ich spürte, wie sich das Band zwischen uns fest um mein Herz legte und mich wie ein Magnet zu ihm zog. Zaghaft legte er die Arme um mich und drückte seine Stirn an meine, bevor er mich ungestüm an seinen Körper presste. Er wiegte mich sanft vor und zurück und streichelte mir übers Haar. Mit einem Seufzen flüsterte er ein einziges Wort: »Kelsey.«