6

Entscheidungen

Ich schloss die Tür hinter mir, gewöhnte meine Augen langsam an die Dunkelheit. Ich fragte mich, ob Ren nebenan wäre und ich die Sache zwischen uns noch heute Abend klären sollte.

Ich ging ins Wohnzimmer und rang nach Luft, als ich die vertraute Gestalt meines blauäugigen Tigers sah, die auf dem Ledersofa ausgestreckt lag. Ren hob den Kopf und blickte bis tief in meine Seele.

Tränen schossen mir in die Augen. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich diesen Teil von ihm vermisst hatte. Ich kniete mich vors Sofa, schlang ihm die Arme um den Hals, und heiße Krokodilstränen liefen an meinen Wangen herab und tropften in sein weiches weißes Fell. Ich tätschelte seinen Kopf und streichelte ihm den Rücken. Ren war hier. Er war endlich bei mir. Ich war nicht mehr allein. Mit einem Schlag verstand ich, dass er sich genauso gefühlt haben musste, all die Monate ohne mich.

Ich unterdrückte ein Schluchzen. »Ren, ich … habe dich so vermisst. Ich wollte mit dir reden. Du bist mein bester Freund. Ich wollte dir nur nicht deine Entscheidungsfreiheit nehmen. Verstehst du das?«

Ich schmiegte mich immer noch fest an ihn, als die Verwandlung einsetzte. Sein Körper änderte die Form, und im nächsten Moment lag ich in seinen Armen. Sein weißes T-Shirt war nass von meinen Tränen.

Er drückte mich an sich und sagte: »Ich habe dich auch vermisst, Iadala. Mehr als du dir vorstellen kannst. Und ich verstehe, warum du gehen musstest.«

»Wirklich?«, murmelte ich in sein T-Shirt.

»Ja. Aber ich will, dass du etwas verstehst, Kells. Du nimmst mir nicht meine Entscheidungsfreiheit. Du bist meine Entscheidung.«

Ich schniefte lautstark. »Aber Ren …«

Er schob meinen Kopf zurück an seine Schulter. »Dieser Mann, Li. Du hast ihn geküsst?«

Ich nickte schweigend gegen seine Brust. Es hatte keinen Zweck zu leugnen.

»Liebst du ihn?«

»Uns verbinden Freundschaft und Respekt, und ich mag ihn sehr gerne, aber ich bin eindeutig nicht in ihn verliebt.«

»Warum hast du ihn dann geküsst?«

»Ich habe ihn geküsst …, um zu vergleichen. Um zu erfahren, was ich wirklich für ihn empfinde.«

Ren hob mich hoch und setzte mich neben sich auf die Couch.

»Durch Dates lernt man also, ob man füreinander bestimmt ist?«

»Ja«, antwortete ich zögerlich.

»Hattest du schon andere Dates, oder war es das erste?«

»Du meinst mit Li?«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Waren da noch andere?«

»Ja.« Ich runzelte die Stirn.

»Wie viele?«

»Insgesamt drei – Li, Jason und Artie. Falls man Artie überhaupt zählen kann. Ren, warum all die Fragen? Worauf willst du hinaus?«

»Ich bin nur neugierig, was die moderne Brautwerbung anbelangt. Was habt ihr bei diesen Dates gemacht?«

»Ich bin ein paarmal ins Kino gegangen, zum Essen, mit Li war ich bei einer Hochzeit, und mit Jason habe ich mir ein Footballspiel angesehen.«

»Hast du all diese Männer geküsst?«

»Nein! Ich habe nur Li geküsst, und das heute war das erste Mal.«

»Also ist Li dein Favorit«, sagte Ren leise zu sich selbst, bevor er sein Gesicht wieder mir zuwandte und meine Hände in seine nahm. »Kelsey, ich denke, du solltest diese Dates nicht aufgeben.«

Meine Kinnlade klappte herunter. »Was?«

»Das ist mein voller Ernst. Während du weg warst, habe ich über alles nachgedacht. Du hast gesagt, du wolltest mir meine Entscheidungsfreiheit nicht nehmen. Ich habe meine Entscheidung getroffen, du hingegen noch nicht.«

»Ren, das ist verrückt! Was redest du da nur?«

»Triff dich mit Li oder Jason oder wem auch immer, und ich verspreche, ich werde mich zurückhalten. Aber ich will eine faire Chance. Ich will, dass du auch mit mir ausgehst.«

»Ich denke, du verstehst nicht ganz, wie Dates funktionieren, Ren. Ich kann nicht mein restliches Leben mit drei oder vier Männern ausgehen. Der Sinn von dem Ganzen ist der, sich irgendwann ausschließlich mit einer einzigen Person zu treffen, mit der man sich wunderbar versteht.«

Er schüttelte den Kopf. »Man hat Dates, um die wahre Liebe zu finden, Kelsey.«

»Und was soll ich Li sagen?«, stotterte ich. »Übrigens, Ren ist zurück, und er fände, es wäre eine tolle Sache, wenn ich mit euch beiden ausgehe?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn Li mit einem kleinen, ehrlichen Wettkampf nicht fertigwird, dann solltest du lieber gleich die Finger von ihm lassen.«

»Ich würde mir dann bei Wushu aber komisch vorkommen.«

»Warum?«

»Er ist mein Lehrer.«

Ren grinste. »Gut. Ich komme mit. Ich will ihn treffen und hätte nichts gegen etwas Sport einzuwenden.«

»Äh, Ren, es ist ein Anfängerkurs. Da gehörst du nicht hin, und ich will nicht, dass du gegen Li kämpfst. Es wäre mir lieber, wenn du nicht mitkommst.«

»Ich werde mich wie der perfekte Gentleman benehmen.« Er neigte den Kopf und maß mich mit seinen Blicken. »Oder bist du besorgt, dass er im Vergleich zu mir einfach keine Chance hat?«

»Nein«, erwiderte ich gereizt. »Ich mache mir mehr Sorgen, dass du ihn wie eine Fliege zerquetschst!«

»Das würde ich niemals tun, Kelsey. Selbst wenn ich es wollte, wäre es nicht der richtige Weg, um deine Zuneigung zu gewinnen. Selbst ich weiß das. Und, gehst du nun mit mir aus?«

»Ein Date mit dir wäre … schwierig

»Warum ist es einfacher, mit anderen Männern auszugehen? Und die Erklärung von vorhin kannst du dir sparen. Die ist Schwachsinn.«

»Weil«, fuhr ich leise fort, »ich ohne diese anderen Männer überleben könnte, wenn es nicht funktioniert.«

Ren küsste meine Finger und sah mir eindringlich in die Augen. »Iadala, du wirst mich nie verlieren. Ich werde immer in deiner Nähe sein. Gib mir eine Chance, Kells. Bitte.«

Mit einem Seufzen blickte ich in sein wunderschönes Gesicht. »Okay. Wir versuchen es.«

»Vielen Dank.« Er lehnte sich äußerst zufrieden mit sich selbst ins Sofa zurück. »Behandle mich einfach wie all die anderen Typen.«

Sicher. Überhaupt kein Problem. Ich werde einfach den perfekten Mann, den schönsten Mann der Welt, der zufälligerweise auch noch ein uralter Prinz und mit einem Fluch belegt ist, so behandeln, als wäre er ein ganz normaler Durchschnittstyp. Kein Mädchen bei klarem Verstand könnte ihn anschauen – selbst ohne all das zu wissen, was ich weiß – und ihn für durchschnittlich halten.

Er beugte sich vor und küsste mich flüchtig auf die Wange. »Gute Nacht, Rajkumari. Ich rufe dich morgen an.«

Am nächsten Morgen schrillte das Telefon viel zu früh. Es war Ren, der mich zum Abendessen einlud, unserem ersten offiziellen Date.

Ich gähnte verschlafen. »Wohin willst du essen gehen?«

»Keine Ahnung. Was schlägst du vor?«

»Normalerweise hat der Mann ein Restaurant ausgesucht, bevor er anruft, aber bei dir drücke ich noch mal ein Auge zu, weil das alles neu für dich ist. Außerdem habe ich eine Idee, wohin wir gehen können. Zieh dir was Legeres an und hol mich halb sechs ab. Du kannst auch schon früher vorbeikommen und mich besuchen, wenn du willst.«

»Wir sehen uns halb sechs, Kells.«

Den restlichen Tag über hielt ich mich daheim auf und ließ die Verbindungstür nicht aus den Augen, doch Ren blieb stur auf seiner Seite. Ich backte sogar Schokoladenkekse, in der Hoffnung, der köstliche Duft könnte ihn schon früher zu mir locken, aber auch das führte nicht zum ersehnten Erfolg.

Um Punkt halb sechs klopfte er an meine Haustür, überreichte mir eine rosa Rose und bot mir den Arm. Er sah wahnsinnig gut aus, trug ein dunkelgrau gestreiftes, langärmeliges Hemd unter einer Designer-Daunenweste, wo ich ihm doch gesagt hatte, er solle sich leger kleiden.

Draußen öffnete er mir die Tür des Hummers. Warme Luft wehte aus dem Gebläse des Wagens, als Ren die Hände um meine Hüfte legte und mir in den Sitz half. Er überprüfte, ob der Gurt richtig saß, und fragte: »Wohin?«

»Ich zeige dir den ganzen Stolz des amerikanischen Nordwestens. Ich bringe dich zu Burgerville.«

Auf dem Weg erzählte mir Ren von all den Dingen, die er in den vergangenen Monaten erlernt hatte, einschließlich des Autofahrens. Außerdem gab er eine lustige Geschichte über Kishan zum Besten, der versehentlich mit dem Jeep im Brunnen gelandet war – woraufhin Mr. Kadam ihn nicht mehr in die Nähe des Rolls-Royce ließ.

»Kadam hat mich auf allen nur erdenklichen Gebieten unterrichtet«, fuhr Ren fort. »Ich habe Politik, Weltgeschichte, Finanzwesen und Wirtschaft studiert. Der Umstand, dass wir seit Jahrhunderten am Leben sind, plus Kadams kluge Investitionen haben sich ausgezahlt. Wir sind ziemlich reich.«

»Wie reich?«

»Reich genug, um ein eigenes kleines Land zu führen.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an.

Ren redete unbekümmert weiter: »Kadam hat überall auf der Welt Kontakte. Es sind unschätzbare Quellen, und du wärst überrascht, wie viele bedeutende Persönlichkeiten ihm einen Gefallen schulden.«

»Bedeutende Persönlichkeiten? Zum Beispiel?«

»Generäle, Vorstandsvorsitzende, Politiker aus allen wichtigen Ländern der Welt, Mitglieder der Königshäuser und sogar religiöse Führer. Er ist sehr gut vernetzt. Selbst wenn ich den ganzen Tag in Menschengestalt herumlaufen und jede freie Minute mit ihm verbringen würde, könnte ich nicht einmal die Hälfte des Wissens nachholen, das er sich im Laufe der Jahre angeeignet hat. Er war meinem Vater bereits ein brillanter Berater, aber jetzt grenzt er an ein Wunder. Es gibt keine Belohnung auf Erden, welche die Treue aufwiegen könnte, die er uns erwiesen hat. Ich wünschte nur, ich wüsste, wie ich ihm unsere Dankbarkeit zeigen kann.«

Sobald wir den Parkplatz des Schnellrestaurants erreicht hatten, bot mir Ren wieder seinen Arm. Ich nahm ihn und sagte: »Die Unsterblichkeit hat ihren Preis. Auf mich macht Mr. Kadam einen sehr einsamen Eindruck, und das ist etwas, das euch drei verbindet. Ihr seid zu einer Familie zusammengewachsen. Niemand, abgesehen von Kishan und Mr. Kadam, kann verstehen, was du durchgestanden hast. Die beste Art, ihm seine Treue zu vergelten, besteht darin, ihm dasselbe Maß an Loyalität entgegenzubringen. Er betrachtet dich und Kishan als Söhne, und ein Sohn kann seinem Vater am ehesten danken, indem er zu dem Mann wird, der seine Eltern mit Stolz erfüllt.«

Ren blieb stehen, lächelte und küsste mich auf die Wange. »Du bist eine sehr weise Frau, Rajkumari. Das ist ein ausgezeichneter Ratschlag.«

Als die Schlange im Burgerville endlich schrumpfte und wir an der Reihe waren, ließ mich Ren zuerst bestellen und verlangte dann noch sieben riesige Burger, drei Portionen Pommes, ein großes Getränk und einen großen Brombeermilchshake. Als die Verkäuferin wissen wollte, ob alles zum Mitnehmen wäre, schüttelte Ren verwirrt den Kopf und sagte, dass wir im Restaurant essen würden. Ich lachte und erklärte ihr, dass er sehr hungrig wäre.

Bei der Getränkestation probierte Ren mehrere Sorten aus und entschied sich dann für Root Beer. Ihm zuzusehen, wie er neue Geschmacksrichtungen und Nahrungsmittel entdeckte, war unglaublich unterhaltsam.

Während des Essens redeten wir über die Uni und mein laufendes Rechercheprojekt für Mr. Kadam in Bezug auf geflügelte Wesen und die Prüfung der Vier Häuser. Ich setzte ihn auch über Jason und mein Horror-Date mit Artie ins Bild. Stirnrunzelnd fragte Ren, wie irgendjemand freiwillig mit Artie ausgehen würde.

»Irgendwie gelingt es ihm immer wieder, Mädchen mit einem Trick zu einem Date zu überreden, so wie mich auch«, erklärte ich. »Er ist total engstirnig und selbstbezogen.«

»Hm.« Ren wickelte seinen letzten Burger aus und starrte ihn nachdenklich an.

Ich lachte. »Bist du etwa satt, Tiger? Es wäre schade um den Brombeermilchshake. Die hier sind die besten im ganzen Land.«

Er holte einen zweiten Strohhalm und bohrte ihn in den Deckel. »Hier, lass ihn uns teilen.«

Ich nahm einen Schluck, und Ren lehnte sich vor und schlürfte in einem Zug ein Drittel des Milchshakes aus. Dann grinste er. »Du hast mal hoch und heilig versprochen, du würdest nie wieder einen Milchshake mit mir teilen.«

Mit gespielter Bestürzung schlug ich die Hände über dem Kopf zusammen: »O nein! Das hatte ich vergessen. Nur hat das damals dem Tiger gegolten, deiner besseren Hälfte. Ich habe mein Wort also nicht gebrochen.«

»Doch, das hast du. Und der Tiger in mir ist übrigens nicht meine bessere Hälfte. Ich werde dir das schon noch beweisen.«

Nach dem Abendessen fuhren wir zu einem nahe gelegenen Park und machten einen Spaziergang. Ren schnappte sich eine Decke aus dem Kofferraum.

»Darf man bei einem ersten Date Händchen halten?«, fragte Ren.

»Du hältst immer meine Hand.«

»Aber nicht bei einem Date.«

Ich verdrehte die Augen, streckte ihm jedoch die Hand entgegen. Wir schlenderten ein wenig im Park umher, und er stellte mir viele Fragen über Amerika und seine Geschichte und Kultur. Wir unterhielten uns blendend. Alles war für ihn neu und faszinierend.

Wir blieben bei einem Teich stehen. Ren setzte sich und zog mich an seine Brust. »Ich will nur nicht, dass dir kalt wird«, protestierte er, als ich ihm einen vielsagenden Blick zuwarf.

Ich kicherte. »Das ist der älteste Trick der Welt.«

Ren lachte und strich mit seinen Lippen über mein Ohr. »Was gibt es noch für Tricks, die ich an dir ausprobieren könnte?«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, als würdest du das problemlos ganz alleine herausfinden.«

Trotz meiner spöttischen Bemerkungen wurde mir in seiner Gegenwart schnell warm. Aneinandergeschmiegt redeten wir stundenlang und betrachteten das vom Mond beleuchtete Wasser.

Ren wollte alles wissen, was ich seit meiner Abreise aus Indien getan hatte. Nachdem er mich über alles ausgequetscht hatte, was man in Oregon unternehmen und sehen könnte, nahm die Unterhaltung einen anderen Ton an.

Er zog mich näher an sich und sagte: »Ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch.«

»Alles hat sich verändert, als du fort bist. Jede Lebensfreude war uns genommen. Das haben wir alle bemerkt. Ich war nicht der Einzige, der deine Abwesenheit gespürt hat. Selbst Kadam war bedrückt. Kishan hat ständig wiederholt, dass ihm die moderne Welt nichts zu bieten hätte, und stand kurz davor, in den Dschungel zurückzukehren. Aber ich habe ihn mehr als einmal dabei erwischt, dass er deine Anrufe belauscht hat.«

»Es war nie meine Absicht, euch das Leben schwer zu machen. Ich hatte gehofft, dass es ohne mich leichter wäre. Dass euer Weg zurück in die Welt ohne mich ein bisschen weniger kompliziert wäre.«

»Du machst mein Leben nicht kompliziert. Du vereinfachst es. Wenn du bei mir bist, weiß ich genau, wo ich sein sollte – nämlich an deiner Seite. Als du fort warst, bin ich völlig kopflos umhergeirrt. Mein Leben war aus dem Gleichgewicht. Ein einziges Chaos.«

»Ich bin also dein Ritalin, hm?«

»Was ist das?«

»Ein Medikament, das Menschen hilft, sich besser zu konzentrieren.«

»Das kommt dann wohl hin.« Er stand auf, hob mich in seine Arme und sagte: »Vergiss nicht, ich brauche eine hohe Dosis.«

Ich lachte und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Ren setzte mich wieder ab, faltete die Decke zusammen, und wir spazierten Hand in Hand zurück zum Hummer.

Ich fühlte mich gut. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich vollständig und glücklich.

Als wir wieder zu Hause waren, brachte er mich galant zur Tür und sagte: »Shubharatri, Kells.«

»Was bedeutet das?«

Er warf mir ein Schmetterlinge-im-Bauch-Lächeln zu und drückte mir einen unbeschreiblich sanften Kuss in die Handfläche. »Es bedeutet ›Gute Nacht‹.«

Verwirrt und ein klitzekleines bisschen frustriert ging ich zu Bett.

Verwirrt und ein klitzekleines bisschen frustriert fühlte ich mich nach jedem Date mit Ren. Ich wollte ihn viel öfter um mich haben, aber er war fest entschlossen, die – wie er sich ausdrückte – Gepflogenheiten moderner Dating-Rituale zu durchlaufen. Was bedeutete, dass ich ihn nur zu sehen bekam, wenn wir ein Date hatten. Ich durfte ihn nicht einmal mehr als Tiger zu Gesicht bekommen.

Jeden Tag rief er mich an und fragte, ob ich Zeit hätte. Dann gingen wir ins Kino oder zum Essen oder tranken eine heiße Schokolade oder statteten einer Buchhandlung einen Besuch ab. Wenn er das Gefühl hatte, das Date sei nun vorbei, verabschiedete er sich. Er verschwand so gründlich von der Bildfläche, dass ich den ganzen restlichen Tag über nicht einmal einen flüchtigen Blick auf sein gestreiftes Ich erhaschte. Er weigerte sich sogar, mich zu küssen, mit der Ausrede, er hätte noch so viel nachzuholen. Obwohl er nur eine Wand entfernt war, vermisste ich meinen Tiger.

Wir begannen, gemeinsam Othello zu lesen. Bis Othello von Jago getäuscht wurde, gefiel Ren dieser Charakter sehr.

»Othello hat seine und Desdemonas Liebe zerstört, genauso wie Romeo schuld war. Das Ganze hat nichts mit Jago zu tun«, bemerkte Ren nachdenklich. »Othello hat seiner Frau nicht vertraut. Hätte er nur einen Gedanken daran verschwendet, sie zu fragen, was mit seinem Taschentuch passiert ist oder was sie für Cassio empfindet, hätte er die Wahrheit erfahren.«

»Othello und Desdemona kannten sich davor nicht sonderlich lange«, entgegnete ich. »Vielleicht waren sie von vornherein nicht besonders verliebt. Vielleicht haben allein die Geschichten und die aufregenden Abenteuer sie verbunden. Was mich jetzt irgendwie an uns erinnert.«

Ren hatte den Kopf in meinem Schoß. Er spielte gedankenverloren mit meinen Fingern und fragte dann zögerlich: »Ist das der Grund, weshalb du bei mir bist, Kelsey? Wegen des Abenteuers? Langweilst du dich hier mit mir beim Lesen, wo wir doch in Indien auf der Suche nach magischen Objekten sein und gegen Dämonen kämpfen könnten?«

Ich dachte eine Weile über seine Worte nach. »Nein. Ich bin einfach gerne mit dir zusammen, selbst wenn wir nichts weiter tun als Popcorn essen und lesen.«

Er knurrte zufrieden und küsste meine Finger. »Gut.«

Ich fuhr mit Lesen fort, aber er sprang auf und zog mich einem plötzlichen Verlangen folgend in die Küche, um zu lernen, wie man Mikrowellenpopcorn zubereitet.

An einem Nachmittag war ich so begierig, meinen Tiger endlich wiederzusehen, dass ich mich einfach auf die Suche nach ihm machte, obwohl wir kein offizielles Date hatten. Ich klopfte an unsere Verbindungstür und betrat Rens Wohnzimmer. Ein paar ungeöffnete Pakete stapelten sich auf der Küchenablage, aber ansonsten haftete dem Haus eine unangenehme Leere an. Ich ging nach oben.

»Ren?«, rief ich, aber es kam immer noch keine Antwort.

Wo kann er nur sein?, dachte ich und steckte den Kopf in Rens Arbeitszimmer. Sein Laptop war angeschaltet, und auf dem Bildschirm waren drei Fenster geöffnet.

Als ich es mir auf dem ledernen Bürostuhl bequem machte, bemerkte ich, dass die erste Internetseite ein sehr teurer Designerladen war und die zweite ein Link zu dem Thema Brautwerbung im Laufe der Jahrhunderte.

Das dritte Fenster war eine E-Mail-Kette von Mr. Kadam. Eigentlich wollte ich Rens Nachrichten gar nicht lesen, aber sie waren so kurz, dass ich, noch ehe ich mich’s versah, die gesamte Korrespondenz gelesen hatte.

Von: masteratarms@rajaramcorp.com

An: wssrtgr@rajaramcorp.com«wssrtgr@rajaramcorp.com

Betreff: Dokumente

Ren,

die Sache mit den Dokumenten ist geregelt.

Kadam

Von: masteratarms@rajaramcorp.com

An: wssrtgr@rajaramcorp.com

Betreff: Notfall

Ren,

anbei die Datei für einen möglichen Notfall.

Kadam

Dokumente? Notfall? Was führen die beiden nur im Schilde? Ich fuhr mit der Maus über den Anhang. Einen Finger auf der Taste, zögerte ich, als mich eine Stimme aufschreckte.

»Es wäre höflich, um Erlaubnis zu fragen, bevor man in den persönlichen Dingen eines anderen herumschnüffelt«, sagte Ren gleichgültig.

Ich klickte das Fenster weg und stand abrupt auf. Die Arme vor der Brust verschränkt, füllte er den gesamten Türrahmen aus.

»Ich … habe dich gesucht und wurde abgelenkt«, murmelte ich.

»Ich verstehe.« Er kam zum Schreibtisch und klappte das Laptop zu, während er mich nachdenklich mit Blicken maß. »Wie ich sehe, hast du mehr gefunden, als du gesucht hast.«

Ich starrte ein paar Sekunden auf meine Schnürsenkel, entzündete dann einen Funken der Verärgerung in mir, um meine Schuldgefühle zu überspielen, und hob den Kopf. »Verschweigst du mir etwas?«

»Nein.«

»Ist hier irgendetwas im Gange, das du mir nicht erzählst?«

»Nein«, wiederholte er.

»Schwöre«, sagte ich leise, »schwöre einen königlichen Eid.«

Er nahm meine Hände in seine, sah mir tief in die Augen und sagte: »Als Prinz des Mujulaainischen Königreichs schwöre ich, dass es nichts gibt, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Wenn du beunruhigt bist, frag Kadam.« Er beugte seinen Kopf ein bisschen näher zu mir herab. »Aber was ich wirklich will, ist dein Vertrauen. Ich würde es nie missbrauchen, Kelsey.«

»Das rate ich dir auch«, erwiderte ich und stieß ihm zum Nachdruck den Zeigefinger gegen die Brust.

Er hob meine Hand an seine Lippen und lenkte mich damit derart ab, dass ich das eigentliche Thema auf einmal völlig vergaß.

»Niemals«, gelobte er feierlich und führte mich zur Verbindungstür.

Der romantische Schleier hob sich, kurz nachdem Ren fort war, und ich wurde wütend, mit welcher Leichtigkeit es ihm gelang, mir allein durch eine flüchtige Berührung seinen Willen aufzudrängen.

Am Montag nach Weihnachten fand Wushu wieder statt, und ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was ich Li sagen sollte. Ren war einverstanden, dass er beim ersten Mal nicht mitkommen würde, damit ich allein mit Li reden könnte. Die ganze Stunde über fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, und ich gab mir bei den neuen Schlagtechniken nur halbherzig Mühe. Ich konnte die Namen nicht auseinanderhalten. Die einzigen, die ich mir merkte, waren die Adlerklaue und der Affe.

Nach dem Kurs war es an der Zeit, die Suppe auszulöffeln, die ich mir eingebrockt hatte. Was soll ich ihm nur sagen? Er wird mich hassen.

»Li, ich hatte gehofft, wir könnten kurz reden.«

»Sicher.« Er grinste.

Er war glücklich und unbekümmert, ich das genaue Gegenteil. Ich war so nervös, dass ich mich auf meine Hände setzen musste, um das Zittern zu verbergen.

Li streckte seine langen Beine auf der Matte aus und lehnte sich neben mich an die Wand.

Nach einem langen Schluck Wasser aus seiner Flasche wischte er sich über den Mund und fragte: »Was ist los, Kelsey?«

»Äh … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, also mache ich’s kurz. Ren ist zurück.«

»Oh. Ich habe mich schon gefragt, wann er auftaucht. Es war klar, dass er nicht für immer von der Bildfläche verschwinden würde. Das heißt wohl, dass du mit mir Schluss machst«, sagte er nüchtern.

»Nein, nicht so ganz. Ren möchte, dass ich mich weiterhin mit dir treffe, aber gleichzeitig will er auch mit mir ausgehen.«

»Was? Was für ein Typ würde … Augenblick mal … Du machst also nicht Schluss mit mir?«

Hastig erklärte ich: »Nein. Aber ich würde verstehen, wenn du mich nicht mehr sehen willst. Er hält es für das Beste, wenn ich mit euch beiden ausgehe und mich dann entscheide.«

»Nun, wie … sportlich von ihm. Und was hältst du davon?«

Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich habe eingewilligt, ihm allerdings auch gesagt, dass sein Vorschlag eher unüblich ist und du wahrscheinlich nicht zustimmen wirst.«

»Was hat er daraufhin gesagt?«

Ich seufzte. »Er meinte, wenn du mit einem kleinen, ehrlichen Wettkampf nicht fertigwirst, dann sollte ich lieber gleich die Finger von dir lassen.«

Lis Hände ballten sich zu Fäusten. »Wenn er glaubt, ich würde den Schwanz einziehen und dich einfach gehen lassen, dann hat er sich geschnitten! Ein ehrlicher Wettkampf, das klingt gut.«

»Soll das ein Scherz sein? Du nimmst mich auf den Arm, oder?«

»Mein Großvater hat mich gelehrt, mir Ziele zu stecken und dann dafür einzutreten. Es kommt gar nicht infrage, dass ich dich kampflos aufgebe. Ein Mann, der nicht alles für die Frau tun würde, mit der er zusammen sein will, hat sie auch nicht verdient.«

Ich blinzelte. Li und Ren waren aus dem gleichen Holz geschnitzt, obwohl Jahrhunderte sie trennten.

»Er ist also in der Stadt?«, fragte er.

»Nicht direkt«, seufzte ich. »Er ist mein neuer Nachbar.«

»Schön. Er hat also den Ortsvorteil.«

»Hört sich an, als wolltet ihr beide eine Burg stürmen«, murmelte ich trocken.

Entweder überging er meinen Einwand, oder er hörte ihn gar nicht. Zerstreut zog er mich auf die Beine und brachte mich zu meinem Auto.

Als sich Li in meine offene Wagentür lehnte, fügte ich hinzu: »Oh, und außerdem will er zu Wushu mitkommen.«

Li rieb sich lachend die Hände. »Ausgezeichnet! Dann wird sich schnell herausstellen, was für ein Mensch er ist. Bring ihn morgen mit! Und richte ihm als Zeichen meiner Zuvorkommenheit aus, dass ich auf die Kursgebühr verzichte.«

»Aber Li, er hat doch gar nicht mein Niveau.«

»Umso besser! Der Anfänger kann sich eine Scheibe von uns abschneiden!«

»Nein. Du hast mich missverstanden. Er ist …«

Li küsste mich fest auf die Lippen, was mich augenblicklich zum Schweigen brachte. Er grinste und warf die Wagentür zu, bevor ich meinen Satz beenden konnte. Winkend verschwand er in der Dunkelheit des Studios.

Am nächsten Tag klebte eine fein säuberlich geschriebene Notiz auf dem Orangensaft im Kühlschrank.

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Mit einem Seufzen zog ich den Zettel von der Flasche ab und legte ihn in mein Tagebuch. Ich rief Ren an, da er mich, abgesehen von richtigen Dates, nicht sehen wollte, und erzählte ihm, dass er zu Wushu eingeladen war. Dann sagte ich ihm geradeheraus, was ich davon hielt. Er nahm meine Einwände gelassen hin und erklärte, dass Li ein ausgezeichneter Gegner sei und er sich ungemein freue, ihn kennenzulernen.

Verärgert sah ich davon ab, ihm die Sache ausreden zu wollen, und klappte das Handy einfach zu. Er rief mich mehrmals an diesem Tag zurück, aber ich überging das Klingeln und nahm ein langes Schaumbad.

Am Abend fuhr Ren den Hummer aus der Garage und kam mich abholen. Ich wollte wirklich, wirklich, wirklich nicht im selben Raum mit Li und Ren sein und war unglaublich dankbar, dass wir bei Wushu noch nicht fortgeschritten genug waren, um Waffen gebrauchen zu dürfen.

Rens muskulöser Körper füllte den Türrahmen aus. »Fertig? Ich kann meine erste Stunde kaum erwarten.«

Wir kamen ein paar Minuten zu spät. Die Stunde hatte bereits begonnen, und Jennifer machte sich in unserer Ecke warm. Ren ging selbstbewusst an meiner Seite, während ich mit gesenktem Blick ins Studio hastete, meine Tasche auf den Boden plumpsen ließ und aus meinem Mantel schlüpfte.

Jennifer hielt mitten in der Dehnübung inne und starrte Ren an. Die Augen sprangen ihr regelrecht aus den Höhlen. Lis Blick bohrte sich über meinen Kopf hinweg in Ren, der ihn ebenfalls unerschrocken musterte und nach Schwächen zu suchen schien.

Ren zog seine Jacke aus, was Jennifer, die völlig von seinem bronzefarbenen Bizeps gefangen war, ein leises Quietschen entlockte. Sein eng anliegendes Sporthemd brachte seine durchtrainierten Arme und seine muskulöse Brust perfekt zur Geltung.

»Himmel noch mal, Ren!«, zischte ich ihm leise zu. »Die Frauen hier kriegen noch einen Herzinfarkt!«

Verwundert hob er die Augenbrauen. »Kells, wovon redest du?«

»Du! Du bist zu …« Ich gab entrüstet auf. »Vergiss es.« Ich räusperte mich. »Tut mir leid, dass wir zu spät sind, Li. Hallo zusammen, das ist mein Gast, Ren. Er ist zu Besuch aus Indien.«

Jennifers Mund klappte mit einem »Oh!« auf und wieder zu.

Li ließ uns scheinbar ungerührt Tritt- und Schlagtechniken üben, war jedoch völlig von den Socken, als er bemerkte, dass Ren jede Bewegung in- und auswendig kannte. Li teilte uns in Zweiergruppen auf, wobei Ren mit Jennifer trainieren sollte, während er selbst mich als Partnerin wählte.

Ren drehte sich fröhlich zu Jennifer um, die von den Fußspitzen bis zu den Haarwurzeln errötete. Wir trainierten Wurfübungen. Li demonstrierte eine an mir und forderte uns dann auf, es selbst zu versuchen. Ren unterhielt sich bereits angeregt mit Jennifer, zeigte ihr vorsichtig die Bewegungsabläufe und gab ihr jede Menge Tipps. Innerhalb kürzester Zeit war es ihm gelungen, dass sie sich an seiner Seite wohlfühlte. Er war charmant und süß. Als sie versuchte, ihn zu Boden zu werfen, fiel er mit übertrieben dramatischem Gebaren und rieb sich den Hals, woraufhin Jennifer lautstark zu kichern begann.

Lächelnd dachte ich: Ja, diese Wirkung hat er auch auf mich. Ich war froh, dass er zu meinen Freunden nett war. Auf einmal lag ich rücklings auf der Matte, starrte zu den Leuchtstoffröhren hinauf. Während ich Ren und Jennifer beobachtet hatte, hatte mich Li mit einem festen Hebelgriff zu Boden gebracht. Ich war nicht verletzt, nur etwas überrascht. Lis entschlossener Gesichtsausdruck wich augenblicklich echtem Bedauern.

»Es tut mir so leid, Kelsey. Habe ich dir wehgetan? Ich wollte dir nicht …«

Bevor er seine Entschuldigung beenden konnte, wurde Li mehrere Meter weit über die Matte geschleudert. Ren kniete sich vor mich.

»Hat er dich verletzt, Kells? Geht’s dir gut?«

Wütend und peinlich berührt zischte ich: »Ren! Mir geht’s gut! Li hat mich nicht verletzt. Ich habe nur nicht richtig aufgepasst. Das kann passieren.«

»Er hätte besser aufpassen müssen«, knurrte Ren.

»Mir geht’s gut«, flüsterte ich. »Und wirklich! Musstest du ihn durch den ganzen Raum werfen?«

Er schnaubte verächtlich und half mir beim Aufstehen.

Li kam herbeigehastet, wobei er Ren geflissentlich ignorierte: »Geht’s dir gut, Kelsey?«

Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Mir geht’s gut. Keine Sorge. Es war meine Schuld, ich war abgelenkt.«

»Ja. Abgelenkt.« Seine Augen schossen zu Ren. »Guter Wurf, aber mich würde interessieren, ob dir das auch ein zweites Mal gelingt.«

Ren grinste breit. »Jederzeit.«

Li lächelte süffisant zurück und verengte die Augen zu Schlitzen. »Später?«

Ich stand neben Jennifer, die vor Aufregung zitterte. Sie öffnete den Mund, um mich sogleich mit der ersten von höchstwahrscheinlich hundert Fragen zu bombardieren, aber ich hob abwehrend den Zeigefinger. »Jetzt nicht, Jen. Ich möchte die Stunde einfach nur hinter mich bringen. Dann erzähle ich dir, was los ist, versprochen.«

»Versprochen?«, formte sie mit den Lippen.

Ich nickte.

Jennifer verbrachte die restliche Stunde damit, Ren, Li und mich eindringlich zu beobachten. Ich konnte regelrecht hören, wie es in ihrem Gehirn ratterte, während sie gespannt jeder Bemerkung lauschte und wahrscheinlich jede Geste und jede noch so zufällige Berührung analysierte. Die restliche Stunde ließ uns Li einfache Handstellungen üben und beendete den Kurs dann abrupt. Er und Ren schienen sich mit Blicken zu duellieren. Beide hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrten sich abschätzend an. Ich brachte Jennifer zur Tür.

Sie kniff mich in den Arm. »Dein Ren ist wundervoll. Und zum Anbeißen lecker. Ich verstehe, warum es dir so schwergefallen ist, über ihn hinwegzukommen. Wäre ich ein paar Jahre jünger und nicht glücklich verheiratet, würde ich ihn bei mir einsperren und den Schlüssel verschlucken. Was wirst du nun tun?«

»Ren möchte, dass ich mit ihnen beiden ausgehe.«

Jennifer machte große Augen, und ich sagte rasch: »Aber ich habe noch keine Entscheidung getroffen.«

»Das ist so aufregend! Viel besser als meine Lieblingssoap. Viel Glück, Kelsey. Bis Montag!«

Während der Fahrt nach Hause, fragte ich Ren: »Was habt ihr beide geredet, du und Li?«

»Nicht viel. Ich werde auch weiterhin zu Wushu kommen, aber ich muss die Kursgebühr bezahlen, die Li absichtlich unverschämt hoch angesetzt hat, in der Hoffnung, ich könnte sie mir nicht leisten.«

»Mir gefällt das ganz und gar nicht. Ich fühle mich wie das Kind bei einem hässlichen Sorgerechtsstreit.«

Er erwiderte sanft: »Du kannst mit uns beiden ausgehen oder gleich mit Li Schluss machen. Aber um fair zu sein, solltest du Li zumindest eine Woche geben.«

»Ha! Wie kommst du darauf, dass ich dich wählen werde? Li ist ein toller Kerl!«

Ren rieb sich das Kinn und sagte leise: »Ja. Das finde ich auch.«

Von dieser Bemerkung überrascht, kreisten meine Gedanken auf der Heimfahrt um seine Worte. Ren parkte, half mir aus dem Wagen und verschwand wie gewohnt in seiner Haushälfte.

Es kam mir vor, als wäre ich von Rittern umgeben, die um meine Gunst buhlten. Während sie in ihren schimmernden Rüstungen herumliefen, ihre Lanzen wetzten und sich auf ihre Pferde schwangen, wog ich meine Alternativen ab. Letzten Endes hatte ich die Entscheidung in der Hand. Ich könnte den Gewinner des Turniers erwählen, den Verlierer oder keinen von ihnen. Aus Rens Sicht konnte ich diesen romantischen Wettstreit sogar nachvollziehen, zumindest ein bisschen. In seinem Jahrhundert kämpfte man wahrscheinlich tatsächlich um die Hand einer Frau. Und Rens Tigerinstinkte waren dafür verantwortlich, dass er alle anderen Männchen vertreiben wollte. Womit ich nicht gerechnet habe, ist Lis Reaktion. Wer konnte ahnen, dass ich ihm so viel bedeute? Hätte Li einfach Schluss gemacht, hätte er mir meine Rolle in dieser kleinen Inszenierung jedenfalls ungemein erleichtert.

Als wir am nächsten Montag wieder zu Wushu gingen, schienen Li und Ren die stillschweigende Übereinkunft getroffen zu haben, einander keines Blickes zu würdigen. Sämtliche Teilnehmer beobachteten die beiden argwöhnisch, verloren jedoch das Interesse, als nichts weiter geschah. Weder Li noch Ren waren von nun an meine Sportpartner.

Li legte sich schrecklich ins Zeug, führte mich schick aus und organisierte aufwendige Picknicks. Ren war damit zufrieden, mich zu besuchen und gemeinsam etwas zu lesen oder einen Film auf DVD anzuschauen. Popcorn wurde zu seinem Lieblingssnack, und Ren zu einem Experten, was die Herstellung betraf. Wir sahen uns alte Filme an, und anschließend stellte er mir eine Menge Fragen. Ihm gefielen die unterschiedlichsten Filme, regelrecht süchtig war er nach Star Wars. Er mochte Luke und hielt Han Solo für einen Gauner.

»Er ist Prinzessin Leias nicht würdig«, sagte Ren, was mir ein tieferes Verständnis für seine Ritter-in-schimmernder-Rüstung-Mentalität einbrachte.

Am Freitagabend wollten Ren und ich gerade einen Film einlegen, da fiel mir plötzlich ein, dass ich ein Date mit Jason hatte. Ich sagte Ren, er müsse leider den Film ohne mich anschauen. Ren murrte verärgert, dann nahm er seine Tüte Popcorn und ging zur Mikrowelle.

Als ich in einem dunkelblauen Kleid, Riemchensandalen und geglätteten Haaren die Treppe herunterkam, sprang Ren auf und ließ seine Schüssel mit Popcorn zu Boden fallen.

»Warum hast du dich so herausgeputzt? Wohin gehst du?«

»Jason und ich gehen in Portland ins Theater. Außerdem dachte ich, wir hätten einen Nichteinmischungspakt in Bezug auf meine Dates geschlossen.«

»Wenn du dich derart kleidest, mische ich mich so viel ein, wie es mir passt.«

Es klingelte an der Tür, und als ich öffnete, tauchte Ren auf einmal hinter mir auf, um mir in den Mantel zu helfen. Jason trat schrecklich nervös von einem Bein aufs andere. Nervös beäugte er Ren, hielt aber den Kopf gesenkt.

»Äh, Jason, das ist Ren, ein Freund. Er ist zu Besuch aus Indien.«

Ren streckte die Hand aus und lächelte schroff. »Pass gut auf mein Mädchen auf, Jason …«

Ein sehr deutliches, wenn auch unausgesprochenes »andernfalls« war am Satzende angehängt.

»Äh … äh … Sicher.«

Ich schob Ren zurück ins Haus und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Eigentlich war es eine Erleichterung, mit Jason zusammen zu sein. Ich hatte nicht diesen unsäglichen Druck, den ich neuerdings im Zusammensein mit Li und Ren verspürte. Nicht dass sie mich bewusst unter Druck setzten. Insbesondere Ren schien über grenzenlose Geduld zu verfügen. Vermutlich hatte er das seiner Tiger-Hälfte zu verdanken.

Auf der Hinfahrt verloren weder er noch ich ein Wort über Rens Anwesenheit. Wir hörten Musik und starrten auf die Straße vor uns.

Im Theater schauten wir uns den König der Löwen an. Die Kostüme und Requisiten waren großartig, und ich erwischte mich mehrmals bei dem Wunsch, dass Ren anstelle von Jason neben mir säße.

Nach der Vorstellung strömten die Zuschauer aus dem Theater. Die Leute schlenderten gemächlich über die Straße und zwangen die Autos zu gefährlichen Ausweichmanövern. Einer älteren Dame fiel das Theaterprogramm aus der Hand, und sie bückte sich schwerfällig, um es aufzuheben, als ein Wagen um die Ecke geschossen kam.

Ohne nachzudenken rannte ich los, baute mich vor der Frau auf und fuchtelte wild mit den Armen. Der Fahrer trat auf die Bremse, jedoch nicht schnell genug. Meine Riemchensandalen blieben in einem Riss in der Straße hängen, als ich auf die Seite springen wollte. Das Auto erfasste mich, und ich ging zu Boden.

Jason eilte mir zu Hilfe, und auch der Fahrer stieg aus. Ich war nicht schwer verletzt. Mein Kleid und mein Stolz waren in Mitleidenschaft gezogen, aber ansonsten hatte ich nur ein paar Kratzer und blaue Flecken abbekommen. Ein Theaterfotograf hastete herbei, um ein paar Bilder zu schießen. Jason posierte neben mir, ich in meinem zerrissenen Kleid und mit schmutzigem Gesicht, während er meinen Namen herausposaunte und sagte, ich wäre eine Heldin und hätte der alten Dame das Leben gerettet.

Entrüstet zerrte ich mir die Riemchensandale mit dem abgebrochenen Absatz vom Fuß und bahnte mir einen Weg zum Auto. Jason redete aufgeregt über den Unfall und sagte, mein Bild hätte gute Aussichten, es ins Theaterheft zu schaffen.

Auf dem Rückweg erzählte er in aller Ausführlichkeit von seinen Kursen im nächsten Trimester und der letzten Party, auf der er gewesen war. Als er vor meinem Haus hielt, stieg er nicht aus, um mir die Tür zu öffnen. Seufzend dachte ich: Kavaliere scheinen in meiner Generation vom Aussterben bedroht zu sein. Jason ließ den Blick von meinem zerrissenen Kleid zu den Fenstern gleiten. Wahrscheinlich war ihm angst und bange, Ren könnte sich auf ihn stürzen, weil er nicht gut auf mich aufgepasst hatte. Ich drehte mich in meinem Sitz und sah ihn an. »Jason, wir müssen reden.«

»Sicher. Was gibt’s?«

Ich nahm einen tiefen Atemzug und sagte: »Ich denke, wir sollten das mit den Dates lassen. Wir haben nicht besonders viel gemeinsam. Aber wir könnten Freunde bleiben.«

»Gibt es da jemand anderen?« Seine Augen wanderten wieder zur Haustür.

»So was in der Art.«

»Hm. Nun, wenn du es dir anders überlegen solltest, lass es mich wissen.«

»Danke, Jason. Du bist toll.« Ein bisschen oberflächlich, aber nett.

Ich küsste ihm zum Abschied die Wange, und er fuhr gut gelaunt nach Hause.

Das war nicht schlimm. Beim nächsten Mal werde ich nicht so leicht davonkommen.

Ich betrat das Haus und fand einen weiteren Zettel auf der Küchenablage neben einer kleinen Schüssel Popcorn.

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Erkenne ich hier etwa einen roten Faden? Nachdem ich mir eine Cola light und das Popcorn geschnappt hatte, stieg ich langsam, die kaputten Schuhe unter dem Arm, die Treppe hinauf.

Einer ist geschafft. Einer folgt noch.