22
Fort
Der Wind schlug uns heftig entgegen, während wir im freien Fall durch die Luft sausten und wie Dorothys Haus im Zauberer von Oz herumwirbelten. Kishan gelang es schließlich, uns mit dem Gesicht nach unten auszubalancieren. Er nahm meine Handgelenke und streckte unsere Arme zu beiden Seiten aus, sodass wir das Gleichgewicht hielten. Genau im selben Moment hörten wir ein metallenes Kreischen über uns. Ein Eisenvogel war uns auf den Fersen.
Kishan hob meinen linken Arm. Wir scherten scharf nach rechts aus und gewannen an Fahrt. Der Vogel ließ sich nicht abschütteln. Dann hob Kishan unsere rechten Arme, und wir glitten nach links. Der Vogel war jetzt genau über uns.
»Halt dich fest, Kells!«, schrie Kishan.
Er drückte unsere Arme an die Seiten und zog den Kopf ein. Wir schossen wie eine Kugel nach unten. Der Vogel legte die Flügel an und stürzte mit uns in die Tiefe.
»Ich werde uns umdrehen! Versuch, ihn mit deinem Blitzstrahl zu treffen! Bereit?«
Ich nickte, und Kishan drehte uns in der Luft. Unsere Rücken zeigten nun zum Boden, und ich hatte einen beeindruckenden Ausblick auf den Bauch des Vogels. Rasch feuerte ich mehrere Blitze ab, verfehlte das Auge, traf aber in den Schnabel. Dem Vogel gefiel das überhaupt nicht, und er flatterte laut kreischend davon.
»Festhalten!«
Kishan drehte uns wieder um hundertachtzig Grad und brachte uns ins Gleichgewicht. Dann zog an er der Reißleine, und ich hörte das quietschende Surren von Stoff. Mit einem Ratsch öffnete sich der Fallschirm und füllte sich mit Luft. Kishans Griff um meine Taille verstärkte sich, als uns der Luftwiderstand in die Höhe katapultierte und unsere Fallgeschwindigkeit drastisch verlangsamte. Dann ließ er mich los und nahm die Steuerschlaufen, um uns zu navigieren.
»Lande zwischen den beiden Bergen dort«, rief ich.
Ein schreckliches Krächzen über uns bedeutete, dass die Vögel uns gefunden hatten. Drei von ihnen umkreisten uns, versuchten, uns mit Klauen und Schnäbeln zu packen. Ich wollte meinen Blitz einsetzen, aber es war zu schwierig, aus dieser Entfernung die Augen zu treffen. Stattdessen öffnete ich den Rucksack und holte meinen Bogen heraus.
Kishan scherte nach links aus. Ich spannte den Bogen und schoss einen Pfeil ab, der knapp am Kopf des Vogels vorbeizischte. Mein zweiter Pfeil, in den ich meine Blitzenergie lenkte, traf das Tier direkt im Hals, was ihm einen gehörigen Schock versetzte. Es fiel verletzt zu Boden. Ein anderer Vogel streifte uns mit seinen rasiermesserscharfen Flügeln, was uns schwer ins Trudeln brachte. Zum Glück gelang es mir, ihn mit einem Pfeil zu vertreiben.
Der dritte Vogel war gewieft. Geschickt duckte er sich aus meinem Blickfeld und blieb in unserem Rücken. Beim nächsten Angriff riss er mit der Klaue ein großes Loch in den Fallschirm, der jäh in sich zusammenfiel und uns wieder in den freien Fall stürzte. Kishan versuchte zu lenken, aber der Wind zerrte heftig an dem zerfetzten Stoff.
Wir waren schon auf das Schlimmste gefasst, als der Fallschirm mit einem Mal begann, sich selbst zu reparieren. Fäden schossen aus dem Stoff und verwebten sich, bis das Göttliche Tuch aussah, als wäre es nie beschädigt gewesen. Es füllte sich erneut mit Luft, und Kishan riss an der Steuerschlaufe, um uns in die gewünschte Richtung zu lenken.
Der wütende Vogel tauchte wieder auf und wich gekonnt meinen Pfeilen aus. Sein lautes Krächzen wurde von anderen seiner Art beantwortet.
»Wir müssen landen!«
»Sind gleich da, Kells!«
Ein Dutzend Vögel schoss auf uns zu. Nur mit Glück, so schien es mir, würden wir lange genug überleben, um überhaupt den Boden zu erreichen. Der Schwarm umkreiste uns kreischend und flatternd und hackte mit den Schnäbeln nach uns.
Wir hatten es fast geschafft. Nur noch ein paar Sekunden! Da stürzte sich ein Vogel auf uns. Er war schnell, zu schnell, und wir bemerkten ihn erst im letzten Augenblick. Das Geschöpf riss den Schnabel auf. Ich konnte förmlich das Knacken meiner Knochen hören, während ich mir mit Schrecken ausmalte, wie mich der Metallvogel in zwei Stücke riss.
Ich schoss mehrere Pfeile ab, traf aber kein einziges Mal. Der Wind wirbelte uns plötzlich fort, und aus der neuen Position konnte ich nichts tun. Kishan steuerte den Fallschirm, setzte zu einem gefährlichen Sturzflug an und schlug dann einen Haken. Ich schloss die Augen und wurde heftig durchgerüttelt, als wir endlich festen Boden erreichten.
Kishan rannte mehrere Schritte und stieß mich flach ins Gras. Er lag nun auf mir und riss verzweifelt an unseren Gurten.
»Kopf runter, Kells!«
Der Vogel kam direkt auf uns zu. Mit dem Schnabel ergatterte er ein großes Stück Fallschirm und zerrte daran, zerfetzte das einzigartige Material. Ich zuckte zusammen, als ich das schreckliche Reißen hörte. Bis aufs Blut gereizt spuckte der Vogel den Fallschirm wieder aus und startete einen neuen Versuch. Kishan befreite sich, zog die Chakram aus dem Rucksack und warf sie mit aller Kraft, während ich mich hinkniete und verzweifelt die Überreste des Fallschirms aufsammelte.
»Bitte wachs wieder zusammen.«
Nichts geschah. Kishan schleuderte erneut seine Waffe. »Ein bisschen Hilfe wäre nicht schlecht.«
Ich schoss ein paar Pfeile ab und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich das Tuch bewegte. Die Fäden verknüpften sich wieder und webten den Stoff zu einem Ganzen, anfangs nur langsam, dann schneller und immer schneller. Schließlich hatte es seine ursprüngliche Größe wieder.
»Halt die Tiere einen Moment in Schach, Kishan. Ich weiß, was zu tun ist!« Ich hob das Tuch auf und flüsterte: »Sammle den Wind ein.«
Der Stoff kräuselte sich, die Farben verschwammen, das Tuch dehnte sich. Mit zwirbelnden, drehenden Bewegungen blähte es sich auf und wuchs zu einem riesigen Sack an, der in der Brise flatterte. Auf einmal traf mich ein Windstoß und wehte in den Sack. Als er nachließ, peitschte ein zweiter von hinten an mir vorbei und blies den Sack weiter auf. Im nächsten Moment schossen Windböen aus allen Richtungen herbei, und nur mit äußerster Konzentration gelang es mir, den anschwellenden Beutel zu bändigen.
Schließlich ebbten die Böen ab, und ich spürte nicht einmal mehr den Hauch einer Brise. Der Sack hingegen beulte sich heftig aus. Kishan war inzwischen von zehn Vögeln umzingelt, konnte sie mit der Chakram kaum mehr abwehren.
»Kishan! Stell dich hinter mich!«
Er holte aus und warf die Chakram mit einem mächtigen Stoß auf die Vögel. Während sie durch die Luft sirrte, kam er zu mir gerannt, umklammerte den Sack auf der anderen Seite und fing die herbeisausende Waffe auf, Zentimeter bevor sie mir den Hals durchtrennte.
Vorwurfsvoll hob ich eine Augenbraue, doch er grinste mich nur schelmisch an. »Okay«, rief ich. »Bist du bereit? Eins, zwei, drei!«
Wir öffneten den Beutel und schleuderten den angesammelten Wind von Shangri-La in Richtung der Vögel. Drei der Tiere zerschellten am Berg, während die anderen zum Weltenbaum gefegt wurden, obwohl sie mit aller Kraft versuchten, dem Wirbelwind entgegenzusteuern.
Als der Wind erstarb, hing der leere Sack schlaff zwischen uns. Kishan starrte mich ungläubig an. »Kelsey. Wie hast du …?« Dem nie um eine Bemerkung verlegenen Kishan hatte es glatt die Sprache verschlagen.
»Das Tuch, bitte.«
Der Sack drehte und krümmte sich, nahm einen blassblauen und goldenen Ton an und schrumpfte wieder auf Tuchgröße. Ich band es mir um den Hals und warf das Ende locker über die Schulter.
»Die Antwort lautet: Keine Ahnung. Als Hugin und Munin mir den Verstand geklärt haben, habe ich mich an all die Geschichten und Mythen erinnert, die ich gelesen habe. Ich habe mich an Dinge erinnert, die die Göttliche Weberin uns erzählt und über die Mr. Kadam Spekulationen angestellt hat. Er hat mir einmal eine Geschichte über einen japanischen Gott namens Fuˉjin erzählt, den Herrscher über die Winde, der einen Sack bei sich trug, in welchem er sie aufbewahrte. Außerdem wusste ich, dass das Material des Tuchs etwas ganz Besonderes ist, ähnlich wie die Goldene Frucht.
Vielleicht steckte alles schon die ganze Zeit über in meinem Kopf, oder Hugin hat mir die Idee zugeflüstert. Das weiß ich nicht genau. Mit Gewissheit kann ich jedoch sagen, dass das Tuch uns helfen wird, Ren zu retten. Allerdings sollten wir von hier verschwinden, bevor die Vögel zurückkommen. Später erkläre ich dir alles.«
»In Ordnung, aber zuerst gibt es etwas, das ich dir zeigen muss.«
»Was denn?«
»Das hier.«
Er zog mich an sich und küsste mich. Stürmisch. Sein Mund berührte meinen mit ungeahnter Leidenschaft. Der Kuss war schnell, ungezügelt, wild. Er hielt mich fest umklammert, die eine Hand umschloss meinen Kopf, die andere ruhte entschieden auf meiner Hüfte. Er küsste mich mit einer solchen Inbrunst, der ich ebenso wenig Einhalt gebieten konnte wie einer Lawine.
Wenn man von einer Lawine überrascht wird, hat man zwei Möglichkeiten: stehen bleiben und sich dagegenstemmen oder nachgeben, in ihren Sog geraten und darauf hoffen, dass man den Fuß des Berges lebendig erreicht. Und so sträubte ich mich nicht länger gegen Kishans Kuss und geriet in seinen Sog. Schließlich hob er den Kopf, wirbelte mich herum und stieß einen triumphierenden Jubelschrei aus, der von den umliegenden Bergen widerhallte.
Als er mich endlich absetzte, musste ich erst wieder zu Atem kommen. Ich keuchte schwer und sagte: »Wofür war das denn?«
»Ich bin einfach so glücklich, am Leben zu sein!«
»Okay, schön. Aber behalt deine Lippen das nächste Mal bei dir.«
Er seufzte. »Sei nicht sauer, Kells.«
»Ich bin nicht sauer. Ich bin … Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es ist einfach alles viel zu schnell passiert.«
Ein spitzbübisches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »Ich verspreche, beim nächsten Mal nichts zu überstürzen.«
»Welches nächste Mal?«
Er runzelte die Stirn. »Du solltest die Sache nicht zu eng sehen. Es ist doch eine ganz natürliche Reaktion, wenn man dem Tod knapp entronnen ist. Ähnlich wie Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren, das nächstbeste Mädchen küssen, sobald sie von Bord sind.«
»Ja, vielleicht«, entgegnete ich trocken, »aber der Unterschied liegt darin, dass dieses Mädchen mit dir an Bord war. Sobald wir das Festland erreicht haben, kannst du ruhig das nächstbeste Mädchen küssen, Matrose, aber Hände weg von diesem Mädchen.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wirklich? Wenn du mich fragst, hat es sich eher angefühlt, als hätten sich deine Hände nicht zurückhalten können.«
»Wenn meine Hände überhaupt auf dir waren, dann nur, um dich von mir wegzustoßen«, schleuderte ich ihm entrüstet entgegen.
»Was auch immer du dir einreden willst, um später ein reines Gewissen zu haben. Du kannst dir einfach nicht eingestehen, dass es dir gefallen hat.«
»Hm, lass mich kurz überlegen. Du hast vollkommen recht, Casanova. Es hat mir gefallen. Als es endlich vorbei war!«
Er schüttelte den Kopf. »Du bist dickköpfig. Kein Wunder, dass Ren so viele Probleme mit dir hatte.«
»Wie kannst du es wagen, deinen Bruder jetzt auch nur mit einer Silbe zu erwähnen?«
»Wann wirst du den Tatsachen endlich ins Auge sehen, Kells? Du magst mich.«
»Nun, im Moment mag ich dich nicht besonders! Können wir einfach zum Geistertor zurückwandern und dieses Gespräch beenden?«
»Ja, lass uns gehen. Aber das Gespräch werden wir später fortsetzen.«
»Eher friert Shangri-La zu.«
Süffisant lächelnd schulterte Kishan den Rucksack. »Ich kann warten. Nach dir, Bilauta.«
Wir marschierten mehrere Stunden. Kishan versuchte ununterbrochen, mich in eine Unterhaltung zu verwickeln, doch ich behandelte ihn, als wäre er Luft.
Das Problem war – er hatte nicht ganz unrecht. Ich hatte insgesamt nicht nur mehr Zeit mit ihm verbracht als mit Ren, wir hatten auch monatelang unter demselben Dach gelebt. Seit Wochen waren wir in Shangri-La und klebten Tag und Nacht aneinander.
Dieses ständige Zusammensein ruft eine besondere Nähe, eine Vertrautheit zwischen zwei Menschen hervor. Im Gegensatz zu mir war Kishan bereit, diesen Umstand anzuerkennen. Es war nicht verwunderlich, dass Kishan, der bereits vorher Gefühle für mich hatte, diese nun unverhohlen äußerte. Die Sache war die: Es störte mich nicht so sehr, wie es mich hätte stören sollen. Und Kishans Kuss war nicht mit dem von Artie oder Jason oder selbst dem von Li zu vergleichen.
Als ich Li geküsst hatte, hatte ich das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Selbst Rens Küsse waren anders. Sie waren wie ein überwältigender Wasserfall im Dschungel – funkelnd und glitzernd im Sonnenschein. Er war ein exotisches Paradies, das es zu erforschen galt. Kishan war anders. Kishan war ein reißender Wildwasserfluss – schnell, unvorhersehbar, unbezähmbar. Die Brüder waren beide umwerfend und faszinierend, aber Kishan zu küssen hatte einen gefährlichen Beigeschmack.
Nicht gefährlich wie die männlichen Sirenen; die hatten sich falsch angefühlt. Wenn ich ganz ehrlich war, musste ich mir eingestehen, dass sich der Kuss mit Kishan nicht falsch angefühlt hatte. Genau genommen war es schön gewesen, wie eine wildere, stürmischere Version von Ren. Bei Kishan kam es mir wirklich so vor, als stünde ein Tiger vor mir, der sich im nächsten Augenblick auf mich stürzen wollte. Es war keine gänzlich unangenehme Vorstellung. Und genau das war der Punkt, der mich beunruhigte.
Ich bin wohl schon zu lange von meinem Freund getrennt, versuchte ich mir mein Gefühlschaos zu erklären. Kishan ist die nächstbeste Wahl, und ich vermisse meinen Tiger. Das ist sicherlich alles. Ich ließ mich von diesen Gedanken trösten, während wir schweigend weiterwanderten.
Wie Ren besaß Kishan das Talent, sich charmant aus prekären Situationen zu winden. Und so dauerte es nicht lange, bis er mich völlig vergessen ließ, dass ich eigentlich sauer auf ihn war.
Als die Dämmerung einsetzte, entschieden wir, unser Nachtlager aufzuschlagen. Ich war erschöpft.
»Du nimmst den Schlafsack, Kells.«
»Den brauche ich nicht.« Ich band mir das Tuch vom Hals und sagte: »Bitte ein großes Zelt, einen Schlafsack, zwei weiche Kissen und Wechselklamotten für uns beide.«
Das Tuch drehte sich und schnalzte auseinander. Fäden glitten heraus und verwoben sich, verknoteten sich zu dicken Schnüren, die in alle Richtungen herausschossen und sich um die starken Äste der umliegenden Bäume wickelten. Sobald die Seile fest und gesichert waren, gestaltete das Göttliche Tuch das Dach, Wände und einen Zeltboden. Anstelle eines Reißverschlusses hatten die Zeltklappen Schnüre.
Ich duckte mich hinein. »Hereinspaziert, Kishan.«
Er folgte mir in das geräumige Zelt, und wir beobachteten, wie die farbenfrohen Fäden einen dicken Schlafsack und zwei weiche Kissen webten. Als alles fertig war, war ich die stolze Besitzerin eines grünen Schlafsacks und zweier weicher, flauschiger Kissen, auf denen frische Kleidung für uns beide lag. Kishan rollte den alten Schlafsack neben meinen, während ich ein Kissen ausschüttelte.
»Nach welchen Kriterien wählt es die Farbe aus?«, erkundigte er sich neugierig.
»Das hängt vermutlich von seiner Stimmung ab oder vielleicht davon, wonach man bittet. Das Zelt, der Schlafsack und die Kissen sehen so aus, wie sie aussehen sollen. Ansonsten verändert das Tuch selbstständig die Farben. Das ist mir heute beim Wandern aufgefallen.«
Kishan verschwand zum Umziehen in den Dschungel, während ich mir frische Klamotten überstreifte und meine Feenkleidung draußen über einen Ast hängte. Als Kishan zurückkam, hatte ich mich längst tief in meinen Schlafsack gekuschelt und auf die Seite gedreht, um jeglicher Unterhaltung einen Riegel vorzuschieben.
Er kletterte in seinen Schlafsack, und ich spürte, wie seine goldenen Augen meinen Rücken anstarrten. Nach einer angespannten Weile schnaubte er und sagte: »Na dann, gute Nacht, Kells.«
»Gute Nacht, Kishan.« Ich war erschöpft und schlief rasch ein, driftete augenblicklich in einen Traum.
Ich träumte von Ren und Lokesh, von genau derselben Szene wie in meiner letzten Vision. Ren saß in einem dunklen Raum in der hintersten Ecke eines Käfigs. Sein Haar war stumpf und schmutzig, und ich erkannte ihn erst, als er die Augen aufschlug und mich ansah. Diese blauen Augen hätte ich überall und jederzeit wiedererkannt.
Seine Augen funkelten in dem düsteren Licht wie glitzernde Saphire. Ich kroch näher, ließ mich von ihnen gefangen nehmen, starrte sie an wie ein verzweifelter Matrose, der in einer stürmischen schwarzen Nacht den Blick nicht von einem Leuchtturm abwenden kann.
Als ich beim Käfig war, blinzelte Ren. Fast hätte man meinen können, er würde mich zum ersten Mal sehen. Seine Stimme war krächzend, als hätte er lange kein Wasser bekommen.
»Kells?«
Ich krallte die Finger um die Gitterstäbe und wünschte sehnlichst, ich wäre stark genug, sie zu zerbrechen. »Ja. Ich bin’s.«
»Ich kann dich nicht sehen.«
Für einen entsetzlichen Augenblick fürchtete ich, Lokesh hätte ihn geblendet. Ich kniete mich vor den Käfig. »Ist es so besser?«
»Ja.« Ren kam näher gerutscht und legte die Hände auf meine. Wolken zerteilten sich, und das Mondlicht fiel durch ein winziges Fenster, überzog sein Gesicht mit einem matten Schimmer.
Erschrocken keuchte ich auf. Tränen füllten meine Augen. »O Ren! Was hat er dir angetan?«
Rens Gesicht war geschwollen und lila. Blut sickerte ihm aus den Mundwinkeln, und eine tiefe Schnittwunde verlief von seiner Stirn bis zur Wange. Ich streckte einen Finger aus und berührte sanft seine Schläfe.
»Er hat die Informationen nicht bekommen, die er von dir wollte, und hat seine Wut an mir ausgelassen.«
»Es tut mir so leid.« Meine Tränen tropften auf seine Hand.
»Priyatama, nicht weinen.« Er drückte seine Hand an meine Wange. Ich drehte den Kopf und küsste seine Handfläche.
»Ich ertrage es nicht, dich so zu sehen. Wir werden dich retten. Bitte, bitte, halte noch ein wenig durch.«
Er senkte den Blick, als würde er sich schämen. »Ich denke, das kann ich nicht.«
»Sag das nicht! Sag das niemals! Ich komme. Ich weiß, was zu tun ist. Ich weiß, wie man dich retten kann. Du musst am Leben bleiben. Egal, was es kostet! Ren, versprich mir das!«
Ren seufzte gepeinigt. »Er ist dir auf den Fersen, Kells. Jede Sekunde, die Lokesh mich in seiner Gewalt hat, bist du in Gefahr. Er ist von dir besessen. In jeder wachen Sekunde versucht er, mir Informationen über dich zu entlocken. Er wird niemals aufgeben. Er … wird meinen Willen brechen. Bald. Wäre es nur die körperliche Folter, könnte ich es ertragen, aber er benutzt dunkle Magie. Täuscht mich. Beschwört Halluzinationen herauf. Und ich bin so … müde.«
Meine Stimme bebte. »Dann erzähl ihm einfach alles. Erzähl ihm, was er wissen will. Vielleicht lässt er dich dann in Ruhe.«
»Niemals, Prema.«
Ich schluchzte. »Ren. Ich darf dich nicht verlieren.«
»Ich bin bei dir. Meine Gedanken sind immer bei dir.« Er nahm eine meiner Locken und brachte sie an seine Lippen. Tief sog er den Duft meines Haares in sich ein. »Immer.«
»Gib nicht auf! Nicht wenn wir so nah sind!«
Sein Blick irrlichterte durch den Raum. »Es gäbe eine Möglichkeit …«
»Was? Welche Möglichkeit?«
»Durga«, sagte er und machte eine Pause, »hat mir ihren Schutz angeboten, aber einen hohen Preis verlangt. Das wäre es nicht wert.«
»Dein Leben wäre alles wert! Nimm ihr Angebot an! Denk nicht zweimal drüber nach. Du kannst Durga vertrauen. Tu es! Was auch immer der Preis ist, es spielt keine Rolle, solange du überlebst.«
»Aber, Kelsey.«
»Schsch.« Sanft drückte ich eine Fingerspitze auf seine geschwollene Lippe. »Tu alles, was nötig ist, um zu überleben. Versprochen?«
Er röchelte verzweifelt und sah mich mit leuchtenden Augen an. »Du musst gehen. Er kann jederzeit zurückkommen.«
»Ich will nicht fort von dir.«
»Das möchte ich auch nicht. Aber du musst.«
Niedergeschlagen wandte ich mich ab.
»Warte, Kelsey. Bevor du gehst … Schenkst du mir einen Kuss?«
Ich streckte die Hand durch die Gitterstäbe und berührte zärtlich sein Gesicht. »Ich will dir nicht noch mehr Schmerzen verursachen.«
»Das ist egal. Bitte. Küss mich.«
Er kniete sich vor mich, keuchte leise auf, als er das Gewicht auf das Knie verlagerte, schob dann seine zitternden Hände durch die Stäbe und zog mich näher. Seine Finger glitten zu meinen Wangen, und unsere Lippen trafen sich durch die Gitterstäbe seines Käfigs. Sein Kuss war warm und weich und viel zu kurz. Ich schmeckte das Salz meiner Tränen. Als wir uns voneinander lösten, verzogen sich seine aufgeplatzten Lippen zu einem schiefen Lächeln. Er zuckte zusammen, als seine Hände von mir ließen. Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass mehrere Finger gebrochen waren.
Ich brach erneut in Tränen aus. Ren wischte mir mit dem Daumen eine Träne von der Wange und rezitierte ein Gedicht von Richard Lovelace.
Wenn Liebe, schrankenlos, sich schwingt
Zum Kerker nachtumdüstert,
Und meine Herrin zu mir bringt,
Die an dem Gitter flüstert,
Wenn ihr Gelock umstrickt mich hält,
Ihr Blick die Seel umflicht: –
Der Vogel unterm Himmelszelt
Kennt solche Freiheit nicht.
Den Käfig nicht und Kerker schafft
Die Wand mit Eisenstäben:
Ein rein Gewissen hält die Haft
Nur für ein Klausnerleben,
Beschränket ihr meiner Liebe Schwur
Und meine Seele nicht,
Dann kennen solche Freiheit nur
Engel im Himmelslicht!
Er presste die Stirn gegen die Gitterstäbe. »Ich würde mir nie verzeihen, wenn er dir etwas antäte. Das lasse ich nicht zu. Ich lasse nicht zu, dass er dich findet, Kelsey. Ganz gleich, was passiert.«
»Was soll das heißen?«
Er lächelte. »Nichts, meine Liebste. Mach dir keine Sorgen.« Er kroch zurück und lehnte seinen geschundenen Körper gegen die Käfigwand. »Es ist Zeit, Iadala.«
Ich stand auf um zu gehen, blieb jedoch an der Tür stehen, als ich erneut seine Stimme hörte. »Kelsey?«
Ich drehte mich um.
»Egal, was geschieht, vergiss bitte nie, dass ich dich liebe, Hridaya.«
»Das werde ich nicht vergessen. Versprochen. Mujhe tumse pyarhai, Ren.«
»Geh jetzt.«
Er lächelte schwach, und dann veränderten sich seine Augen. Das strahlende Blau wurde stumpf, leblos und grau. Vielleicht spielte mir das Licht einen Streich, aber es kam mir fast vor, als wäre Ren gestorben. Zögerlich machte ich einen Schritt auf ihn zu. »Ren?«
»Geh bitte, Kelsey«, flehte mich seine leise Stimme an. »Alles wird gut.«
»Ren?«
»Leb wohl, meine Liebste.«
Etwas war geschehen, und zwar nichts Gutes. Ich spürte, wie etwas zerriss. Ich rang nach Luft. Die Verbindung zwischen uns war immer greifbar gewesen. Je näher Ren und ich uns waren, desto stärker war dieses Band, es war zwischen uns gewesen wie ein Telefonkabel, doch irgendetwas hatte dieses Kabel durchtrennt.
Ich spürte den Schnitt, und die scharfen Enden bohrten sich durch mein Herz wie heiße Messer durch warme Butter. Ich schrie und schlug wild um mich. Zum ersten Mal, seit ich meinen weißen Tiger zu Gesicht bekommen hatte, war ich allein.
Kishan schüttelte mich aus meinem Traum.
»Kelsey! Kelsey! Wach auf!«
Ich öffnete die Augen und zerfloss in Tränen, in Sturzbächen ergossen sie sich über meine Wange und vermischten sich mit den Tränen aus meinem Traum. Ich schlang Kishan die Arme um den Hals und schluchzte. Er zog mich auf seinen Schoß, drückte mich fest an sich und streichelte mir den Rücken, während ich untröstlich um seinen Bruder weinte.
Irgendwann tief in der Nacht musste ich eingeschlafen sein, denn ich wachte in meinem Schlafsack auf, völlig verheddert, mit Kishans Armen um mich. Meine Faust hatte sich in meine Wange gedrückt, und meine Augen waren verquollen und wund.
»Kelsey?«, flüsterte Kishan.
Ich murmelte: »Ich bin wach.«
»Geht’s dir gut?«
Unwillkürlich glitt meine Hand zu der schmerzenden, hohlen Stelle in meiner Brust, und eine Träne rann mir aus dem Augenwinkel. Ich barg den Kopf in dem Kissen und atmete tief ein, um mich zu beruhigen.
»Nein«, sagte ich matt. »Er ist … fort. Irgendetwas ist geschehen. Ich glaube …, Ren ist tot.«
»Was ist geschehen? Wie kommst du darauf?«
Ich beschrieb ihm meinen Traum und versuchte, ihm das zerrissene Band zwischen mir und Ren zu erklären.
»Kelsey, es ist doch möglich, dass das alles ein Traum war, ein sehr verstörender Traum, aber trotzdem bloß ein Traum. Es ist nicht ungewöhnlich, nach einem traumatischen Erlebnis, wie unserem Kampf mit den Vögeln, intensiv zu träumen.«
»Vielleicht. Aber ich habe nicht von den Vögeln geträumt.«
»Dennoch können wir nicht sicher sein. Denk dran, Durga hat versprochen, ihn zu beschützen.«
»Ich weiß. Aber es war so real.«
»Im Moment können wir nur abwarten.«
»Es gäbe einen Weg, es herauszufinden.«
»Wovon sprichst du?«
»Wir könnten den Sylphen einen erneuten Besuch abstatten. Vielleicht dürfen wir ein zweites Mal im Traumhain schlafen, und ich kann in die Zukunft blicken. Vielleicht weiß ich dann, ob wir ihn noch retten können.«
»Denkst du, das funktioniert?«
»Die Sylphen haben gesagt, sie gehen dorthin, wenn sie ernste Probleme haben. Bitte, Kishan. Lass es uns wenigstens probieren.«
Kishan wischte mir mit dem Daumen eine Träne von der Wange. »Okay, Kells. Lass uns Faunus suchen.«
»Kishan, noch etwas. Was bedeutet Hridaya patni?«
»Wo hast du das gehört?«, fragte er leise.
»In meinem Traum. Ren hat es zu mir gesagt, kurz bevor wir uns getrennt haben.«
Kishan erhob sich und ging aus dem Zelt. Ich folgte ihm. Nachdenklich stützte er sich auf einen Ast und starrte in die Ferne. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Das ist der Kosename, den mein Vater für meine Mutter hatte. Es bedeutet ›Gattin meines Herzens‹.«
Wir mussten einen langen Tag wandern, bis wir das Dorf der Sylphen erreichten. Sie waren überglücklich, uns zu sehen, und wollten zu unseren Ehren ein Fest veranstalten. Ich hatte keine rechte Lust auf eine ausgelassene Feier. Als ich Faunus fragte, ob wir noch einmal im Traumhain schlafen dürften, beteuerte er, dass alles, was ihnen gehörte, auch unser sei. Die Baumnymphen brachten mir ein kleines Abendessen und ließen mich bis zum Anbruch der Nacht in einer ihrer Hütten allein. Kishan verstand, dass ich keine Gesellschaft wollte, und aß mit den Sylphen.
Als die Dämmerung anbrach, kam Kishan mit einem Besucher vorbei. »Ich möchte dir jemanden vorstellen, Kells.« Er hielt die Hand eines kleinen silberhaarigen Kleinkinds.
»Wer ist das?«
»Verrätst du der hübschen jungen Dame deinen Namen?«
»Rock«, erwiderte der Junge.
»Du heißt Rock?«, fragte ich.
Der süße Fratz grinste mich an.
»Eigentlich heißt er Tarak«, erklärte Kishan.
»Tarak?«, keuchte ich. »Das ist unmöglich! Er sieht aus, als wäre er zwei!«
Kishan zuckte mit den Schultern. »Anscheinend wachsen die Sylphen sehr schnell.«
»Unglaublich! Tarak, komm her und lass mich dich anschauen.«
Ich streckte die Arme aus, und Kishan schob den Jungen aufmunternd zu mir. Tarak machte ein paar unbeholfene Schritte und fiel mir dann in den Schoß.
»Du bist schon so ein großer Junge! Und unglaublich hübsch. Willst du mit mir spielen? Schau mal.«
Ich zog mir das Tuch vom Hals, und wir beobachteten das prächtige, schillernde Farbenspiel auf dem Stoff. Als der Junge es berührte, erschien ein winziger knallrosa Handabdruck auf dem Tuch, der sich kurz darauf in einem Strudel aus Gelb auflöste.
»Plüschtiere, bitte.«
Das Tuch erzitterte, teilte sich und verwandelte sich in die unterschiedlichsten Stofftiere. Kishan saß neben mir, und wir spielten mit Tarak und der Parade aus Stofftieren. Der Schmerz in meinem Herzen ließ nach, während ich mit dem sylphischen Jungen lachte.
Als sich Kishan den Stofftiger schnappte und Tarak beibrachte, wie man richtig knurrte, schaute er zu mir hoch. Unsere Blicke trafen sich, und er zwinkerte mir zu. Ich nahm seine Hand, drückte sie und formte mit dem Mund ein »Danke«.
Kishan küsste meine Finger, lächelte und sagte: »Tante Kelsey braucht jetzt etwas Schlaf. Es ist Zeit, dich zu deiner Familie zurückzubringen, kleiner Mann.«
Er hob Tarak hoch, setzte ihn sich auf die Schultern und sagte: »Ich bin gleich zurück.«
Ich sammelte die Stofftiere auf und sagte dem Göttlichen Tuch, dass wir sie nicht mehr bräuchten. Fäden wirbelten in der Luft und webten sich wieder in Form. In dem Moment, als das Tuch in seiner ursprünglichen Form war, kehrte Kishan zurück.
Er kniete sich neben mich, umfasste mein Kinn und musterte ernst mein Gesicht, als würde er darin lesen. »Kelsey, du bist erschöpft. Die Sylphen haben ein Bad für dich vorbereitet. Entspanne dich, bevor du zu Bett gehst. Ich treffe dich im Traumhain, okay?«
Ich nickte und ließ mich von denselben drei sylphischen Frauen wie zuvor zum Badeplatz führen. Dieses Mal waren sie still, überließen mich meinen Gedanken, während sie mir behutsam das Haar einseiften und parfümierte Lotion in die Haut einrieben. Sie kleideten mich in ein Gewand aus feinster gesponnener Seide, bevor eine orange geflügelte Fee mich zum Traumhain brachte. Kishan war bereits dort und hatte sich die Freiheit genommen, sich aus dem Göttlichen Tuch eine Hängematte zu machen.
»Wie ich sehe, hast du diesmal kein Interesse, die Flitterwochensuite mit mir zu teilen«, neckte ich ihn liebevoll.
Er hatte mir den Rücken zugedreht und testete die Knoten an der Hängematte aus. »Ich dachte nur, es wäre besser …« Er wandte sich um, warf mir einen begehrlichen, eindringlichen Blick zu und beschäftigte sich dann rasch wieder mit den Knoten. Nach einem kurzen Räuspern sagte er: »Es ist heute definitiv besser, wenn du allein schläfst, Kells. Ich mache es mir hier drüben bequem.«
»Wie du willst.«
Kishan kletterte in seine Hängematte und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er beobachtete mich, als ich die dünne Decke zurückschlug.
Ich hörte, wie er leise flüsterte: »Nebenbei bemerkt, du bist wirklich … wunderschön.«
Ich drehte mich zu ihm um und strich mit der Hand über das blaue Feenkleid mit den langen Seidenärmeln. Mein Haar hing in weichen Wellen herab, und meine blasse Haut funkelte von dem ausgiebigen Schrubben und der Glitzerlotion der Sylphen. Vielleicht sah ich so herausgeputzt tatsächlich ganz hübsch aus, aber ich fühlte mich leer wie ein Osterei aus Plastik. Außen farbenprächtig, vielleicht sogar kunstvoll gestaltet, aber im Innern war ich leer. »Vielen Dank«, sagte ich mechanisch und stieg ins Bett.
Lange Zeit starrte ich wach zu den Sternen. Ich spürte Kishans Blicke auf mir, schob eine Hand unter meine Wange und glitt schließlich in den Schlaf.
Ich träumte nichts. Weder von Ren noch von mir, Kishan oder selbst Mr. Kadam … Ich träumte von Leere. Eine gewaltige Schwärze erfüllte meinen Geist, eine öde Einsamkeit. Da war nur ein formloser Ort ohne Bedeutung, ohne Freude, ohne Glück und Zufriedenheit. Ich erwachte vor Kishan. Ohne Ren war mein Leben vergebens. Es war armselig, leer und wertlos. Das war es, was der Traumhain mir mitteilen wollte.
Als meine Eltern starben, hatte ich das Gefühl, als wären zwei mächtige Bäume entwurzelt worden. Dann war Ren in mein Leben getreten und hatte die trostlose Landschaft meines Herzens gefüllt. Mein Herz war geheilt, und der trockene Boden war mit saftigem Gras, wunderschönen Sandelholzbäumen, Jasmin und Rosen begrünt worden. Genau in der Mitte befand sich ein von Tigerlilien umgebener Springbrunnen, ein wunderschöner Ort, an dem ich in Frieden hatte sitzen können. Jetzt war der Springbrunnen zertrümmert, die Lilien waren zertrampelt, die Bäume umgestürzt, und es gab zu wenig Erde, um etwas Neues zu pflanzen. Ich war vertrocknet, öde – eine Wüste, die kein Leben spenden konnte.
Eine sanfte Brise fuhr mir durchs Haar und wehte mir Strähnen ins Gesicht. Mir fehlte die Kraft, sie beiseitezuschieben. Ich hörte nicht, dass Kishan aufstand. Ich spürte nur, wie seine Fingerspitzen mein Gesicht berührten, als er mir die Strähnen von den Wangen strich und sie mir hinters Ohr steckte.
»Kelsey?«
Ich reagierte nicht. Mein Blick starrte unverwandt zum heller werdenden Morgenhimmel.
»Kells?«
Seine Hände glitten unter meinen Körper und hoben mich hoch. Dann setzte er sich aufs Bett und zog mich an seine Brust.
»Kelsey, bitte sag etwas. Rede mit mir. Ich ertrage es nicht, dich so zu sehen.«
Er wiegte mich eine Weile. Ich konnte ihn hören und antwortete ihm im Geiste, aber ich fühlte mich losgelöst von meiner Umgebung, von meinem Körper.
Ein Regentropfen traf meine Wange, und der plötzliche nasse Schock weckte mich, brachte mich zur Oberfläche zurück. Ich wischte den Tropfen weg.
»Regnet es? Ich dachte, hier regnet es nie.«
Kishan gab keine Antwort. Ein weiterer Tropfen fiel auf meine Stirn.
»Kishan?« Ich sah zu ihm hoch und erkannte, dass es kein Regen war, sondern Tränen. Bittere Tränen standen ihm in den goldenen Augen.
Überrascht hob ich eine Hand an seine Wange. »Kishan? Warum weinst du?«
Er lächelte schwach. »Ich hatte geglaubt, du wärst verloren, Kells.«
»Oh.«
»Erzähl. Was hast du gesehen, dass du so erschreckend weit weg warst? War es Ren?«
»Nein. Ich habe nichts gesehen. Meine Träume waren von kalter Schwärze erfüllt. Ich denke, er ist tot.«
»Nein. Das glaube ich nicht, Kells. Ich habe Ren in meinen Träumen gesehen.«
Lebenskraft durchflutete meinen zusammengesunkenen Körper. »Du hast ihn gesehen? Bist du sicher?«
»Ja. Wir haben uns auf einem Boot gestritten.«
»Könnte es sich um eine Erinnerung aus der Vergangenheit handeln?«
»Nein. Wir waren auf einer Jacht. Um ehrlich zu sein, es war unsere Jacht.«
Ich setzte mich aufrecht hin. »Bist du absolut, hundertprozentig sicher, dass es in der Zukunft geschieht?«
»Ja.«
Ich umarmte ihn stürmisch und drückte ihm unzählige Küsse auf Wangen und Stirn. Jeder Kuss wurde von einem »Danke! Danke! Danke!« begleitet.
»Warte, Kells. Die Sache ist die: In meinem Traum haben wir uns gestritten, weil …«
Ich lachte, packte sein Hemd und schüttelte ihn sanft, benommen vor köstlicher Erleichterung. Er ist am Leben! »Es interessiert mich nicht, warum ihr euch gestritten habt. Ihr zwei streitet doch andauernd.«
»Aber ich denke, ich sollte dir erzählen …«
Ich hüpfte von seinem Schoß und hastete durch den Traumhain, sammelte in Windeseile unsere Habseligkeiten auf. »Das kannst du mir später erzählen. Jetzt ist keine Zeit. Wir müssen los. Worauf wartest du? Es gilt, einen Tiger zu retten. Komm schon. Komm!«
Ungezügelte Energie ließ mich wie ein Aufziehmännchen umherflitzen. Eine fieberhafte, verzweifelte Entschlossenheit hatte sich meiner Gedanken bemächtigt. Jede Minute, die wir ungenutzt verstreichen ließen, bedeutete unnötige qualvolle Schmerzen für die Person, die ich liebte. Mein Besuch bei Ren war real gewesen. Ich hätte mir keine neuen Worte auf Hindi ausdenken können, insbesondere nicht den Kosenamen, mit dem sein Vater seine Mutter angesprochen hatte. Ich musste tatsächlich bei ihm gewesen sein. Ich hatte ihn berührt, ihn geküsst. Etwas hatte unsere Verbindung durchtrennt, aber er war immer noch am Leben! Er konnte gerettet werden. Und er würde gerettet werden! Immerhin hatte Kishan die Zukunft gesehen!
Die Sylphen bereiteten uns ein üppiges Frühstück, doch wir baten sie, es uns einzupacken, verabschiedeten uns rasch und eilten zurück zum Geistertor. Es kostete uns zwei Tage schonungsloses Wandern, bis wir anhand der Wegbeschreibung der Sylphen das Tor erreichten. Kishan war ungewöhnlich schweigsam auf der Reise, und ich war zu sehr mit der Rettung von Ren beschäftigt, um seiner Verschlossenheit auf den Grund zu gehen.
Als wir das Tor endlich erreichten, bat ich das Göttliche Tuch, uns neue Winterkleidung herzustellen, und nachdem wir uns umgezogen hatten, beschwor ich meine Blitzenergie herauf und legte die Hand in die geschnitzte Vertiefung neben dem Tor. Meine Haut glühte, wurde durchsichtig und pink, während sich das Tor flimmernd öffnete. Kishan und ich sahen uns an, und mit einem Schlag erfüllte mich Traurigkeit – es fühlte sich wie ein Abschied an. Kishan zog einen Handschuh aus, drückte mir seine warme Handfläche auf die Wange und betrachtete eingehend und ernst mein Gesicht. Lächelnd umarmte ich ihn.
Eigentlich hätte die Umarmung ganz kurz und harmlos sein sollen, aber er zog mich fest an sich. Plump entwand ich mich seinen Armen, streifte die Handschuhe über und trat durch das Tor in einen sonnigen Tag auf dem Mount Everest. Meine Winterstiefel knirschten auf dem weißen, funkelnden Schnee, während Kishan mir durch das Tor folgte und sich in den schwarzen Tiger verwandelte.