5

Rückkehr

Bei Rens Berührung waren alle Gefühle, die ich so verzweifelt zurückgedrängt hatte, jäh durch meinen Körper pulsiert und hatten meine Leere gefüllt. Wie dem Grinch war mir mein Herz zwei Nummern zu klein.

Ich spürte, wie ich vor neuer Energie sprühte und wuchs. Ren war die Sonne, und die Zärtlichkeit, die er mir angedeihen ließ, war lebensspendendes Wasser. Ein abgestorbener Teil von mir erwachte zu neuem Leben, streckte lange, wurzelgleiche Finger aus, entrollte dicke grüne Blätter und ließ krause Ranken herausschießen, die uns aneinanderketteten.

Sarah rief mich aus der Küche, was mir schlagartig ins Gedächtnis brachte, dass es eine Welt außerhalb von uns beiden gab. »Kelsey? Kelsey? Wer ist es?«

Zurück in der Realität wich ich einen Schritt zurück. Er ließ mich gehen, strich jedoch mit der Hand an meinem Arm herab und verschränkte seine Finger mit meinen. Ich war sprachlos. Mein Mund öffnete sich für eine Antwort, aber ich brachte kein einziges Wort heraus.

Ren spürte meine Not und kündigte unser Kommen an. »Verzeihung, Mr. und Mrs. Neilson?«

Mike und Sarah erstarrten mitten in der Bewegung, als sie ihn sahen. Ren lächelte auf seine umwerfende Art und streckte ihnen die Hand entgegen.

»Hallo. Ich bin Mr. Kadams Enkel, Ren.«

Er schüttelte erst Mike herzlich die Hand und dann Sarah. Als Ren ihr zulächelte, errötete sie, nervös wie ein Schulmädchen. Ich war erleichtert, dass ich nicht die einzige Frau war, die in seiner Gegenwart völlig den Verstand verlor. Er schien diese Wirkung auf Frauen jeglichen Alters zu haben.

»Huch, Ren«, sagte Mike. »Das ist ja ein Zufall. Kelsey, hieß nicht dieser Tiger …«

»Äh, ja. Lustig, nicht wahr?« Ich sah zu Ren hoch und bohrte ihm den Daumen in die Hand.

»Ren ist eigentlich nur sein Spitzname. Sein richtiger Name ist … Al.« Ich stieß ihm leicht gegen den Arm. »Nicht wahr, Al?«

Seine Augenbrauen zogen sich vor amüsierter Verwunderung zusammen. »Genau, Kelsey.« Er wandte sich wieder an Mike und Sarah. »Eigentlich lautet er Alagan, aber Sie können mich Ren nennen. Das tut jeder.«

Sarah hatte ihre Fassung wiedergewonnen. »Na schön, Ren. Kommen Sie bitte herein.«

Er warf ihr erneut ein betörendes Lächeln zu und sagte: »Liebend gerne.«

Sarah entfuhr ein leises Kichern, und sie strich sich verlegen mit der Hand durchs Haar. Ren bückte sich und hob mehrere Päckchen auf, die er neben der Tür abgestellt hatte, sodass ich die Gelegenheit nutzen konnte und geradewegs ins Wohnzimmer hastete.

Während Mike Ren behilflich war, kam Sarah zu mir und flüsterte: »Kelsey, wann habt ihr zwei euch kennengelernt? Für einen Moment habe ich gedacht, dass mir endlich Li vorgestellt wird. Was ist los?«

Ich starrte zum Weihnachtsbaum und murmelte: »Das würde ich auch gerne wissen.«

Die Männer betraten das Wohnzimmer, wo Ren seinen anthrazitgrauen Fischgrät-Mantel auszog und ihn über einen Stuhl hängte. Er trug ein langärmeliges graues Poloshirt, das sich eng an seine Brust und seine Arme schmiegte.

»Wer ist Li?«, fragte Ren.

Mir fiel die Kinnlade herunter. »Wie hast du …« Ich klappte rasch den Mund zu. Für einen Moment hatte ich sein außerordentlich gutes Tigergehör vergessen. »Li ist … äh … ein Junge …, den ich kenne.«

Sarah hob die Augenbrauen, sagte jedoch kein Wort.

Ren beobachtete mich eindringlich, wartete höflich ab, bis ich mich gesetzt hatte und ließ sich dann neben mir auf dem Sofa nieder. Sobald er saß, stürzten sich die Kids auf ihn.

»Ich habe ein Geschenk für euch zwei«, sagte er verschwörerisch zu Rebecca und Sammy. »Könnt ihr es gemeinsam aufmachen?«

Die Kids nickten mit ernster Miene, und er schob ihnen lachend eine große Schachtel zu. Sie rissen sie hektisch auf und zogen eine Gesamtausgabe der Bücher von Dr. Seuss heraus. Auf den ersten Blick kamen mir die Bücher irgendwie sonderbar vor, dann nahm ich eines in die Hand, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen.

»Du hast Erstausgaben gekauft!«, raunte ich ihm zu. »Für Kinder? Jedes einzelne kostet wahrscheinlich mehrere Tausend Dollar!«

Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und beugte sich zu mir. »Ich habe dir genau dieselbe Werkausgabe besorgt. Kein Grund zur Eifersucht.«

Mein Gesicht lief knallrot an. »Das habe ich nicht gemeint.«

Er lachte und hob das nächste Geschenk auf. Mike warf immer wieder verstohlene Blicke aus dem Fenster auf Rens Wagen.

»Ren, wie ich sehe, fahren Sie einen Hummer.«

Ren sah zu Mike. »Ja.«

»Denken Sie, Sie könnten mich irgendwann auf eine Spritztour mitnehmen? Ich wollte schon immer mal in einem Hummer fahren.«

Ren rieb sich das Kinn. »Sicher, aber heute leider nicht. Ich muss mich erst noch in meinem neuen Zuhause einrichten.«

»Oh … Sie wollen eine Weile bleiben?«

»Das ist der Plan, zumindest für dieses Trimester. Ich habe mich für ein paar Kurse an der Western Oregon eingeschrieben.«

»Nun, das ist toll. Dann werden Sie mit Kelsey an derselben Uni studieren.«

Ren grinste. »Ja, das stimmt. Vielleicht werden wir uns dort hin und wieder zufällig über den Weg laufen.«

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht wandte Mike seine Aufmerksamkeit wieder dem Auto zu. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber innerlich brodelte ich vor Fragen.

Was denkt er sich dabei? Hierzubleiben? Wo? Mit mir zur Uni zu gehen? Was soll ich nur tun? Warum ist er hier?

Ren schob Sarah und Mike ein großes Geschenk zu. »Das ist für Sie beide.«

Mike half Sarah beim Auspacken, und sie zogen eine brandneue Küchenmaschine mit jedem nur erdenklichen Schnickschnack heraus. Es hätte mich nicht überrascht, hätte man mit dem Teil Eisskulpturen schnitzen können. Sarah begann aufgeregt darüber zu reden, welche weizenfreien Backkreationen sie von nun an zaubern könnte.

Ren nahm ein kleineres Paket und reichte es mir. »Das ist von Mr. Kadam.«

Ich öffnete es und fand eine ledergebundene Ausgabe von Mahaˉbhaˉrata aus Indien, Die Geschichte der Drei Reiche aus China und Genji Monogatari aus Japan vor, alle in englischer Übersetzung. Außerdem war ein kurzer Brief mit Weihnachtswünschen beigelegt. Ich strich mit der Hand über die Ledereinbände und machte mir eine Notiz im Geiste, ihn später anzurufen, um ihm zu danken.

Ren überreichte mir ein weiteres Geschenk. »Das hier ist von Kishan.«

Sarah schaute von ihrem Mixer auf und fragte: »Wer ist Kishan?«

Ren erwiderte: »Kishan ist mein jüngerer Bruder.«

Sarah bedachte mich mit einem mütterlichen Blick der Verzweiflung, woraufhin ich nur betreten mit den Schultern zuckte. Ich hatte Ren und Kishan mit keiner Silbe erwähnt, und sie wunderte sich wahrscheinlich, wie ich jemanden wie Ren hatte vergessen können.

Ich öffnete die Schachtel, die eine kleine Schmuckschatulle von Tiffany enthielt, darin eine dünne Kette aus Weißgold. Die Karte war in sorgfältiger Handschrift verfasst:

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Ich legte die Halskette beiseite und wühlte in der Schachtel. Ein kleiner Gegenstand war in ein Taschentuch gewickelt. Als ich es aufrollte, fiel mir eine kalte, metallene Dose in die Hand. Ein Pfefferspray. Darauf hatte Kishan das Bild eines Tigers geklebt, dessen Kopf ein durchgestrichener roter Kreis zierte. »Anti-Tiger-Spray« stand in großen schwarzen Buchstaben darüber.

Ich kicherte, und Ren nahm mir das Geschenk aus der Hand. Nachdem er das Etikett gelesen hatte, runzelte er die Stirn und warf die Dose zurück in die Schachtel. Dann bückte er sich und hob ein weiteres Päckchen hoch.

»Das ist von mir.«

Bei seinen Worten wurde ich schlagartig ernst. Ich blickte rasch auf, um in Mike und Sarahs Gesichtern zu lesen. Mike schien meine Anspannung völlig zu entgehen, Sarah hingegen war feinfühliger und beobachtete mich eindringlich. Ich schloss für einen Moment die Augen und flehte, dass, egal was in der Schachtel war, es keine Million Fragen nach sich ziehen würde.

Ich glitt mit den Fingern unter das schwere Geschenkpapier und riss es auf. Als ich die Hand in die Schachtel steckte, ertastete ich glattes, poliertes Holz. Die Kids halfen mir, den Karton herauszuziehen. Im Innern befand sich eine handgeschnitzte Schmuckschatulle.

Ren beugte sich zu mir. »Öffne sie.«

Nervös strich ich mit der Hand über den Deckel und öffnete ihn. Das Innere bestand aus mehreren winzigen Fächern, die mit weichem Samt ausgeschlagen waren und in denen sich mehrere Haarbänder befanden.

»Hier sind auch Schubladen.« Er öffnete die oberste und dann die nächste. Insgesamt gab es fünf Schubladen, in denen jeweils ungefähr vierzig Haargummis aufgereiht lagen.

»Kein Haargummi gleicht dem anderen. Jede Farbe ist anders, und sie stammen alle aus unterschiedlichen Ländern.«

Fassungslos sagte ich: »Ren … Ich …«

Ich blickte auf. Mike schien nichts Außergewöhnliches an dem Geschenk zu finden. Wahrscheinlich glaubte er, dass so etwas jeden Tag verschenkt wurde. Sarah betrachtete Ren mit neuen Augen. Ihr misstrauischer, besorgter Gesichtsausdruck war verschwunden. Mit einem wohlwollenden Lächeln sagte sie: »Nun, Ren, wie es scheint, kennen Sie Kelsey ziemlich gut. Sie liebt ihre Haargummis heiß und innig.« Unvermittelt räusperte sich Sarah, erhob sich, zog Mike hoch und bat uns, auf die Kids aufzupassen, weil sie kurz laufen gehen wollten. Sie brachten uns zwei Becher mit dampfender, heißer Schokolade und verschwanden nach oben, um sich ihre Joggingklamotten anzuziehen. Obwohl sie normalerweise jeden Tag trainierten, machten sie an Weihnachten immer eine Ausnahme. Will sie mir und Ren etwas Zeit für uns allein geben? Ich war nicht sicher, ob ich sie umarmen sollte oder anflehen zu bleiben.

Die Schatulle lag immer noch in meinem Schoß, und ich spielte geistesabwesend mit einem Haarband, als sie winkend an uns vorbeijoggten.

Ren berührte meine Hand. »Sie gefällt dir nicht?«

Ich blickte in seine blauen Augen und sagte heiser: »Es ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.«

Ein strahlendes Lächeln schlich sich auf seine Gesichtszüge, er nahm meine Hand und drückte einen sanften Kuss auf meine Finger. Dann drehte er sich zu den Kindern um und fragte: »Wer möchte eine Geschichte hören?«

Rebecca und Sammy suchten ein Buch aus und kletterten auf Rens Schoß. Er legte je einen Arm um ihre Schultern und las mit lebhafter Stimme vor: »Jack. Jack. Jetzt kommt Jack. Magst du Grünes Ei mit Speck?«

Er stolperte über kein einziges Wort und wieder einmal war ich davon beeindruckt, wie gut er Englisch sprach.

Ren überredete Sammy, dass er das Buch für ihn hielt, und zog mich mit seinem freien Arm näher an sich, sodass nun mein Kopf an seiner Schulter lehnte. Dann streichelte er mir liebevoll über den Arm.

Als Mike und Sarah zurückkamen, schoss ich vom Sofa hoch und sammelte meine Sachen ein wie eine Frau, die aus einem brennenden Haus flüchtet. Nervös blickte ich zu Ren, der mich mit leicht amüsierten Augen unverwandt beobachtete. Mike und Sarah dankten uns und halfen mir, meine Geschenke ins Auto zu laden. Ren verabschiedete sich ebenfalls und wartete draußen auf mich.

Sarahs Blick bedeutete ganz offensichtlich, dass sie in naher Zukunft eine Erklärung erwartete. Dann schloss sie die Haustür und überließ uns dem kalten Dezemberwetter. Wir waren endlich allein.

Ren schlüpfte aus einem Handschuh und fuhr mein Gesicht mit seinen warmen Fingerspitzen nach.

»Fahr nach Hause, Kells. Stell mir jetzt keine Fragen. Das ist nicht der richtige Ort. Später haben wir genügend Zeit.«

»Aber …«

»Später, Rajkumari.« Er zog sich seinen Handschuh wieder an und ging zu seinem Hummer.

Wann hatte er Autofahren gelernt? Ich wendete den Wagen und beobachtete den Hummer im Rückspiegel, bis ich in eine Seitenstraße bog und er außer Sicht war.

Unzählige Fragen hämmerten auf meinen Verstand ein, und ich ging die Liste auf dem Weg den Hügel hinauf durch. Die Straße war ein wenig vereist. Ich schob die bohrenden Fragen beiseite und konzentrierte mich aufs Fahren.

Als ich die letzte Kurve genommen hatte und mein Haus sah, spürte ich augenblicklich, dass etwas anders war. Es kostete mich einen Moment, um den Grund auszumachen: An den Fenstern der anderen Haushälfte waren Vorhänge angebracht. Jemand war eingezogen.

Ich parkte den Wagen in der Garage und ging zur Nachbartür. Ich klopfte, doch niemand antwortete. Als ich den Knauf drehte, war die Tür unverschlossen. Diese Hälfte war ähnlich eingerichtet wie meine, allerdings in dunkleren, männlicheren Farben. Mein Blick fiel auf die alte Mandoline, die auf der Ledercouch lag, und die an mir nagende Vermutung wurde bestätigt. Ren war eingezogen.

Ich durchschritt die Küche, fand die Vorratskammer und den Kühlschrank leer vor und sah, dass die unter Hälfte der Hintertür mit einer riesigen Katzenklappe ausgestattet war.

Hmm … da haben Einbrecher aber leichtes Spiel. Sie müssen nur hereinkriechen. Auch wenn dann wohl eine Überraschung auf sie wartet …

Ich hastete zurück in mein Haus und schloss die Tür hinter mir, ohne mir die Mühe gemacht zu haben, mich drüben im ersten Stock umzusehen oder im Wandschrank nach Designerklamotten zu suchen, die sicherlich dort hingen. Ren war mein neuer Nachbar, davon war ich überzeugt.

Und genau in dem Moment, als ich aus meinen Schuhen und meinem Mantel schlüpfte, hörte ich ein Geräusch die Auffahrt heraufkommen, das nur von einem Hummer stammen konnte. Ich beobachtete Ren vom Fenster aus. Er war ein guter Fahrer. Mühelos gelang es ihm, das riesige Ungetüm zwischen den herabhängenden Zweigen hindurchzumanövrieren, die ihm ansonsten womöglich den Lack zerkratzt hätten. Er parkte den Wagen in der anderen Garage, und ich hörte das Knirschen seiner Stiefel auf dem gefrorenen Weg zu meiner Haustür.

Ich hatte nicht abgesperrt, ging ins Wohnzimmer und setzte mich mit verschränkten Armen, die Beine untergeschlagen, in meinen Lehnstuhl. Ich wusste, dass dies als klassische Abwehrhaltung gedeutet werden könnte, aber es kümmerte mich nicht.

Er schloss die Tür hinter sich, zog seinen Mantel aus und hängte ihn in den Garderobenschrank, bevor er um die Ecke ins Wohnzimmer gebogen kam. Für den Bruchteil einer Sekunde suchte er in meinem Gesicht, strich sich mit der Hand durchs Haar und ließ sich dann mir gegenüber nieder. Sein Haar war länger als damals in Indien. Seidenweiche schwarze Strähnen fielen ihm in die Stirn, und er schob sie nervös zur Seite. Er sah schwerer und muskulöser aus als in meiner Erinnerung. Er isst besser als früher.

Eine Weile starrten wir uns schweigend an.

Schließlich sagte ich: »Nun …, du bist also mein neuer Nachbar.«

»Ja.« Er seufzte hörbar. »Ich musste dich einfach wiedersehen.«

»Dafür hast du aber lange gebraucht.«

»Ich habe versucht, deine Wünsche zu respektieren. Ich wollte dir Zeit zum Nachdenken geben. Damit du dir klar wirst. Auf dein … Herz hörst.«

Ich hatte nicht mehr auf mein Herz gehört, seit ich neben Ren in Kishkindha aufgewacht war. Schon vor Monaten hatte ich mein Herz verschlossen.

»Oh. Das heißt also, deine Gefühle haben sich nicht … geändert?«

»Meine Gefühle sind stärker als je zuvor.«

Seine blauen Augen erforschten mein Gesicht. Er schob sich das Haar aus den Augen und beugte sich vor. »Kelsey, jeder Tag, den du nicht bei mir warst, war eine einzige Qual. Deine Abwesenheit hat mich in den Wahnsinn getrieben. Hätte Mr. Kadam mich nicht jede Minute auf Trab gehalten, wäre ich dir noch in derselben Woche nachgeflogen. Jeden Tag habe ich seinen Unterricht geduldig über mich ergehen lassen, aber ich war nur sechs Stunden Mensch. Als Tiger habe ich einen Pfad in meinen Schlafzimmerteppich getreten von all dem stundenlangen Im-Kreis-Laufen. Kadam hätte sich beinahe ein Betäubungsgewehr geschnappt. Ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Ich war rastlos, ein wildes Tier ohne … sein Weibchen.«

Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her.

»Ich habe Kishan angefleht, ich müsste trainieren, um meine Kampfkunst wiederzuerlangen. Wir haben ununterbrochen gekämpft, sowohl in Menschen- als auch in Tigergestalt. Wir haben mit Waffen, Klauen, Zähnen und bloßen Händen trainiert. Ohne das Kämpfen mit ihm wäre ich wahrscheinlich durchgedreht. Ich bin jeden Abend blutig, todmüde und erschöpft auf meinen Teppich gefallen. Und trotzdem habe ich … dich immer noch gespürt.

Du warst auf der anderen Seite der Welt, aber ich bin mit deinem Geruch aufgewacht. Ich habe mich nach dir verzehrt, Kells. Egal, wie sehr mich Kishan in die Mangel genommen hat, es konnte den Schmerz über deinen Verlust nicht überdecken. Ich habe von dir geträumt und den Arm nach dir ausgestreckt, konnte dich aber nie berühren. Kadam hat mir ständig weismachen wollen, dass es so am besten wäre und ich unzählige Dinge lernen müsste, bevor ich nach Oregon fahre. Vermutlich hatte er recht, doch ich wollte es nicht hören.«

»Aber wenn du bei mir sein wolltest … Warum hast du dann nicht angerufen?«

»Das wollte ich. Es war grauenvoll, jede Woche deine Stimme zu hören, wenn du Mr. Kadam angerufen hast. Ich habe immer in der Nähe gewartet, in der vergeblichen Hoffnung, dass du mit mir sprechen willst, was jedoch nie eintrat. Ich wollte dich nicht bedrängen. Ich wollte deine Wünsche respektieren. Ich wollte, dass es deine Entscheidung bleibt.«

Welche Ironie des Schicksals! So viele Male hatte ich nach ihm fragen wollen, mich aber nicht getraut.

»Du hast unsere Gespräche belauscht?«

»Ja. Ich habe ein vorzügliches Gehör.«

»Aber was … hat sich verändert? Warum bist du jetzt gekommen?«

Ren lachte höhnisch. »Im Grunde ist es Kishans Werk. Eines Tages während unseres Trainings ist er um mich herumgegangen und hat mich von oben bis unten gemustert. Ich habe dort gestanden und gewartet, dass er den Kampf wieder aufnimmt. Dann hat er mit der Faust ausgeholt und mir, so fest er konnte, einen Kinnhaken versetzt.

Ich habe einfach dort gestanden und es über mich ergehen lassen, habe mich nicht verteidigt. Als Nächstes hat er mir, so fest er konnte, in den Magen geboxt. Ich taumelte, fing mich und stellte mich wieder vor ihm auf, vollkommen gleichgültig. Verärgert hat er mich angeschrien.«

»Was hat er gesagt?«

»Viele Dinge, die ich größtenteils lieber nicht wiederholen möchte. Die Quintessenz war, dass ich mich endlich zusammenreißen müsste. Denn wenn ich so unglücklich war … Warum tat ich dann nichts dagegen?«

»Oh.«

»Er hat mich verspottet, mir gesagt, dass der mächtige Prinz des Mujulaainischen Königreichs und Höchste Protektor des Volkes, der Held der Schlacht der Hundert Pferde, der stolze Thronfolger, von einem jungen Mädchen zu Fall gebracht worden sei. Er meinte, es gäbe nichts Erbärmlicheres als einen sich selbst bemitleidenden Tiger, der seine Wunden leckt.

Als er mir schließlich vorwarf, dass unsere Eltern sich für mich schämen würden, war das der Moment, an dem ich eine Entscheidung traf.«

»Die Entscheidung, hierherzukommen.«

»Ja. Ich musste in deiner Nähe sein. Selbst wenn alles, was du wolltest, nur Freundschaft wäre, wäre ich damit glücklicher als ohne dich in Indien.«

Ren stand auf, kniete sich vor mich und nahm meine Hand. »Ich traf den Entschluss, mich dir vor die Füße zu werfen und dich anzuflehen, Erbarmen mit mir zu haben. Ich werde akzeptieren, was auch immer du entscheidest. Aber schick mich nur nicht wieder fort. Denn … ohne dich kann ich nicht leben.«

Wie sollte ich da standhaft bleiben? Rens Worte überwanden den mickrigen Wall um mein Herz. Eigentlich hatte ich einen mächtigen Stacheldrahtzaun erbauen wollen, aber die Drahtspitzen waren weich wie Marshmallows, und er schlüpfte mühelos durch meinen Schutzschild. Ren drückte seine Stirn in meine Handflächen, und mein butterweiches Herz schmolz dahin.

Ich schlang ihm die Arme um den Hals, zog ihn an mich und flüsterte ihm ins Ohr: »Ein indischer Prinz sollte niemals auf die Knie fallen und um etwas bitten müssen. Also schön. Du kannst bleiben.«

Er seufzte und umarmte mich fester.

Ich grinste. »Ich will doch nicht, dass PETA mich wegen der Misshandlung eines Tigers verklagt.«

Er lachte leise. »Warte genau hier«, sagte er und ging durch die Tür, die unsere beiden Häuser verband. Zurück kam er mit einem Geschenk, das mit einer roten Schleife verpackt war.

Die Schachtel war lang, dünn und schwarz. Ich öffnete sie, und ein Armband kam zum Vorschein. An dem filigranen Kettchen hing ein ovales Medaillon aus Weißgold. Darin befanden sich zwei Bilder: Ren, der Prinz, und Ren, der Tiger.

Ich lächelte. »Du wusstest, dass ich mich auch an den Tiger erinnern möchte.«

Seufzend legte mir Ren das Armband ums Handgelenk. »Ja, obwohl ich etwas eifersüchtig auf ihn bin. Er darf so viel mehr Zeit mit dir verbringen als ich.«

»Hm. Nicht mehr so viel wie früher. Ich vermisse ihn.«

Er verzog das Gesicht. »Glaub mir, in den kommenden Wochen wirst du noch sehr viel von ihm zu sehen bekommen.«

Seine warmen Finger strichen über meinen Arm, und mein Puls hämmerte. Er hob meinen Arm auf Augenhöhe, inspizierte den Anhänger und drückte mir einen Kuss auf die Innenseite des Handgelenks. In Rens Augen funkelte der Schalk. »Gefällt es dir?«

»Ja. Vielen Dank. Aber …« Ich biss mir auf die Lippe. »Ich habe nichts für dich.«

Er zog mich an sich und schlang mir die Arme um die Taille. »Du hast mir das beste Geschenk der Welt gemacht. Du hast mir den heutigen Tag geschenkt.«

Ich lachte. »Nur das mit dem Einpacken hat nicht so gut geklappt.«

»Hm, du hast recht. Das sollten wir nachholen.«

Ren schnappte sich von der Sessellehne die Steppdecke meiner Großmutter und wickelte mich wie eine Mumie ein. Ich trat kreischend um mich, als er mich hochhob und auf seinen Schoß setzte.

»Lass uns gemeinsam etwas lesen, Kells. Ich hätte Lust auf ein weiteres Shakespeare-Drama. Ich habe versucht, alleine eines zu lesen, aber ich hatte Schwierigkeiten, die Wörter korrekt auszusprechen.«

Geräuschvoll räusperte ich mich aus meinem Kokon heraus. »Wie du sehen kannst, lieber Entführer, sind meine Arme gebunden.«

Ren beugte sich herab, um mein Ohr zu liebkosen, da erstarrte er jäh. »Jemand ist hier.«

Es klingelte an der Tür. Ren sprang auf, stellte mich auf die Füße und wirbelte mich aus der Decke, bevor ich auch nur blinzeln konnte. Einen verwirrten Moment lang war mir schwindelig. Dann schoss mir die Schamesröte ins Gesicht.

»Was ist mit deinem Tigergehör los?«, fauchte ich ihn an.

Er grinste. »Ich war abgelenkt, Kells. Das kannst du mir schlecht vorwerfen. Erwartest du jemanden?«

Wie ein Schlag traf es mich. »Li!«

»Li?«

Ich verzog das Gesicht. »Wir haben ein … Date.«

Rens Augen verdunkelten sich, und er wiederholte leise: »Ein Date?«

»Ja …«, sagte ich zögerlich.

Meine Gedanken überschlugen sich. Ren ist zurück, aber was bedeutet das? Was soll ich jetzt nur tun?

Es klingelte ein zweites Mal. Zumindest eines wusste ich: Ich konnte Li nicht einfach dort draußen stehen lassen.

Mit einer raschen Drehung sagte ich zu Ren: »Ich muss jetzt gehen. Bleib bitte hier. Im Kühlschrank gibt es genug, damit du dir ein Sandwich machen kannst. Ich komme später wieder. Hab bitte Geduld. Und sei … nicht … sauer

Ren verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich mit schmalen Augen an. »Wenn das dein Wunsch ist, werde ich ihn dir erfüllen.«

Ich seufzte vor Erleichterung. »Vielen Dank. Ich komme sobald wie möglich zurück.«

Hastig schlüpfte ich in meine Schuhe und nahm die eingepackte DVD-Box, die ich für Li gekauft hatte. Schweigend half mir Ren in den Mantel und schlich dann in die Küche. Mit verschränkten Armen und hochgezogenen Augenbrauen lehnte er an der Arbeitsplatte. Ich warf ihm ein schwaches, flehentliches Lächeln zu und eilte zur Haustür.

Der Anflug eines schlechten Gewissens traf mich, weil ich ein Geschenk für Li und keines für Ren hatte, aber ich schob den Gedanken rasch beiseite und riss die Tür auf, als wäre nichts vorgefallen. »Hi, Li.«

»Frohe Weihnachten, Kelsey«, sagte Li, der nicht ahnte, dass mein Leben mit einem Schlag völlig auf den Kopf gestellt worden war.

Mein Date mit Li verlief nicht wie geplant. Eigentlich hatten wir erst einen Kung-Fu-Film anschauen und dann zu Grandma Zhi zum Weihnachtsessen gehen wollen. Ich war bedrückt, und meine Gedanken wanderten immer wieder zu Ren zurück. Es fiel mir schwer, mich auf Li zu konzentrieren – oder irgendetwas anderes.

»Was ist los, Kelsey? Du bist so still.«

»Li, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir den Film ausfallen lassen und gleich zu deiner Großmutter fahren? Ich muss noch telefonieren, wenn ich nach Hause komme. Du weißt schon, ein paar Freunden frohe Weihnachten wünschen.«

Li ließ sich von seiner Enttäuschung kaum etwas anmerken und sagte fröhlich wie immer: »Ja, klar. Kein Problem.«

Es war keine richtige Lüge. Ich wollte Mr. Kadam später wirklich anrufen. Aber trotzdem fühlte ich mich schlecht, unsere Pläne im letzten Moment einfach geändert zu haben.

Bei Grandma Zhi steckten die Jungs bereits mitten in einem Spielemarathon, der bereits seit dem frühen Morgen andauerte. Ich gesellte mich zu ihnen, war aber unkonzentriert und traf ständig schlechte Entscheidungen – so schlechte, dass selbst meine Mitspieler keinen Hehl daraus machten.

»Was ist heute Abend nur los mit dir, Kelsey?«, fragte Wen. »Normalerweise lässt du mich mit einem solchen Zug nicht durchkommen.«

Ich lächelte ihn an. »Keine Ahnung. Vielleicht der Weihnachtsblues.«

Ich verlor haushoch, weshalb mich Li an der Hand nahm und mich ins Wohnzimmer führte, damit wir dort unsere Geschenke auspackten. Wir tauschten unsere Päckchen aus, rissen das Papier auf und brachen in schallendes Gelächter aus. Wir hatten einander genau das gleiche Geschenk gekauft. Es tat gut, lachend einen Teil der Anspannung abzuschütteln.

»Wie es scheint, mögen wir beide Kung-Fu-Filme«, kicherte Li.

»Es tut mir leid, Li. Ich hätte mir mehr Mühe geben müssen.«

Er lachte immer noch. »Das macht doch gar nichts. Es ist ein gutes Zeichen. Grandma Zhi würde sagen, dass es in der chinesischen Kultur Glück bedeutet. Es bedeutet, dass wir zusammenpassen.«

»Ja«, sagte ich nachdenklich. »Vielleicht.«

Nach dem Essen gingen wir zurück zu den Jungs, und ich spielte mechanisch weiter, während ich über Lis Worte nachdachte. Er hatte in vielerlei Hinsicht recht. Wir passten zusammen und waren wahrscheinlich viel eher füreinander bestimmt als Ren und ich. Wie Sarah und Mike waren dies hier normale Menschen, eine normale Familie. Und Ren war es … nicht. Er war unsterblich und atemberaubend. Er war viel zu perfekt.

Es fiel mir nicht schwer, mir ein Leben mit Li auszumalen. Es wäre bequem und sicher. Er wäre Arzt und hätte eine Praxis in der Gegend. Wir würden zwei Kinder bekommen und die Ferien in Disneyland verbringen. Die Kids würden alle Wushu lernen und Fußball spielen. Die Feiertage würden wir bei seinen Großeltern verbringen und sonntags alle seine Freunde und ihre Frauen zum Barbecue zu uns einladen.

Sich ein Leben mit Ren vorzustellen, war schwieriger. Wir sahen nicht aus, als würden wir zusammengehören. Es war, als hätte man Ken mit der dicklichen Strawberry Shortcake verkuppelt. Dabei gehörte er doch zu Barbie. Was würde Ren in Oregon tun? Würde er sich einen Job suchen? Was würde er in seinen Lebenslauf schreiben? Höchster Protektor und ehemals Prinz? Würden wir uns eine Jahreskarte für einen Themenpark mit wilden Tieren zulegen, damit er die Hauptattraktion am Wochenende wäre? Nichts davon machte Sinn. Aber ich konnte meine Gefühle für Ren nicht verleugnen – nicht mehr.

Mir wurde schmerzlich bewusst, dass sich mein widerspenstiges Herz nach Ren verzehrte. Und egal wie sehr ich mir einzureden versuchte, dass ich mich in Li verlieben könnte, zog mich Ren wie ein Magnet zu sich. Ich mochte Li. Vielleicht könnte ich ihn eines Tages sogar lieben. Auf gar keinen Fall wollte ich ihn verletzen. Es war einfach nicht fair.

Was soll ich nur tun?

Nachdem ich mich eine weitere Stunde beim Spielen blamiert hatte, fuhr mich Li nach Hause. Es war früh am Abend, als er in meine Auffahrt bog. Ich suchte in den Fenstern nach einem vertrauten Schatten, sah jedoch nichts. Das Haus war dunkel.

»Spielen mir meine Augen einen Streich, oder hängt dort oben ein Mistelzweig?«, fragte Li und nahm meinen Ellbogen, als er mich zur Tür begleitet hatte.

Ich blickte zu dem Mistelzweig und erinnerte mich an meinen Entschluss, Li heute Abend zu küssen. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Jetzt hatte sich alles verändert. Oder nicht? Was ist mit Ren? Konnten wir wirklich nur Freunde sein? Sollte ich alles aufs Spiel setzen und es mit Ren riskieren? Oder die sichere Alternative mit Li wählen? Wie soll ich mich nur entscheiden?

Ich schwieg lange, und Li wartete geduldig auf meine Antwort. Schließlich drehte ich mich zu ihm und sagte: »Ja. Das ist ein Mistelzweig.«

Ich legte ihm die Hand auf die Wange und küsste ihn sanft auf die Lippen. Es war nett. Nicht der leidenschaftliche Kuss, den ich geplant hatte, aber ihm schien es trotzdem zu gefallen. Lis Berührung war schön. Sicher. Aber nichts im Vergleich zu dem, was ich fühlte, wenn Ren mich berührte. Lis Kuss war ein Staubkorn im Universum, ein Tropfen Wasser neben einem tosenden Wasserfall.

Wie soll man mit dem Mittelmaß leben, wenn man etwas so Außergewöhnliches kennengelernt hat? Wahrscheinlich tut man es einfach und lernt, die kostbaren Erinnerungen zu bewahren.

Ich drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Tür auf.

»Gute Nacht, Kelsey. Bis Montag!«, rief Li glücklich.

Ich sah ihm nach, bis er weggefahren war, und trat dann ins Haus, um mich dem indischen Prinzen zu stellen, der dort auf mich wartete.