20
Die Prüfung der
Vier Häuser
Fanindras smaragdgrüne Augen begannen zu glühen und spendeten genügend Licht, damit Kishan unsere Taschenlampen aus dem Rucksack fischen konnte. Zwei Meter vor uns befand sich ein weiterer Baumstamm, der so fest und massiv aussah wie der draußen – ein Baumstamm in einem Baumstamm. Zwischen den beiden Stämmen spannte sich eine Wendeltreppe in die Höhe. Kishan nahm meine Hand. Die Stufen waren breit genug, dass wir nebeneinander hergehen konnten, und tief genug, dass wir uns darauf hätten ausruhen können.
Ganz langsam stiegen wir die Wendeltreppe empor und legten häufig Pausen ein. Es war schwer zu sagen, wie weit wir gekommen waren. Nach mehreren Stunden stießen wir auf eine eigentümliche Tür. Sie war gelb-orange und uneben. Anstelle eines Knaufs gab es einen dicken hölzernen Ast. Ich spannte meinen Bogen, Kishan hielt seine Chakram kampfbereit. Er trat einen Schritt zur Seite, legte die Hand auf den Griff und stieß die Tür nach innen auf, während ich den Fuß in den Spalt schob und nach Angreifern Ausschau hielt. Niemand war zu sehen.
Das Zimmer war von unzähligen Regalen gesäumt, die in den Baum geschnitzt waren. Hunderte von Kürbissen in allen Formen und Größen bedeckten die Regale und den Boden. Einige waren ganz, andere ausgehöhlt. Viele hatten wunderschöne, kunstvoll gearbeitete Muster, ausgefallener als alles, was ich je zu Halloween gesehen hatte, und wurden von innen mit flackernden Kerzen erleuchtet.
Wir schritten ein Regal nach dem anderen ab, bewunderten die Kunstwerke. Ein paar waren bemalt und eingeölt, sodass sie wie Edelsteine funkelten. Kishan streckte den Arm nach einem aus.
»Nichts anfassen! Das ist eine Prüfung. Wir müssen herausfinden, was zu tun ist. Warte noch einen Moment, während ich Mr. Kadams Notizen überfliege.«
Mr. Kadam hatte uns drei Seiten mit Informationen über Kürbisse mitgegeben. Kishan und ich setzten uns auf den polierten Holzboden und lasen alles durch.
»Hier steht nur lauter Zeug darüber, wo die jeweiligen Kürbisarten herstammen und wann Seeleute Samen gesammelt haben, um sie in ihrer Heimat zu pflanzen«, sagte ich. »Es gibt einen Mythos über Kürbisschiffe. Das kann es wohl auch nicht sein.«
Kishan lachte. »Wie wäre es mit dem hier? Über Kürbisse und Fruchtbarkeit? Willst du es ausprobieren, Kells? Ich würde mich auch als Versuchsobjekt opfern, falls es sein muss.«
Ich überflog den Mythos und funkelte ihn finster an. »Ha! Träum weiter. Das kannst du vergessen.« Kishan lachte laut, und ich nahm die nächste Seite zur Hand. »Hier heißt es, man muss einen Kürbis ins Wasser werfen, um ein Seeungeheuer oder eine Meeresschlange heraufzubeschwören. Huch, die brauchen wir wahrscheinlich auch nicht.«
»Was ist mit dieser chinesischen Sage? Ein Junge, der mündig wird, muss einen Kürbis wählen, der daraufhin sein Leben lenkt. Einige sind gefährlich, andere nicht. In einem steckt sogar der Quell der ewigen Jugend. Vielleicht haben wir Glück. Vielleicht müssen wir nur einfach einen aussuchen.«
»Damit könntest du recht haben. Aber woher wissen wir, welchen wir nehmen sollen?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich müssen wir es ausprobieren. Ich fange an. Ziel auf alles, was dort herauskommt.«
Kishan wählte einen schlichten, glockenförmigen Kürbis. Nichts geschah. Er schüttelte ihn, warf ihn in die Luft und gegen die Wand … immer noch nichts.
»Ich werde versuchen, ihn zu zerbrechen.« Kishan schmetterte ihn auf den Boden, und eine Birne rollte heraus. Er schnappte sich die Frucht und biss hastig hinein, bevor ich ihn warnen konnte. Als er sich endlich zu mir umdrehte, war die Birne fast verschwunden. Er verwarf meine Warnung und sagte, die Frucht habe gut geschmeckt. Der aufgeplatzte Kürbis löste sich auf und versickerte im Boden.
»Okay, jetzt bin ich an der Reihe.« Ich nahm einen runden Kürbis mit Blumenmuster, hob ihn über den Kopf und knallte ihn auf den Boden. Eine zischende schwarze Schlange tauchte aus den zerbrochenen Teilen auf. Angriffslustig rollte sie sich zusammen und spuckte in meine Richtung. Noch bevor ich mich bewegen konnte, hörte ich ein metallisches Surren. Kishans Chakram sank vor meinen Füßen ins Holz und trennte den Kopf der Schlange ab. Der Körper des Tiers und der zertrümmerte Kürbis verschmolzen mit dem Boden.
»Du bist dran. Vielleicht ist es besser, sich an die schlichten Kürbisse zu halten.«
Er suchte sich einen flaschenförmigen Kürbis aus, der etwas hervorbrachte, das an Milch erinnerte. Ich mahnte Kishan zur Vorsicht, weil das Getränk womöglich nicht das war, wonach es aussah. Er gab mir recht, aber es stellte sich heraus, dass sich der nächste Kürbis nicht zerbrechen ließ, bevor wir es nicht tranken. Hastig kippte Kishan die Milch in einem Zug hinunter, und wir machten weiter.
Ich wählte einen riesigen weißen Kürbis und bekam Mondlicht.
Ein kleiner Kürbis mit Warzen brachte Sand hervor.
Ein großer, dünner Kürbis machte wunderschöne Musik.
Ein dicker grauer Kürbis von der Form eines Delfins spritzte eine Ladung Meerwasser über Kishans Bein.
Meine nächste Wahl fiel auf einen löffelförmigen Kürbis. Als er zerplatzte, stieg schwarzer Nebel auf und suchte mich. Erschrocken sprang ich beiseite, aber er folgte mir und versuchte, in meinen Mund und meine Nase einzudringen. Es gab nichts, was Kishan tun konnte. Ich atmete also den Nebel ein und musste husten. Mit einem Mal war meine Sicht verschwommen. Mir war schwindlig, und ich taumelte. Kishan fing mich auf.
»Kelsey! Du bist ganz blass! Wie geht es dir?«
»Nicht gut. Ich denke, das dort war eine Krankheit.«
»Hier. Leg dich hin und ruh dich aus. Vielleicht finde ich ein Heilmittel.«
In fieberhafter Hast knallte er Kürbisse auf den Boden. Ich zitterte und begann zu schwitzen. Ein Skorpion kam aus dem nächsten, und Kishan zertrampelte ihn mit dem Stiefel. Er fand einen Kürbis mit Wind, einen mit einem Fisch und einen, der einen kleinen Stern in sich trug, der so hell leuchtete, dass wir die Augen schließen mussten, bis das Licht verglüht war und der Stern im Boden versank.
Jedes Mal, wenn er eine Flüssigkeit fand, stürzte er zu mir und flößte sie mir ein. Ich trank Fruchtsaft, Wasser und bittere dunkle Schokolade. Ich weigerte mich, etwas zu trinken, das nach Wundbenzin roch, aber ich rieb es mir auf die Haut, damit sich der Kürbis auflöste.
Die nächsten drei enthielten Wolken, eine riesige Tarantel, die Kishan mit dem Fuß in die Zimmerecke kickte, und einen Rubin, den er sich in die Hosentasche steckte. In diesem Moment verlor ich völlig mein Augenlicht, und Kishans Verzweiflung nahm ungeahnte Ausmaße an. Der nächste Kürbis, den er aussuchte, brachte eine Art Pille hervor. Wir diskutierten, ob ich sie schlucken sollte oder nicht. Mir war schrecklich übel und ich fühlte mich schwach und fiebrig und schwitzte stark. Das Atmen fiel mir schwer, mein Herz raste. Ich geriet in Panik und war überzeugt, mein letztes Stündchen hätte geschlagen, würden wir nicht bald ein Gegenmittel finden. Ich kaute die Pille. Sie schmeckte wie eine Vitamintablette, änderte jedoch nichts an meinem Zustand.
Zwei weitere Kürbisse enthielten Käse und einen Ring. Kishan aß den Käse und steckte sich den Ring an den Finger. In der nächsten war eine weiße Flüssigkeit. Kishan war nervös. Es konnte sich um Gift handeln, das mich auf der Stelle tötete, ebenso gut wie um das Gegenmittel oder das Elixier der ewigen Jugend.
Ich winkte ihn zu mir. »Ich trinke es. Hilf mir.«
Er hob meinen Kopf und hielt den Kürbis schräg, damit sein Inhalt zwischen meine trockenen, aufgesprungenen Lippen rann. Die Flüssigkeit sickerte meine Kehle herab, als ich erschöpft schluckte. Mit einem Schlag spürte ich, wie meine Kraft zurückkehrte.
»Mehr.«
Er hielt den Kürbis fest umklammert, während ich trank. Die Flüssigkeit schmeckte köstlich und versorgte mich mit genügend Lebensenergie, dass ich den Kürbis selbst halten konnte. Beide Händen um den schüsselförmigen Kürbis, stürzte ich den Rest der Flüssigkeit mit zwei großen Schlucken hinunter. Ich fühlte mich kräftiger als vor dem Betreten des Zimmers.
»Du siehst viel besser aus, Kells. Wie geht es dir?«
Ich stand auf. »Ich fühle mich toll! Stark. Als wäre ich unverwundbar.«
Angespannt stieß er den Atem aus. »Gut.«
Mein Augenlicht war zurückgekehrt, und ich blickte mich im Zimmer um. Ich sah sogar noch schärfer als vorher. »Hey. Was ist das?«
Ich schob ein paar Kürbisse beiseite und packte eine große, runde Frucht an ihrem langen, dicken Stiel. »Da ist ein Tiger eingeritzt. Versuch den mal, Kishan.«
Er nahm ihn entgegen und knallte ihn auf den Boden. Im Innern befand sich ein gefaltetes Blatt Papier.
»Das ist ja wie ein Glückskeks! Was steht drauf?«
»Da steht – Das versteckte Gefäß zeigt den Weg.«
»Das versteckte Gefäß? Vielleicht ist damit ein versteckter Kürbis gemeint.«
»Ziemlich clever, einen Kürbis in einem Raum voller Kürbisse zu verstecken.«
»Hm. Lass uns nach Kürbissen suchen, die irgendwie sonderbar aussehen oder ganz hinten im Zimmer oder in den Ecken versteckt sind.«
Wir sammelten mehrere kleinere Kürbisse auf. Kishan hatte vielleicht zehn gefunden, ich vier. Er zerstörte seine Kürbisse zuerst, in der sich Reis, ein Schmetterling, eine Peperoni, Schnee, eine Feder, eine Lilie, etwas Baumwolle, eine Maus, noch eine Schlange, die wir unschädlich machten – sie konnte völlig ungefährlich sein, aber wir wollten auf Nummer sicher gehen – und ein Regenwurm befand.
Enttäuscht wandten wir uns meiner Auswahl zu. Im ersten steckte ein Faden, im zweiten das Geräusch von Trommeln, im dritten der Duft von Vanille, und der vierte, der wie ein kleiner Apfel geformt war, war leer. Wir warteten eine Minute und befürchteten schon, dass einer von uns wieder krank werden würde. Der zerbrochene Kürbis löste sich jedoch wie die anderen auf, und irgendetwas musste geschehen sein.
»Und jetzt? Hast du etwas gesehen?«
»Nein. Warte mal. Ich höre etwas.«
Nach einer weiteren Minute bohrte ich nach: »Und? Was ist es?«
»Irgendetwas ist anders im Zimmer, aber ich weiß nicht was. Warte. Die Luft! Sie bewegt sich. Spürst du das auch?«
»Nein.«
»Einen Augenblick.« Kishan kroch im Zimmer umher, untersuchte die Regale, Wände und Kürbisse. Er legte die Hand auf eine der Wände, lehnte sich dagegen und stieß Kürbisse um, die in alle Richtungen rollten.
»Hier kommt ein Luftzug durch. Ich denke, es ist eine Tür. Hilf mir, die Kürbisse wegzuräumen.«
Wir schoben die Kürbisse in die andere Ecke des Zimmers, bis nur noch leere Regalbretter zu sehen waren.
»Der hier lässt sich nicht bewegen. Er ist wie festgewachsen.«
Es war ein winziger Kürbis, der in der Wand verankert zu sein schien. Ich zog und zerrte, doch er bewegte sich keinen Zentimeter. Kishan ging einen Schritt zurück, um sich ein besseres Bild zu machen, und brach in Gelächter aus. Ich riss immer noch an dem kleinen Kürbis.
»Was ist los? Was gibt’s da zu lachen?«
»Komm mal her, Kells.«
Ich ging aus dem Weg, und er legte die Hand auf den Kürbis.
»Ich weiß nicht, was du beweisen willst. Er lässt sich nicht bewegen«, sagte ich.
Kishan drehte den Kürbis. »Es ist ein Türknauf, Kelsey.« Er lachte und drückte einen Teil der Wand auf, der genau wie eine Tür geformt war. Auf der anderen Seite warteten wieder Stufen auf uns, die hinauf in den Baum führten.
Kishan streckte die Hand aus. »Sollen wir?«
Ich seufzte. »In Zukunft wird Kürbiskuchen eine ganz andere Bedeutung für mich haben.«
Kishans Lachen hallte dumpf im Innern des Baumstamms wider.
Nach ein paar Stunden blieb Kishan stehen. »Lass uns hier eine Pause einlegen und etwas essen, Kells. Ich kann mit dir nicht Schritt halten. Mal sehen, wie lange dein Energy-Drink noch Wirkung zeigt.«
Ich blieb etwa zehn Stufen über ihm stehen und wartete, bis er mich eingeholt hatte. »Jetzt weißt du endlich, wie ich mich fühle, wenn ich immer euer Tiger-Tempo durchhalten muss.«
Mit einem Schnauben streifte er sich den Rucksack von den Schultern, bevor wir es uns auf einer der breiten Treppenstufen bequem machten. Er öffnete den Reißverschluss des Rucksacks, nahm die Goldene Frucht heraus und rollte sie nachdenklich zwischen seinen Händen. Nach einem kurzen Moment grinste er und sagte etwas in seiner Muttersprache. Ein großer Teller tauchte flirrend auf und materialisierte sich. Der Dampf, der von dem Gemüse aufstieg, roch vertraut.
Ich rümpfte die Nase. »Curry? Igitt. Jetzt bin ich dran.« Ich bestellte überbackene Kartoffeln, glasierten Schinken, grüne Bohnen in Mandel-Pesto und Brötchen mit Honigbutter. Als mein Abendessen erschien, beäugte Kishan es mit unverhohlenem Interesse.
»Sollen wir teilen?«
»Nein danke. Ich bin kein großer Curry-Fan.«
Hastig verschlang er sein Essen und versuchte unentwegt, mich mit imaginären Monstern abzulenken, damit er Bissen von meinem Teller stibitzen konnte. Schließlich lenkte ich ein und gab ihm die Hälfte ab.
Nach einer weiteren Stunde Treppensteigen schwanden meine Superkräfte. Ich fühlte mich zerschlagen. Kishan ließ mich ausruhen, während er nach dem nächsten Haus suchte. Als er zurückkehrte, schrieb ich gerade Tagebuch.
»Ich habe die nächste Tür gefunden, Kells. Komm weiter. Dort kannst du dich ausruhen.«
Die staubige Wendeltreppe im Stamm des Weltenbaums führte uns zu einer Hütte, die mit dichtem Efeu und Blumen bewachsen war. Klirrendes Lachen tönte aus dem Haus.
»Da sind Menschen«, flüsterte ich. »Wir sollten uns vorsehen.«
Mit einem Nicken löste Kishan die Chakram von seinem Gürtel, während ich den Bogen spannte.
»Bereit?«
Vorsichtig öffnete er die Tür, und wir wurden von den schönsten Frauen empfangen, die mir jemals zu Gesicht gekommen waren. Sie ignorierten unsere Waffen und hießen uns in ihrem Heim willkommen.
Eine atemberaubende Frau mit dichtem, welligem haselnussbraunem Haar, grünen Augen, elfenbeinfarbener Haut und kirschroten Lippen, die ein schimmerndes zartrosafarbenes Kleid trug, hakte sich bei Kishan ein. »Ihr Armen. Ihr müsst erschöpft sein von der Reise. Tretet ein. Ihr könnt ein wohltuendes Bad nehmen und euch von den Strapazen erholen.«
»Ein Bad hört sich gut an«, sagte ein entzückter Kishan.
Die Frau würdigte mich keines Blickes. Ihre Augen ruhten allein auf Kishan. Sie streichelte seinen Arm und raunte ihm etwas über weiche Kissen, heißes Wasser und Erfrischungen ins Ohr. Eine weitere Frau gesellte sich zu ihr. Sie war blond und blauäugig und trug ein silbrig funkelndes Kleid.
»Ja, komm«, säuselte sie. »Hier findest du Ruhe und Entspannung. Folge uns bitte.«
Sie wollten Kishan gerade fortführen, als ich entschieden aufbegehrte. Kishan drehte sich um, da näherte sich mir auch schon ein ein Meter neunzig großer Mann mit gebräunter Haut und muskulöser, nackter Brust, blauäugig und blond, der seine gesamte Aufmerksamkeit allein mir zuwandte.
»Hallo, willkommen in unserer bescheidenen Behausung. Es wäre wunderbar, wenn du eine Weile bei uns bleiben würdest.« Er warf mir ein umwerfendes Lächeln zu, und die Röte schoss mir augenblicklich in die Wangen.
»Äh«, stammelte ich. »Das ist sehr nett von dir.«
Kishan beäugte stirnrunzelnd den Mann, doch da umgarnten die Frauen ihn wieder mit ihren klimpernden Wimpern und lenkten ihn mit ihrem betörenden Charme ab.
»Äh, Kishan, ich denke nicht …«
Ein weiterer Mann trat hinter einem Vorhang hervor. Dieser sah sogar noch besser aus als der Erste. Er war schwarzhaarig mit dunklen Augen, und sein Mund zog mich völlig in seinen Bann. Traurig verzog er das Gesicht und sagte: »Bist du sicher, dass du nicht bei uns bleiben kannst? Nur ein kleines bisschen? Wir sehnen uns so sehr nach Gesellschaft.« Er seufzte theatralisch. »Das Einzige, womit wir uns die Zeit vertreiben können, ist unsere Bibliothek.«
»Ihr habt eine Bibliothek?«
»Ja.« Lächelnd bot er mir den Arm. »Darf ich sie dir zeigen?«
Kishan war mit den Frauen längst verschwunden, und ich entschied, dass ein Blick auf ihre Büchersammlung nicht schaden könnte. Immerhin konnte ich die Kerle mit meinem Blitz abwehren, sollten sie irgendetwas im Schilde führen.
Aber sie hatten tatsächlich eine Bibliothek und viele der Bücher, die ich liebte. Bei genauerem Hinsehen musste ich sogar feststellen, dass ich jeden einzelnen Titel kannte. Sie boten mir Erfrischungen an.
»Hier, koste eine dieser Tartes. Sie sind köstlich. Unsere Schwestern sind ausgezeichnete Köchinnen.«
»Oh. Äh, nein danke. Kishan und ich haben gerade gegessen.«
»Vielleicht möchtest du dich etwas frisch machen?«
»Habt ihr hier ein Bad?«
»Natürlich. Dort drüben hinter dem Vorhang. Zieh an der langen Liane, und Wasser wird von den Blättern des Baums herabregnen. Wir werden ein kleines Nachtmahl und einen bequemen Platz für dich zum Schlafen herrichten.«
»Vielen Dank.«
Ganz offensichtlich befanden wir uns im Haus der Sirenen. Das Bad gab es zum Glück wirklich, und ich ergriff die Gelegenheit, mich zu duschen und umzuziehen. Als ich aus der Dusche stieg, fand ich ein langes goldenes Kleid an einem Bügel für mich vor. Es ähnelte den Kleidern, die die beiden Frauen getragen hatten. Meine eigene Kleidung war zerrissen und blutig, weshalb ich das goldene Kleid anzog und meine Feenkleidung aufhängte, in der Hoffnung, dass sich die Feen auch im Weltenbaum darum kümmern konnten.
Ruhig las ich Mr. Kadams Notizen über Sirenen durch. Ich überflog die Geschichte von Odysseus und die von Jason und den Argonauten. Ich kannte die Erzählungen bereits, aber Mr. Kadam hatte außerdem alles Wissenswerte über Meeresnymphen, Meerjungfrauen und Nixen beigefügt, die ebenfalls manchmal als Sirenen bezeichnet werden.
Diese Geschöpfe gehören wahrscheinlich eher in die Kategorie der Baumnymphen als zu den Wassernymphen. Sie bewahren ihre Schönheit bis in den Tod. Sie können durch die Luft schweben. Durch die kleinsten Löcher schlüpfen. Hm, das war mir neu. Extrem langes Leben … manchmal unsichtbar … besondere Zeiten sind die Mittagsstunde und Mitternacht. Es war bald Mitternacht. Sie können gefährlich sein, Wahnsinn oder Besessenheit, einen Schlaganfall oder Stummheit hervorrufen.
Ein sanftes Klopfen ließ mich hochschrecken. »Ja?«
»Bist du fertig? Wir warten auf dich.«
»Ich komme gleich.« Rasch überflog ich die restlichen Notizen und steckte die Papiere in den Rucksack. Die zwei Männer standen direkt vor der Tür, starrten mich gierig an wie Schlangen, die ein Vogelnest beobachten.
»Entschuldigung.« Hastig schlüpfte ich zwischen ihnen hindurch, ging zur anderen Seite des Zimmers und setzte mich auf etwas, das wie ein überdimensionaler, mit Plüsch bezogener Sitzsack aussah. Die Männer ließen sich neben mir nieder.
Einer von ihnen stupste mich spielerisch an. »Du bist so steif. Lehn dich zurück und entspann dich. Das Sofa passt sich deinem Körper perfekt an.«
Sie akzeptierten kein Nein. Der dunkelhaarige Mann schob mich sanft, wenn auch nachdrücklich in den Sitz.
»Ja, es ist bequem. Vielen Dank. Äh, wo ist eigentlich Kishan?«
»Wer ist Kishan?«
»Der Mann, mit dem ich gekommen bin.«
»Ich habe keinen Mann bemerkt«, sagte der eine.
»Seitdem du das Zimmer betreten hast, hatte ich nur Augen für dich«, sagte der andere.
»Ja. Das stimmt. Du bist so liebreizend«, sagte sein Bruder.
Einer der beiden strich mir über den Arm, während der andere meine Schultern zu massieren begann. Sie zeigten auf einen Tisch vor uns, der mit den verschiedensten Leckereien beladen war. »Dürfen wir dir kandierte Früchte anbieten? Sie sind köstlich.«
»Nein. Vielen Dank. Ich habe im Moment keinen Hunger.«
Der Mann, der meine Schultern massierte, hauchte auf einmal Küsse auf meinen Nacken. »Du hast so wunderbar zarte Haut.«
Ich versuchte, mich aufzusetzen, aber der Mann drückte mich ins Sofa zurück. »Entspann dich. Wir sind hier, um dich zu verwöhnen.«
Der andere reichte mir ein kunstvoll geschliffenes Sektglas mit einem perlenden roten Getränk. »Holunderbeersaft gefällig?« Er nahm meine andere Hand und küsste mir die Finger. Eine bleierne Benommenheit legte sich auf meine Augen. Für einen Moment schloss ich die Lider, und meine Sinne konzentrierten sich allein auf die Lippen, die meine Kehle küssten, und die warmen Hände, die meine Schultern massierten. Ein herrliches Wohlbehagen durchdrang meinen Körper, und gierig verlangte ich nach mehr. Einer der Männer gab mir einen Kuss auf die Lippen. Es fühlte sich sonderbar an. Irgendetwas war falsch.
Ich protestierte schwach und versuchte, die Männer abzuschütteln, aber sie ließen nicht von mir ab. Etwas kitzelte an meinem Bewusstsein. Etwas, das ich zu packen versuchte. Etwas, das mir helfen würde, mich zu konzentrieren. Doch die Massage meiner Schultern war so unbeschreiblich gut. Der Mann strich mit dem Daumen in kleinen Kreisen über meine Haut. Genau das war der Moment, als ich mich mit einem Schlag wieder erinnerte.
Ren. Er hatte mir den Hals genauso massiert. Ich stellte mir sein Gesicht vor. Zuerst konnte ich es nur verschwommen erkennen, aber dann zählte ich mir im Geiste all die Dinge auf, die ich an ihm liebte, und das Bild wurde klarer. Ich dachte an sein Haar, seine Augen, wie er immer meine Hand hielt. Ich dachte daran, wie er den Kopf in meinen Schoß legte, während ich ihm vorlas, seine Eifersucht, seine Vorliebe für Pfannkuchen mit Erdnussbutter und dass er sich Pfirsich-Sahne-Eis gekauft hatte, weil es ihn an mich erinnerte. Ich konnte ihn regelrecht sagen hören: »Mein tumse mohabbat karta hoon, Iadala.«
Ich flüsterte: »Mujhe tumse pyarhai, Ren.«
Etwas barst in mir, und jäh riss ich mich los. Die Männer verzogen beleidigt das Gesicht, während sie versuchten, mich zurückzudrängen. Sie sangen leise, und im nächsten Moment verschwamm mein Blick erneut. Mit aller Gewalt summte ich das Lied, das Ren für mich geschrieben hatte, und rezitierte eines seiner Gedichte. Dann stand ich auf. Die Männer beharrten nun darauf, dass ich etwas aß oder von dem Saft nippte. Ich weigerte mich standhaft. Sie wollten mich zu einem weichen Bett ziehen. Ich blieb wie angewurzelt stehen, während sie an mir zerrten und mich mit einschmeichelnden Worten umgarnten. Sie machten mir Komplimente über meine Haare, meine Augen und mein wunderschönes Kleid und beschworen mich mit weinerlicher Stimme, dass ich seit tausend Jahren ihr erster Gast wäre und sie nur etwas Zeit in meiner Gesellschaft verbringen wollten.
Als ich wiederum ablehnte und erklärte, dass Kishan und ich uns auf den Weg machen müssten, ergriffen sie meine Hand und zogen mich in Richtung des Betts. Ich entwand mich und packte meinen Bogen. Hastig legte ich einen Pfeil auf und bedrohte den Mann, der mir am nächsten stand. Die beiden Brüder wichen zurück, und einer hob die Hand. Sie verständigten sich mit Blicken und schüttelten bekümmert die Köpfe.
»Wir hätten dich glücklich gemacht. Du hättest all deine Sorgen vergessen. Wir hätten dich geliebt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich liebe einen anderen.«
»Du hättest uns im Laufe der Zeit zu lieben gelernt. Wir haben die Gabe, die Gedanken anderer auszulöschen und sie durch Leidenschaft und Freude zu ersetzen.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, erwiderte ich zynisch.
»Wir sind einsam. Unsere letzte Gefährtin ist vor vielen Jahrhunderten gestorben. Wir haben sie geliebt.«
»Ja, wir haben sie so geliebt«, warf der andere ein. »Bei uns war sie keine einzige Sekunde von Traurigkeit erfüllt.«
»Aber wir sind unsterblich, und ihr Leben war viel zu schnell vorüber.«
»Ja. Wir müssen einen Ersatz finden.«
»Tja, tut mir leid, Jungs, aber ich will das nicht. Ich habe kein Interesse, eure …«, ich schluckte, »Liebessklavin zu werden. Außerdem will ich nicht alles und jeden vergessen.«
Sie musterten mich genau. »Dann soll es so sein. Du kannst gehen, wenn du willst.«
»Und was ist mit Kishan?«
»Er muss seine eigene Entscheidung treffen.« Mit diesen Worten verpufften sie zu einer dünnen Rauchfahne, schossen wirbelnd durch ein Astloch in der Wand des Baums und verschwanden. Ich ging zurück ins Badezimmer, um meine Feenkleidung zu holen und war hocherfreut, dass sie gereinigt und ausgebessert war.
Mit dem Rucksack unterm Arm ging ich zurück ins Zimmer. Anstelle des verführerischen Boudoirs war es nun ein einfacher, leerer Raum mit einer Tür. Ich öffnete sie, verließ das Haus und trat hinaus auf die Wendeltreppe, die sich im Innern des Weltenbaums um den Stamm wand. Die Tür schloss sich hinter mir. Ich war allein.
Ich zog die Hose und das Hemd an, das die Feen für mich gewebt hatten, und fragte mich, ob und wann Kishan herauskommen würde. Das weiche Bett wäre zum Schlafen viel bequemer als die harten Holzstufen. Aber wenn ich im Bett geblieben wäre, hätte ich wohl auch nicht besonders viel Schlaf bekommen.
Im Stillen dankte ich Ren, dass er mich vor den Baumnymphen oder männlichen Sirenen oder was auch immer sie waren, gerettet hatte. Völlig erschöpft rollte ich mich im Schlafsack zusammen und schlief ein. Irgendwann mitten in der Nacht stupste mich Kishan an.
»Hi.«
Gähnend stützte ich mich auf einen Ellbogen. »Kishan? Das hat aber lange gedauert.«
»Ja. Es war nicht einfach, die Frauen da drinnen abzuschütteln.«
»Ich weiß, was du meinst. Ich musste die Kerle mit Pfeil und Bogen bedrohen, bis sie mich endlich in Ruhe gelassen haben. Im Grunde bin ich überrascht, dass du überhaupt rausgekommen bist. Wie hast du dich ihrem Bann entziehen können?«
»Besprechen wir später. Ich bin müde, Kells.«
»Okay. Hier, nimm meine Steppdecke. Ich würde dir anbieten, dass du in den Schlafsack schlüpfst, aber für heute habe ich genug von Männern.«
»Das kann ich nachvollziehen. Danke. Gute Nacht, Kells.«
Nachdem wir aufgewacht waren, gegessen und gepackt hatten, setzten wir unseren Weg den Weltenbaum hinauf fort. Helles Licht blitzte weiter vorne auf. Ein Loch im Stamm brachte uns ins Freie. Der warme Sonnenschein war eine angenehme Abwechslung, aber die Stufen lagen nun völlig frei. Ich klammerte mich am Baumstamm fest, darauf bedacht, unter keinen Umständen nach unten zu schauen.
Kishan wiederum war fasziniert von der schwindelerregenden Höhe, in der wir uns befanden. Trotz seiner Super-Tiger-Augen konnte er den Erdboden nicht sehen. Riesige Äste wuchsen aus dem Baum. Sie waren so breit, dass zwei Menschen problemlos würden darauf nebeneinander hergehen können. Ab und an erkundete Kishan einen der Äste, lief ein Stück auf und ab, während ich mich keinen Zentimeter vom Stamm wegbewegte.
Nachdem wir mehrere Stunden in unserem langsamen Tempo weitergewandert waren, blieb ich vor einem dunklen Loch stehen, das zurück in den Baumstamm führte. Ich wartete, bis Kishan von seiner jüngsten Entdeckungstour zurückgekehrt war, damit wir gemeinsam durch die Öffnung gehen konnten. Dieser Teil des Stamms war dunkler und feucht. Wasser rieselte und tröpfelte leise von irgendwo über unseren Köpfen herab. Die Wände waren nicht mehr glatt und weich, sondern gesplittert und rau, und ließen unsere Stimmen widerhallen. Der Baum schien an dieser Stelle bis tief ins Innere ausgehöhlt zu sein.
»Dieser Teil des Baums fühlt sich abgestorben an, als wäre er krank«, sagte ich.
»Ja. Das Holz unter unseren Füßen ist faulig. Bleib, so nah du kannst, beim Stamm.«
Ein paar Minuten vergingen, bevor die Treppe genau unter einem schwarzen Loch aufhörte, das gerade einmal groß genug war um hindurchzuklettern.
»Es gibt keinen anderen Weg. Sollen wir es versuchen?«
»Es wird ganz schön eng.«
»Dann lass mich zuerst gehen«, schlug ich vor. »Wenn der Gang weiter vorne versperrt ist, musst du dich überhaupt nicht durchzwängen. Dann komme ich einfach zurück, und wir überlegen uns eine andere Lösung.«
Er stimmte zu und tauschte die Taschenlampe gegen den Rucksack. Anschließend stemmte Kishan mich hoch, und ich quetschte mich ins Loch und kroch auf Händen und Füßen weiter, bis der Gang schmaler und höher wurde. Nun konnte ich mich nur noch weiterbewegen, indem ich mich seitlich stehend nach vorne schob. Dann wurde der Gang wieder niedriger, und ich sank auf die Knie.
Der Gang fühlte sich wie versteinerter Fels an. Ein riesiger Stalaktit hing herab, versperrte die obere Hälfte des Durchgangs. Ich legte mich auf den Bauch und schlängelte mich hindurch. Auf der anderen Seite öffnete sich der Gang zu einer riesigen Höhle. Es kam mir vor, als wäre ich unendlich weit gegangen, wo ich wahrscheinlich nur zehn Meter hinter mich gelegt hatte. Für Kishan würde der enge Gang zum Spießrutenlauf werden. Falls er es denn überhaupt hindurchschaffte, würde es sehr knapp werden.
»Versuch dein Glück«, rief ich ihm zu.
Während ich auf ihn wartete, tastete ich mich über den Boden vor, der weich wie ein Schwamm war. Wahrscheinlich verfaultes Holz. Die Wände waren mit etwas überzogen, das wie verkrusteter brauner Senf aussah. Über mir hörte ich das Flattern eines Vogels und leises Kreischen. Dort oben ist wohl ein Nest. Das Geräusch hallte von den Wänden wider, wurde zunehmend lauter und heftiger.
»Äh, Kishan? Beeil dich!«
Besorgt hielt ich meine Taschenlampe hoch. Ich sah nichts, aber die Luft bewegte sich. Es schien, als würde ein ganzer Schwarm Vögel in der Dunkelheit umherwuseln. Etwas strich meinen Arm entlang und flatterte aufgeschreckt davon. Wenn es ein Vogel war, dann ein großer.
»Kishan!«
»Bin gleich da.«
Ich konnte hören, wie er sich auf dem Bauch durch den Gang schob. Er hatte es fast geschafft.
Etwas oder mehrere Etwas kamen auf mich zugeflattert. Vielleicht sind es riesige Motten. Ich knipste das Licht aus, um die fliegenden Geschöpfe von mir abzulenken, und lauschte Kishans Bewegungen.
Erst tauchte der Rucksack auf und dann sein Kopf. Ein jähes, heftiges Flügelschlagen über mir erschreckte mich fast zu Tode. Spitze, gebogene Krallen legten sich auf meine Schultern und hielten mich fest. Ich kreischte. Sie bohrten sich tiefer in meine Kleidung, und mit wildem Flügelschlagen und unter lautem Gekreische wurde ich in die Luft gerissen.
Hastig zwängte sich Kishan durch das Loch und packte mein Bein, aber das Geschöpf war stärker und riss mich fort. Ich hörte, wie Kishan meinen Namen rief.
Ich wollte antworten, doch meine Stimme hallte schal von den Wänden wider. Ich war nun hoch oben, viel höher als Kishan, konnte ihn nur noch schwach ausmachen. Das Geschöpf war schon bald von anderen seiner Art umgeben und ich eingehüllt von einer kreischenden, wogenden, zitternden Masse aus warmen Körpern. Gelegentlich spürte ich Fell an meiner Haut, manchmal etwas Ledriges und das Kratzen von Krallen.
Das Geschöpf segelte langsamer, zog einen Kreis und ließ mich dann fallen. Bevor ich einen Schrei ausstoßen konnte, landete ich polternd auf meinem Rucksack. Ich schaltete die Taschenlampe ein, an die ich mich während der plötzlichen Entführung geklammert hatte. Gleichzeitig verängstigt und dennoch wild entschlossen herauszufinden, wo ich mich befand, blickte ich mich um.
Anfangs wurde ich aus meiner Umgebung nicht schlau. Alles, was ich sah, war eine wuselnde Masse aus braunen und schwarzen Körpern. Dann erkannte ich, dass es Fledermäuse waren. Riesige Fledermäuse. Ich stand auf einem Vorsprung, von dem es etwa hundert Meter in die Tiefe ging. Rasch rutschte ich zurück an die Holzwand.
Kishan rief meinen Namen und versuchte, sich in meine Richtung zu bewegen.
»Alles okay!«, schrie ich. »Sie haben mir nichts getan! Ich bin hier oben auf einem Vorsprung!«
»Halt durch, Kells! Ich komme!«
Die Fledermäuse hingen kopfüber und beobachteten mit blinzelnden schwarzen Augen Kishans Fortschritte. Die Tiere waren ununterbrochen in Bewegung. Einige kletterten spinnengleich über Artgenossen, um einen besseren Platz zum Hängen zu ergattern. Andere schlugen mit den Flügeln, bevor sie sie fest um ihre Körper legten. Wiederum andere wiegten sich bedächtig vor und zurück. Ein Teil schlief.
Und sie waren laut. Sie unterhielten sich mit Knackgeräuschen und schnalzendem Schmatzen, während sie herabhingen und uns beäugten.
Eine Weile kam Kishan gut voran, geriet dann jedoch in eine Sackgasse und musste umkehren. Er probierte mehrmals, zu mir hochzuklettern, was ihm jedoch nicht gelang. Nach dem sechsten Versuch stand er wieder neben dem Loch und rief zu mir hoch: »Es ist unmöglich, Kells. Ich schaffe es einfach nicht!«
Ich wollte gerade den Mund öffnen, um ihm zu antworten, als eine riesige Fledermaus zu reden ansetzte: »Uuuunmööööglich eeeer glauuuubt«, schnalzte sie und breitete die Flügel aus. »Eeees iiiiist möööööglich, Tiiiiiigerrr.«
»Du weißt, dass er ein Tiger ist?«, fragte ich die Fledermaus.
»Wiiiiir seeeehen iiiihn. Hööören iiiiihn. Seeeein Geiiiiist ist entzweiiii.«
»Sein Geist ist entzwei? Was bedeutet das?«
»Bedeuuuutet er haaaaben Kummmmer erliiiitten. Eeeer heiiiilen seiiiine Wuuunde … eeeer diiich reeetten.«
»Wenn seine Wunde heilt, kann er mich retten? Wie soll ihm das gelingen?«
»Eeer iiiist wiiiiie wiiir. Eeeer iiiist haaalb Maaaann und haaalb Tiiiger. Wiiir siiind haaalb Vogel, haaalb Säugetiiier. Diiie Hääälften müssssen verschmeeeelzen. Eeer mussss Tiiiger iiiin siiiich anneeeehmen.«
»Wie können sich seine beiden Hälften verschmelzen?«
»Eeeer mussss leeernen.«
Ich wollte gerade weiter nachfragen, als sich mehrere Fledermäuse in die Tiefe stürzten und zu verschiedenen Plätzen in der verwinkelten Höhle flogen. Rhythmische, kehlige Laute, bei denen es sich wohl um die Echoortung der Tiere handelte, hämmerten durch die Luft und trafen auf die Wände. Ich spürte die starken Vibrationen sogar auf der Haut. Kurz darauf begannen kleine, in die Wände eingelassene Steine zu glühen. Je länger die Fledermäuse lärmten, desto heller wurde das Licht. Als die Fledermäuse schließlich verstummten, war die Höhle hell erleuchtet.
»Diiiese Liiiichter weeerden verglüüühen, weeenn seiiine Zeiiit um iiiist. Eeeer mussss diiir vorheeer heeelfen. Eeer muuussss beiiiide Teiiile nuuutzen, Meeensch uuuund Tiiiger. Saaag eeees iiiihm.«
»Okay«, meinte ich, bevor ich mich brüllend an Kishan wandte: »Die Fledermäuse sagen, dass du beide Hälften von dir benutzen musst, um zu mir zu kommen, bevor das Licht verloschen ist. Sie sagen, du musst den Tiger in dir annehmen.«
Nun da es taghell war, war das Ausmaß der Gefahren deutlich zu erkennen. Eine Abfolge von Stalagmiten mit abgeflachten Spitzen erhob sich aus dem Boden der Höhle. Sie waren zu weit voneinander entfernt, als dass ein Mensch sie erreichen konnte, einem Tiger hingegen könnte es gelingen.
Kishan richtete den Blick nach oben und warf die Chakram in die Luft. Während die Waffe in die Höhe schnellte, verwandelte er sich in den schwarzen Tiger und machte einen gewaltigen Satz. Und das blitzschnell. Ich hielt den Atem an, als er schnell von einer dünnen Holzformation zur nächsten sprang, ohne auch nur ein einziges Mal innezuhalten. Entsetzt keuchte ich auf, da jeder Sprung seinen Tod bedeuten konnte. Als er den letzten Stalagmiten erreichte, schoss er ein wenig zu weit über das Ziel, krallte sich mit den Tatzen am fauligen Holz fest und schlang den Schwanz darum, um das Gleichgewicht zu halten.
Er verwandelte sich in einen Menschen, fing die Chakram auf und schleuderte sie wieder hoch. Der Absatz war winzig, kaum groß genug für seine Füße. Kein anderer Stalagmit war von dort zu erreichen. Nichts war nahe genug, selbst für einen Tiger. Kishan sah sich einen kurzen Moment um, durchdachte seinen nächsten Zug. Die Fledermäuse blinzelten träge und beobachteten ihn dann mit weit aufgerissenen Augen, während sie kopfüber herabhingen. Das Licht wurde schwächer, und je dunkler es wurde, desto gefährlicher war Kishans Kletterpartie.
Ich wusste, dass er im Dunkeln besser sah als ich, aber der Weg war trotzdem unglaublich tückisch. Er schien eine Entscheidung getroffen zu haben, ging in die Hocke, verwandelte sich in den schwarzen Tiger und machte einen riesigen Satz. Da war nichts, worauf er hätte landen können.
»Kishan! Nein!«, schrie ich.
Mitten im Sprung verwandelte er sich in einen Menschen zurück und fiel. Erschrocken rutschte ich auf dem Bauch vor, um über den Rand meines kleinen Vorsprungs zu spähen – und atmete erleichtert auf, als ich ihn an einer langen Liane baumeln sah. Langsam hangelte er sich hoch, aber er war immer noch weit entfernt. Er fing die Chakram auf, hielt die gefährliche Waffe mit den Zähnen und schwang vor und zurück, bis er einen herausstehenden Ast zu fassen bekam. Er kletterte höher und ruhte sich eine Minute auf einem winzigen Absatz aus. Nachdem er seine Situation genau erfasst hatte, schnappte er sich eine neue Rebe, sprang und holte wieder Schwung.
Kishan vollführte eine Reihe komplizierter akrobatischer Stunts. Mindestens dreimal verwandelte er sich in einen Tiger und wieder zurück. An einer Stelle schleuderte er die Chakram, die durch die Höhle sauste, eine Liane durchschnitt und zurück zu seiner Tigertatze flog, die in letzter Sekunde zur Hand wurde und die Waffe auffing. Die Chakram wieder im Mund schwang er unterhalb von mir durch die Höhle und stieß sich auf der anderen Seite ab, schnappte sich das obere Stück der Rebe, die er vorhin zerschnitten hatte, und vollendete seine zirkusreife Nummer. Als er auf mich zuflog, erkannte ich erschrocken, dass die Liane nicht lang genug war und er mehrere Meter vor meinem Vorsprung in die Tiefe stürzen würde.
Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen, aber ich fühlte mich verpflichtet, sie offen zu halten, riskierte Kishan doch für mich sein Leben. Kishan schwang zurück und drückte sich erneut ab. Als seine Füße diesmal die Wand berührten, schleuderte er die Chakram ein weiteres Mal in die Höhe, packte die Liane mit den Zähnen, verwandelte sich rasch in den schwarzen Tiger und stieß sich mit seinen kräftigen Hinterpfoten ab. Dann wurde er wieder zum Menschen, flog so hoch, wie die Liane ihn trug und ließ dann los. In einer geschickten Drehung mitten in der Luft verwandelte er sich in den Tiger zurück. Sein gestreifter schwarzer Körper streckte sich mit aller Gewalt zu meinem Vorsprung. Als sich seine Klauen in das Holz neben meinen Füßen bohrten, grub sich auch die Chakram wenige Zentimeter neben meinen Fingern in den Stamm. Die Tigerklauen verwandelten sich in Hände.
»Kishan!«
Ich packte ihn am T-Shirt und riss ihn, so fest ich konnte, zu mir her. Er rollte über den Vorsprung und lag mehrere Minuten dort, keuchend und röchelnd. Das Licht hatte sich weiter eingetrübt.
»Siiiehst duuu? Eeeer haaat eeees geschaaaafft.«
Seine Arme zitterten, und ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. »Ja. Das hat er«, sagte ich leise.
Als sich Kishan schließlich aufsetzte, drückte ich ihn stürmisch an mich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er hielt mich eine Weile fest an sich gepresst, bevor er mich widerstrebend losließ. Sanft schob er mir das Haar aus den Augen.
»Tut mir leid, dass ich den Rucksack zurücklassen musste«, entschuldigte er sich.
»Ist schon gut. Bei allem, was du zu tun hattest, konntest du ihn auf keinen Fall mitbringen.«
»Wiiiir hoooolen iiiiihn.«
»Wie schade, dass sie dich nicht auch auf die Art herbringen konnten«, murmelte ich sarkastisch.
»Wiiiir mussssten iiiiihn tesssssten. Eeeeer haaaat bestaaaanden.«
Eine der Fledermäuse flog hinab, um den Rucksack zu holen, und ließ ihn in meine ausgestreckten Hände fallen.
»Vielen Dank.« Ich berührte Kishan am Arm. »Bei dir alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut.« Trotz seiner Atemlosigkeit grinste er verwegen. »Für einen richtigen Kuss würde ich es glatt noch mal tun.«
Ich boxte ihn sanft in den Oberarm. »Ich finde, einer auf die Wange war schon mal gar nicht schlecht.«
Er schnaubte verhalten. »Und wie geht’s weiter?«
Eine der Fledermäuse sagte: »Wiiir weeerden euuuuch briiiingen.«
Zwei Fledermäuse lösten sich von der Decke und stürzten mehrere Meter in die Tiefe, bevor sie die Flügel aufschnappen ließen und heftig mit ihnen schlugen. Die Tiere gewannen an Höhe und schwebten über uns, dann tauchten sie langsam herab. Klauenfüße packten meine Schultern.
Das Tier mahnte eindringlich: »Niiiicht beweeeeegen«, und ich entschied, dass ich seinem Rat folgen würde.
Mit heftigem Flügelschlagen flatterten die Fledermäuse los, trugen uns höher und höher den Baum empor. Es war keine vergnügliche Spazierfahrt, aber zumindest würde uns diese Mitfahrgelegenheit mehrere Stunden Gehen ersparen. Anfangs glaubte ich, wir würden vertikal in die Höhe schießen, aber in Wirklichkeit kreisten die Fledermäuse und stiegen langsam und gleichmäßig empor.
Schließlich bemerkte ich, dass unsere Umgebung immer heller wurde. Ich sah einen Spalt, der gesprenkeltes orangefarbenes Sonnenlicht über die Wände wabern ließ. Eine kühle Brise, die nach frischem, gesundem Baum roch, strich mir jetzt über die Haut, statt des verfaulten, moderigen Gestanks nach Pilzen, Ammoniak und Verwesung. Unsere geflügelten Begleiter flogen aus der Öffnung und setzten uns mit lautem Flattern vorsichtig auf einem Ast ab. Die Äste hier waren dünner, aber immer noch stark genug, um mich und Kishan zu tragen.
Mit der letzten Warnung: »Seiiiid waaaachsam«, preschten sie zurück in den Baum und ließen uns allein.
»Kells, gibst du mir den Rucksack? Ich möchte aus der schwarzen Kleidung schlüpfen und Schuhe anziehen.«
Ich warf ihm den Rucksack zu und drehte mich um, damit er sich umziehen konnte.
»Ja. Wie schade, dass deine Feenkleidung bei all den ganzen Verwandlungen in einen Tiger und zurück verschwunden ist. Sie war ziemlich nützlich. Zum Glück hat Mr. Kadam darauf bestanden, dass wir ein Paar Schuhe für dich einpacken, nur für alle Fälle.«
»Kells? Die Feenkleidung ist im Rucksack.«
»Was?« Überrascht wirbelte ich herum. Kishan war bis zur Hüfte nackt, und ich errötete. »Wie ist das möglich?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich Feenmagie. Und jetzt dreh dich um – außer du willst mir beim Umziehen zusehen.«
Hochrot wandte ich mich ab. Die Sonne ging gerade unter, und wir entschieden, etwas zu essen und uns auszuruhen. Ich war erschöpft, hatte aber große Angst, auf einem Ast zu schlafen, auch wenn er doppelt so breit wie ein Himmelbett war.
Reglos saß ich genau in der Mitte des Asts. »Ich habe Angst zu fallen.«
»Du bist müde. Du musst dich ausruhen.«
»Das kann ich nicht.«
»Ich halte dich. Du wirst nicht fallen.«
»Was ist, wenn du fällst?«
»Katzen fallen nicht von Bäumen, außer wenn sie das wollen. Komm her.«
Kishan legte mir den Arm um die Schultern und gestattete mir, seinen anderen als Kissen zu verwenden. Nie im Leben hätte ich geglaubt, einschlafen zu können, doch schon kurz darauf war ich es.
Am nächsten Morgen gähnte ich ausgiebig und rieb mir die verschlafenen Augen. Kishan beobachtete mich. Er hatte einen Arm um meine Hüfte geschlungen, und mein Kopf ruhte auf seinem anderen Arm.
»Hast du gar nicht geschlafen?«
»Ich habe ein Nickerchen gemacht und dann etwas Katzenwäsche.«
»Wie lange bist du schon wach?«
»Seit ungefähr einer Stunde.«
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Du hast den Schlaf gebraucht.«
»Oh. Und vielen Dank, dass du mich nicht hast fallen lassen.«
»Kells? Ich muss dir etwas gestehen.«
»Was?« Ich schob die Faust unter meine Wange. »Was gibt’s?«
»Du bist mir sehr wichtig.«
»Du bist mir auch sehr wichtig.«
»Nein. Das meine ich nicht. Ich meine … Ich spüre …, und einiges spricht dafür …, dass wir einander etwas bedeuten könnten.«
»Du bedeutest mir jetzt schon etwas.«
»Natürlich, aber ich rede nicht von Freundschaft.«
»Kishan …«
»Besteht nicht der Hauch einer Möglichkeit, dass du mich eines Tages lieben könntest? Empfindest du denn gar nichts für mich?«
»Natürlich. Aber …«
»Lass das Aber mal beiseite. Angenommen, es gäbe Ren nicht, würdest du dann in Betracht ziehen, mit mir zusammen zu sein? Wäre ich jemand, den du gern haben könntest?«
Ich legte ihm die Hand auf die Wange. »Kishan, ich habe dich doch gern. Ich habe Gefühle für dich. Ich liebe dich schon jetzt.«
Lächelnd beugte er sich vor. Alarmglocken schrillten in meinem Kopf. Hastig rutschte ich zurück und glaubte zu fallen. In meiner Panik klammerte ich mich an seinen Arm, als hinge mein Leben davon ab.
Kishan hielt mich fest und musterte mein Gesicht. Zweifellos entging ihm die Verzweiflung darin nicht, die nichts mit meinem Balanceproblem zu tun hatte. Er hielt seine Gefühle im Zaum, lehnte sich zurück und sagte ruhig: »Ich würde dich niemals fallen lassen, Kells.«
Ich hatte mich bisher nicht besonders diplomatisch verhalten, und das Beste, was mir einfiel, war: »Das weiß ich.«
Er ließ mich los und stand auf, um bei der Goldenen Frucht das Frühstück zu bestellen.
Die Treppe wurde jetzt schmaler und wand sich außen um den Baum. Der Stamm war nun auch viel dünner. Es kostete uns in dieser Höhe nur noch dreißig Minuten, um den Baum einmal zu umrunden. Nach ein paar furchterregenden Stunden mit Stufen, die sich immer weiter verengten, stießen wir auf ein geflochtenes Seil, das von einem Baumhaus herabbaumelte.
Ich wollte lieber die Treppe benutzen, während Kishan das Seil vorgezogen hätte. Er stimmte jedoch zu, noch eine weitere halbe Stunde weiterzugehen, und wenn wir dann nichts fanden, zum Seil zurückzukehren. Die Diskussion erübrigte sich schon bald, denn nach nur fünf Minuten waren die Stufen nichts weiter als knotige Beulen am Stamm, die kurz darauf gänzlich verschwanden.
Als wir umdrehten, gab ich zu bedenken: »Ich glaube nicht, dass meine Arme kräftig genug sind, um mich bis nach oben zu ziehen.«
»Mach dir keine Sorgen. Meine Arme sind kräftig genug für uns beide.«
»Was genau schwebt dir vor?«
»Du wirst schon sehen.«
Als wir das Seil erreichten, nahm mir Kishan den Rucksack ab und schulterte ihn. Dann winkte er mich zu sich.
»Was?«
Er zeigte auf die Stelle vor sich.
»Was soll ich tun?«, fragte ich argwöhnisch.
»Du legst mir die Arme um den Hals und steckst die Handgelenke durch die Gurte.«
»Okay, aber nutz die Situation nicht aus. Ich bin schrecklich kitzlig.«
Er schnallte sich den Rucksack um, und ich hängte mich ein, sodass mein Gesicht nah an seinem war. Süffisant hob er eine Augenbraue. »Falls ich die Situation ausnutzen würde, dann sicherlich nicht, um dich zu kitzeln.«
Ich lachte nervös, während sein Gesicht ernst war, fast schon feierlich. »Okay. Lass uns loslegen«, murmelte ich.
Ich spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, doch dann sah er zu mir herab, und sein Blick glitt zu meinen Lippen. Rasch senkte er den Kopf und drückte mir einen warmen, weichen Kuss auf den Mundwinkel.
»Kishan!«
»Tut mir leid. Ich konnte nicht widerstehen. Du bist gefangen und kannst dich nicht wehren. Außerdem laden deine Lippen einfach zum Küssen ein. Sei froh, dass ich gleich wieder aufgehört habe.«
»Ja, vielen Dank«, spottete ich.
Im nächsten Moment sprang er hoch. Erschrocken über seine plötzliche Bewegung quietschte ich laut auf, während Kishan in aller Seelenruhe zu klettern begann. Er hangelte uns am Seil in die Höhe, krallte sich an Knoten fest, sobald er welche fand, hatte manchmal zum besseren Gleichgewicht nur eine Hand am Seil und die andere an einem Ast. Abgesehen von dem Umstand, dass wir auf mehreren Hundert oder gar Tausend Metern Höhe unterwegs waren und jeden Moment in die Tiefe stürzen konnten, war es sehr angenehm, so eng an ihn geschmiegt zu sein. Im Grunde sogar ein bisschen zu angenehm.
Anscheinend habe ich eine Schwäche für Tarzan-Typen.
Als wir die Tür des Baumhauses erreichten, kletterte Kishan noch ein Stück höher und hing völlig ruhig am Seil, während ich mich vorsichtig aus den Gurten schälte und auf den Holzboden sprang. Dann stieß er sich schwungvoll vom Stamm ab, pendelte mehrmals hin und her und landete übertrieben theatralisch. Ganz offensichtlich hatte er einen Riesenspaß.
»Um Himmels willen, hör mit dieser Angeberei auf. Hast du vergessen, auf welcher Höhe wir sind, und dass du jeden Moment in den Tod stürzen könntest? Du führst dich auf, als wäre das alles hier ein lustiger, kleiner Ausflug.«
»Ich habe nicht den geringsten Schimmer, auf welcher Höhe wir sind«, entgegnete er. »Und es kümmert mich auch nicht. Aber du hast recht. Ich habe Spaß. Ich genieße es, die ganze Zeit über in Menschengestalt zu sein. Und ich genieße es in vollen Zügen, mit dir zusammen zu sein.« Er legte mir die Hände um die Taille und zog mich zu sich.
»Hmm.« So rasch wie möglich entwand ich mich seiner Umarmung. Die Sache mit dem Menschsein konnte ich ihm schlecht verübeln, und ich wusste nicht, was ich von der Sache mit mir halten sollte, weshalb ich einfach schwieg. Wir setzten uns auf den Holzboden des Baumhauses und gingen jede einzelne Notiz von Mr. Kadam durch. Wir lasen sie zweimal und warteten, aber es geschah noch immer nichts. Eigentlich hätte das hier das Haus der Vögel sein müssen, doch ich sah keine. Vielleicht waren wir am falschen Ort. Allmählich wurde ich unruhig.
»Hallo! Ist da jemand?«, hallte meine Stimme wider.
Ein Flattern und ein heiseres, krächzendes Rronk war die Antwort. Oben in einer Ecke des Baumhauses war ein verstecktes Nest zu sehen. Zwei schwarze Raben spähten über den Rand und beäugten uns. Sie schienen mit einem dumpfen Klicken zu kommunizieren, einem Schnalzen, das tief aus ihrer Kehle kam.
Die Vögel verließen ihren Hochsitz und umkreisten das Baumhaus, wobei sie akrobatische Meisterleistungen vollführten. Sie schlugen Purzelbäume und flogen sogar kopfüber. Mit jeder Runde kamen sie näher. Kishan holte die Chakram hervor und hielt sie wie ein Messer.
Ich legte die Hand auf seine und schüttelte sanft den Kopf. »Warten wir ab, was sie als Nächstes tun.« Dann wandte ich mich an die Vögel. »Was wollt ihr von uns?«
Die Raben landeten knapp einen Meter von uns entfernt. Einer von ihnen neigte den Kopf und starrte mich mit schwarzen Augen an. Der Vogel schmeckte mit der schwarzen Zunge die Luft, während er auf uns zuhüpfte.
Eine raue, kratzige Stimme sagte: »Wulltihrvununs?«
»Versteht ihr mich etwa?«
Die beiden Vögel schienen zu nicken und blieben immer wieder stehen, um ihr Gefieder zu putzen.
»Was sollen wir hier tun? Wer seid ihr?«
Die Vögel sprangen noch näher. Einer von ihnen krächzte »Hughhn«, und ich hätte schwören können, dass der andere »Muunann« sagte.
Ungläubig fragte ich: »Ihr seid Hugin und Munin?«
Die schwarzen Köpfe wippten wieder auf und ab. Die Raben hopsten noch näher.
»Habt ihr mein Armband gestohlen?«
»Und das Amulett?«, fügte Kishan hinzu.
Ihre Köpfe nickten erneut.
»Nun, wir wollen alles zurück. Ihr könnt aber gern die Honigkekse behalten. Wahrscheinlich habt ihr die eh schon gefressen.«
Die Vögel kreischten heiser, klapperten laut mit den Schnäbeln und schlugen aufgeregt mit den Flügeln. Sie plusterten sich auf, was sie größer erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit waren.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wollt uns die Sachen also nicht zurückgeben? Nun, darum kümmern wir uns später.«
Zögerlich tänzelten die Vögel näher, und einer hüpfte auf mein Knie. Kishans Beunruhigung war nicht zu übersehen.
Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Wenn es Hugin und Munin sind, die Odin Gedanken und Erinnerungen ins Ohr geflüstert haben, werden sie sich wahrscheinlich auf unsere Schultern setzen und mit uns sprechen.«
Ich schien recht zu behalten, denn im selben Moment, als ich den Kopf zur Seite neigte, flatterte der andere Vogel herbei und hockte sich auf meine Schulter. Er schob den Schnabel an mein Ohr, und ich wartete, dass er mit mir redete. Doch stattdessen verspürte ich ein sonderbares Ziehen. Der Rabe zerrte sanft an etwas in meinem Ohr, was jedoch nicht wehtat.
»Was soll das?«, fragte ich.
»Gedank’nsteck’nf’st.«
»Was?«
»Gedank’nsteck’nf’st.«
Ich spürte erneut ein zartes Ziehen, und dann hüpfte Hugin mit einem hauchdünnen, spinnennetzartigen Faden im Schnabel davon.
Erschrocken schlug ich die Hand aufs Ohr. »Was hast du getan? Hast du etwas aus meinem Gehirn gestohlen? Habe ich jetzt einen Hirnschaden?«
»Gedank’nsteck’nf’st.«
»Was soll das bedeuten?«
Der Faden, den der Rabe im Schnabel hielt, löste sich auf, als der Vogel zu schnattern begann. Ich saß mit weit aufgerissenem Mund da, starrte entsetzt in seine Richtung und fragte mich, was er mir angetan hatte. Hat er etwa mein Gedächtnis gestohlen? Ich zermarterte mir den Kopf und versuchte, mich an alles Wichtige in meinem Leben zu erinnern. Ich suchte nach einer Lücke, einem blinden Fleck. Wenn mir der Vogel Erinnerungen geklaut hatte, wusste ich nicht, welche.
Kishan berührte meine Hand. »Ist bei dir alles in Ordnung? Wie geht es dir?«
»Mir geht’s gut. Es ist nur …« Ich verstummte, als sich etwas in meinem Bewusstsein regte. Etwas geschah. Etwas schabte wie ein quietschender Gummiwischer über die Oberfläche meines Bewusstseins. Ich spürte, wie sich eine Schicht Verwirrung oder klebriger Dreck, ein geistiges Durcheinander, oder wie auch immer man es nennen mochte, von mir ablöste wie abgestorbene Haut nach einem Sonnenbrand. Es war, als hätten vorher Ängste, Sorgen und düstere Gedanken die Poren meines Bewusstseins verstopft.
Für einen Moment sah ich alles, was ich zu tun hatte, glasklar und ohne jeden Schleier. Ich wusste, wir waren kurz vor unserem Ziel. Ich wusste, erbarmungslose Wächter beschützten das Göttliche Tuch. Ich wusste, was es mit dem Tuch auf sich hatte und was ich damit würde tun können. Ich wusste, wie ich Ren mit seiner Hilfe befreien könnte.
Munin hüpfte vor Kishan auf und ab, wartete begierig, dass er an der Reihe war.
»Es ist in Ordnung, Kishan! Sei unbesorgt. Lass ihn auf deiner Schulter sitzen. Er wird dir nicht wehtun. Vertrau mir.«
Kishan sah mich skeptisch an, doch dann legte er den Kopf schief. Fasziniert beobachtete ich, wie Munin mit den Flügeln schlug und auf Kishans Schulter landete. Er ließ die Flügel ausgebreitet und schüttelte sie träge aus, während er sich um Kishans Ohr kümmerte.
Ich wandte mich an Hugin: »Wird Munin dasselbe mit Kishan tun wie mit mir?«
Der Vogel schüttelte den Kopf und trat von einem Bein aufs andere. Dann begann er, sich das Gefieder zu putzen.
»Und was wird anders sein? Was hat er vor?«
»Musstwarten.«
»Musstwarten?«
Der Vogel nickte.
Munin hüpfte auf den Boden und hielt einen hauchzarten schwarzen Faden von der Größe eines Regenwurms im Schnabel. Er öffnete das Maul und schluckte ihn hinunter.
»Äh … Der sah anders aus als meiner. Kishan? Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?«
Er antwortete rasch. »Mir geht’s gut. Er … hat es mir gezeigt.«
»Was hat er dir gezeigt?«
»Er hat mir meine Erinnerungen gezeigt. Jede Einzelheit. Ich habe alles gesehen, was geschehen ist. Ich habe Yesubai und mich gesehen. Meine Eltern, Kadam, Ren … Einfach alles. Aber mit einem entscheidenden Unterschied.«
Ich nahm seine Hand. »Und? Was war der Unterschied?«
»Der schwarze Faden, den du gesehen hast – es lässt sich schwer in Worte fassen, aber es war, als hätte mir der Vogel eine dunkle Sonnenbrille von den Augen genommen. Ich habe alles gesehen, wie es wirklich war, wie es wirklich passiert ist. Es war nicht mehr bloß meine Sicht. Es war, als hätte ich alles als Außenstehender beobachtet.«
»Ist deine Erinnerung jetzt anders?«
»Nicht anders …, nur klarer. Ich weiß jetzt, dass Yesubai ein süßes Mädchen war, das mich gern hatte, aber sie wurde auch ermuntert, mich auszuwählen. Sie hat mich nicht auf dieselbe Art geliebt, wie ich sie geliebt habe. Sie hatte schreckliche Angst vor ihrem Vater. Sie hat ihm willenlos gehorcht, auch wenn sie sich sehnlichst gewünscht hat, sich aus seinem Bann zu befreien. Am Ende war es ihr Vater, der sie getötet hat. Er hat sie heftig weggeschleudert – so heftig, dass es ihr das Genick gebrochen hat. Wie konnte ich nur ihre Furcht übersehen, ihre Beklemmung?« Er rieb sich das Kinn. »Ihr Vater hat meine Gefühle für sie schamlos ausgenutzt. Ich hätte ihn von Anfang an durchschauen müssen, aber ich war blind, blind vor Liebe. Wie konnte mir das passieren?«
»Die Liebe lässt einen manchmal die dümmsten Dinge tun.«
»Was ist mit dir? Was hast du gesehen?«
»Mir wurde das Gehirn gereinigt.«
»Wie meinst du das?«
»Meine Gedanken sind jetzt klar, so wie deine Erinnerungen. Außerdem weiß ich, wie wir an das Göttliche Tuch gelangen und was als Nächstes geschieht. Aber eins nach dem anderen.«
Ich sprang auf und holte das Nest aus der Ecke des Baumhauses herunter. Die beiden Vögel hüpften entrüstet auf und ab und krächzten verärgert, flogen auf mich zu und schlugen mir mit den Flügeln ins Gesicht.
»Es tut mir leid, aber das hier ist eure Schuld. Immerhin habt ihr mir den Verstand geklärt. Und die Sachen gehören uns. Wir brauchen sie.« Ich nahm die Kamera, mein Armband und das Amulett aus dem Nest. Kishan half mir, das Armband und die Kette mit dem Amulett anzulegen, und steckte die Kamera in den Rucksack. Die Vögel beobachteten mich beleidigt.
»Vielleicht können wir euch als Ersatz etwas anderes geben«, schlug ich vor.
Kishan fischte einen Angelhaken, einen Leuchtstab und einen Kompass heraus und legte alles ins Nest. Nachdem ich es zurück in die Ecke getragen hatte, flogen die Vögel herbei, um ihre neuen Schätze zu begutachten.
»Vielen Dank euch beiden! Komm, Kishan. Mir nach.«