Anna traute ihren Augen nicht, als sie das Monster im Todesschlund verschwinden sah. Hatte sie es wirklich geschafft?
Sie hielt sich an der Wurzel fest und beugte sich über das Loch.
Nichts zu sehen außer den Zweigen, mit denen sie und Margrét das Loch abgedeckt hatten. Sie ruckelte an einigen Ästen, bis sie hinunterrutschten und den Schnee mitrissen, den die Freundinnen daraufgeladen hatten.
Dann beugte sie sich noch einmal über den Abgrund und versuchte, etwas zu erkennen. Der ganze Schlund schien zu leben.
Es sah aus, als ob sich die erdigen Wände des Lochs bewegten!
Anna wünschte sich, die Laternen würden brennen oder sie hätte eine Taschenlampe dabei, doch als sie Hals über Kopf das Haus verlassen hatte, um das Monster zu verfolgen, war keine Zeit gewesen, an so etwas zu denken. Ihr blieb nichts anderes übrig, als nach Hause zu laufen und eine Taschenlampe zu holen, doch sie wollte den Schauplatz noch nicht sofort verlassen. Da fiel ihr die Handytaschenlampe ein, doch noch bevor sie das Licht einschalten konnte, gab der Akku den Geist auf.
Sie sah sich um. Ein paar Schritte entfernt entdeckte sie etwas Rotes, Glänzendes im Schnee.
Eine Taschenlampe!
Die Taschenlampe von Margréts Vater, die sie eingesteckt hatten, als sie zum Bauen der Falle losgezogen waren. Unglaublich, dass sie noch nicht im Schnee versunken war.
Anna fackelte nicht lange, sondern wagte sich die paar Schritte vom Loch weg und hob die Lampe auf. Ganz vorsichtig kroch sie an den Abgrund heran und leuchtete in die Tiefe.
Zuerst sah sie nichts außer den Erdwänden, doch dann erkannte sie weiter unten Wurzeln,
Greifarme
die nicht wie normale Wurzeln aussahen, sondern ebenfalls in Bewegung waren.
Darunter lag ein großer Klumpen – das Monster!
Zumindest ging sie davon aus, dass es das Monster war. Durch das Gewusel der Wurzeln, die sich fest um den Klumpen schlangen, war kaum etwas zu erkennen. Als der Lichtstrahl auf ihn traf, zuckte der Haufen zusammen. Anna bewegte den Strahl sofort zur Seite, doch nur so weit, dass sie noch erkennen konnte, was dort unten geschah.
Am unheimlichsten war, dass alles absolut lautlos passierte.
Anna beobachtete den stillen Kampf eine ganze Weile, bis sich schließlich nichts mehr regte.
Außer vereinzelten Wurzeln,
Fühler
die sich träge in die Luft reckten, wie ein Mensch, der sich nach einem guten Essen rekelt. Vom Monster war nichts mehr zu sehen.
Anna richtete sich auf.
Sie hatte es geschafft!
Sie hatte gewonnen!
Im ersten Moment war sie einfach nur erleichtert und musste beinahe lachen. Doch dann fielen ihr der kleine Bruder und Margrét ein und sie schluchzte. Sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie nun wenigstens hatte verhindern können, dass noch mehr zu Schaden kamen.
Sie stand auf und klopfte den Schnee von ihren Kleidern. Sie war völlig durchgefroren und ihre Hose klitschnass.
Ihr Blick fiel auf den Todesschlund. Wenn sie ihn bloß für immer und ewig verschließen könnte. Es war ein unangenehmes Gefühl, das Loch voller seltsamer, lebendiger Wurzeln zu wissen, die ein so mächtiges Wesen wie das Monster einfach so vernichten konnten. Doch darüber wollte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Sie wollte einfach nur schnell nach Hause, ihre Eltern anrufen und nach Egill fragen. Vielleicht ging es ihm schon besser, jetzt, da das Monster besiegt war.
Sie machte sich auf den Weg.
Und merkte nicht, dass im Todesschlund plötzlich die Hölle los war. Als hätte das Monster irgendetwas geweckt, das dort in tiefem Schlaf gelegen hatte. Die Wurzeln
Fühler
streckten sich in alle Richtungen, als suchten sie etwas.
Eine von ihnen tastete sich bis ganz nach oben. Sie spähte oder schnüffelte in alle Richtungen und erstarrte, als sie Anna witterte.
Die Wurzel zog sich ins Loch zurück, um dann mit aller Kraft in Annas Richtung zu schnellen. Sie bekam einen Knöchel zu packen, umschlang ihn und begann, daran zu ziehen.
Anna schrie auf vor Schmerzen und Angst. Sie prallte mit voller Wucht auf den Boden, dann war alles schwarz.
Als sie Sekunden später wieder zu sich kam, wurde sie durch den nassen, kalten Schnee geschleift. Verzweifelt versuchte sie, sich irgendwo festzuhalten. Dann endlich bekam sie etwas zu packen, vermutlich einen Zaun.
Die Wurzel zog und zerrte mit einer so unglaublichen Kraft an Anna, dass es sich anfühlte, als würde sie ihr das Bein ausreißen. Anna wollte mit der Taschenlampe nach der Wurzel schlagen, doch es war unmöglich, sich mit nur einer Hand festzuhalten.
Plötzlich fühlte es sich an, als würde jemand die Arme um ihre Taille legen und ihr helfen, sich von der Wurzel loszureißen. Es war, als würde ihr eine innere, aber doch fremde Stimme zuflüstern: »Du bist stark, Anna! Du schaffst das! Sieh doch, was du schon erreicht hast! Na also, gleich haben wir es geschafft!«
Trotzdem war sie drauf und dran, den Halt zu verlieren.
Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen und schlug mit der Taschenlampe nach der Wurzel. Dabei schaltete sich die Lampe ein, der Lichtkegel fiel direkt auf die Wurzel. Die Wurzel zuckte zusammen, wand sich und ließ schließlich los.
Anna war frei.
Sie sprang auf die Beine und wollte wegrennen, doch ihr Fuß knickte weg.
Die Wurzel verschwand zuckend im Todesschlund.
Anna guckte an ihrem Bein hinunter. An der Stelle, wo die Wurzel sie umschlungen hatte, waren Hose und Strumpf verbrannt. Sie blickte auf eine tiefe, offene Wunde. Als hätte sich die Wurzel durch ihre Kleider bis ins Fleisch gebrannt.
Anna biss die Zähne aufeinander und humpelte, so schnell es ging, fort von diesem Ort.
Am Tor zum Sportplatz warf sie einen letzten Blick zurück. Außer den dunklen Ruinen war nichts zu sehen. Nichts, das erahnen ließ, was sich hier in den letzten Tagen und Stunden zugetragen hatte.
Anna kehrte den Ruinen den Rücken und schleppte sich nach Hause.
*
Lies weiter in Dämmerhöhe – Eiskalt
März 2016